Heinrich Waegner

Der Aufbruch

jnz
Jemand musste mich zu so etwas wie einem Reiseleiter bestimmt haben, denn ich sah mich in einem Tageslichtballon inmitten eines ringsum wolkig verschwimmenden Raumes stehen. Der, den ich da in mir erkannte, blickte freundlich, aber auch ein wenig verwirrt auf zwei Jungen, die 13-jährig wie damals nach einer Schülertheateraufführung vor ihm standen. Wir wussten natürlich beide, er und ich, dass diese Knaben inzwischen längst in Amt und Würden waren, der nette Aike als Zahnarzt und der alle Unfälle auf sich ziehende Jan als Pfarrer, der wieder einmal so beharrlich mit seinem Zeigefinger auf mich, der ich dort stand, einstach, bis man, also er, ich meine mein Ich nachgaben und ihm ermöglichte zu sagen, dass er auch mit wolle. Aber wohin wollte Jan nur? Und wieso „mit“? Wollte ich oder mein Alter Ego denn irgendwohin? Bevor das zu klären war, gab der Dämmer um die kleine Gruppe eine weitere Person frei und pflanzte ihn als seinen, meinen, unseren(?) – es war schon etwas verwirrend – jüngeren Kollegen Carsten Bruch, etwa 30 Jahre, quirliger Schlagzeuger der Schulbigband, dynamisch rothaarig und rhythmisch ständig in Bewegung vor mir als der Summe von Über-Ich und Es auf. Gottvoll auch hier wieder seine übliche Unbekümmertheit: „Ja, Portugal ist geil; bin dabei! Cool.“ Dann brütete der Dämmer noch einen jungen, vielleicht 19-jährigen Mann aus, von dem klar war, dass auch er inzwischen das Rentenalter erreicht haben musste. Freudig überrascht nach 40 Jahren seinen Jugendfreund unverändert wieder zu sehen, konnten meine gesammelten Ichs sprachlos wie bisher nur Kenntnis nehmen von den absolut realen Erscheinungen, die sich allesamt als sofort losredend anmeldeten, obwohl sie eigentlich alle nur aus Kopfkörpern bestanden. Ohne den Unterkiefer mehr als unbedingt nötig zu öffnen – sofort kam wieder das Bild eines fressenden Kamels hoch, das seinen Unterkiefer mehr seitlich malend als einfach nur auf und zu bewegt – nuschelte Robert sein typisch unterdrückt-begeistertes: „Na, dann los!“ Die zentrale Erzählfigur versuchte sich jetzt ins Wir des Pluralis Majestatis zu retten, um der Reise heischenden Übermacht etwas Gleichwertiges entgegenzustellen: „Na dann wollen mal sehen…“ Aber überzeugend war das nicht, denn weder mein im Raume stehendes Es wusste etwas von einer Reise, noch mein beobachtendes Über-Ich. So wusste Ich schon gleich überhaupt nichts. Aber niemand brach in Panik aus, keiner stellte Fragen. Wenigstens das oder wenigstens das nicht. Deshalb fragte ich wohl – in der Rolle des verantwortungsvollen Über-Ichs – besorgt, ob denn die Eltern schon informiert und um Erlaubnis gefragt worden seien, denn immerhin wären die Jungs erst 13 Jahre alt. Aber offenbar war das alles schon geregelt, allerdings nur bis zu einem Papierladen mit Kaffeetheke, wo bedenkliche ältere Herren Unterschriften von den Eltern sehen wollten. Da zogen die Knaben wortlos Vordruckserien wie verkleinerte Scheckhefte heraus, und hinterlegten von ihnen selbst unterschriebene Erlaubniserteilungen, die aus Unkenntnis oder Lustlosigkeit sofort akzeptiert wurden. Auch hier wurde die Frage nach dem Reiseziel gestellt und genauso jungenhaft unbekümmert mit sympathischem Schulterzucken beantwortet. So sahen Wir(!) uns wieder einmal genötigt einzuschreiten und, einer spontanen Eingebung folgend, warf mein Ich, der Einfachheit halber Carstens Vorschlag annehmend, ein: „Selbstverständlich Portugal. Wohin denn sonst?“ Die Herren nickten, zwar, aber zogen sich beratend zurück, womöglich weil ihnen die Elternfrage doch noch nicht zufrieden stellend gelöst erschien. So blieb die Verantwortung weiterhin bei mir zwischen Ich und Es, denn Carsten und Robert waren inzwischen ebenfalls und zwar zusammen mit den Ladenbesitzern in die Schall schluckenden Schattenschwaden abgetaucht, aus denen keine Hilfe mehr zu erwarten war. Als sich mein Traum-Ich für alles Weitere an die beiden gutgelaunten Jungen wenden wollte, hatten auch sie, zerfließend wie zwei feine Wolken, mit dem Licht ihren Körper verloren. So leicht und reizvoll die Portugalidee geklungen hatte, so schnell war der Reisetraum hier bereits als Traumreise zu Ende. Mein Es beschritt den Weg des geringsten Widerstandes und knipste also das Licht aus, oder war es mein Ich? Jedenfalls erwachte ich und wusste mit dem Traum nichts weiter anzufangen, als ihn digital zu sichern, bevor er in Vergessenheit geraten konnte.
 

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