Kathrin Mullis
Das Blumenfräulein
Im Jahr 1987 nahm die Schweiz das Gleichberechtigungsgesetz an, das unter anderem den Titel Fräulein für eine unverheiratete Frau abschaffte. Ein paar alten Fräuleins war dies aber ziemlich egal und sie weigerten sich einfach, zu einer Frau zu werden. Das Fräulein, von dem ich euch erzählen will, war eine davon. Fräulein Pierrette Blanc gehörte genau so zum Dorfleben wie die Kirchenglocken, die jeweils um elf Uhr läuteten. Sie war auch fast so alt wie die Glocken. 10 Jahre jünger um genau zu sein.
Ich kann mich noch gut an sie erinnern. Alt war sie, fast ein bisschen wie ein verwitterter Baum. Sie war klein und ihre gebückte Haltung verstärkte den Eindruck noch. Ich sehe sie die Bahnhofstrasse hinaufgehen, Blumen in den Händen, und höre meine Grossmutter fast ein bisschen ehrfurchtsvoll sagen: „Guten Morgen Fräulein Blanc.“ Von ihr gesprochen wurde nie als Fräulein Blanc. Pierrette Blanc wurde sie genannt, wenn man über sie sprach. Weniger ehrfurchtsvoll war der Titel alte Jungfer. Zu dieser Bezeichnung gehörte ihr Name irgendwie dazu. Es reichte nicht, zu sagen, man wolle nicht als alte Jungfer enden. Nein, ihr Name kam noch dazu. Eine alte Jungfer wie Pierrette Blanc.
Ob sie es wusste? Ich glaube nicht.
Sie trug Blumen aus für das Blumengeschäft an der Bahnhofstrasse, um ein bisschen Geld zu verdienen. Sie würde sonst verarmen, erzählte sie. Ihr Haus hatte sie zu einem Spottpreis verkauft. Geizig war sie nicht, Pierrette Blanc. Aber man konnte ja nie wissen, ob man doch noch Geld brauchen würde.
Sie trug auch noch Blumen aus, als sie schon lange im Altersheim lebte. Die Blumen waren ihr Leben. Ihre Eltern waren Gärtner gewesen, arbeitsame Leute, die sich mit harter Arbeit ein kleines Vermögen erwirtschaftet hatten. Das Haus der Familie heiss Blumengarten, wen wundert es auch? Nach ihren Eltern lebten noch zwei Familien im Blumengarten. Für die zweite trug sie jetzt die Blumen aus.
Eines Tages flatterte eine Todesanzeige ins Haus. Pierrette Blanc, Bürgerin eines kleinen Dorfes in der französischen Schweiz, sei in ihrem 87. Altersjahr verstorben. Die Beerdigung finde am Silvester statt und statt Blumen gedenke man der Sonntagschule.
Die Sonntagschule kam zu einem ansehnlichen Betrag in die Kasse und ich vergass Pierrette einstweilen.
Das Blumengeschäft hatte seinen Besitzer gewechselt, was mir wesentlich mehr Sorgen machte als Pierrettes Tod. Ich mochte Frau Keller, die Inhaberin des Geschäftes, nämlich sehr. Sie war eine ältere Frau mit einem Haarknoten und grauen Stiefeln, die sie fast das ganze Jahr durch trug, weil es im Laden kalt war. Ich hatte jede Gelegenheit genutzt, dort Blumen zu kaufen und war mir sicher, beim neuen Inhaber den Laden nie zu betreten.
„Nimm für eine Frau immer sanfte Farben. Rosa, violette, pink oder weiß. Für einen Mann hingegen sind rot und gelb schön.“ hatte mir Frau Keller einmal erklärt.
Daran halte ich mich. Ich habe mich nie mehr von einem Floristen beraten lassen. Ich wähle meine Blumen genau so wie Frau Keller es mir erklärt hatte, als ich zehn Jahre alt war.
Ich sah sie kaum mehr, bis meine Grossmutter eines Tages anrief, sie hätte von ihr eine Einladung zum Kaffee bekommen, mit der Bedingung, dass sie mich mitbrachte.
An diesem Tag erfuhr ich die Umstände von Pierrette Blancs Tod.
Die letzten zwei Jahre ihres Lebens hatte Pierrette nicht mehr die Kraft gehabt, Blumen auszutragen. Frau Keller besuchte sie oft im Altersheim und als sie auf Ende Jahr einen Nachfolger für den Laden gefunden hatte, war Pierrette eine der Ersten, die es erfuhr.
„Dann sterbe ich noch dieses Jahr.“
„Aber wie kommen Sie drauf?“
„Ich hätte doch zu gerne einen Kranz von Ihnen.“
Frau Keller dachte rationell genug um zu wissen, dass man den Tod nicht beeinflussen konnte und vergass es schnell wieder.
Am Silvestermorgen übergab Frau Keller ihrem Nachfolger die Schlüssel des Geschäfts. Dann fuhr sie nach Hause um sich für ein Begräbnis umzuziehen. Pierrete Blanc, die Frau, die Zeit ihres Lebens ein Blumenfräulein ein Blumenfräulein geblieben war, war am 26. Dezember verstorben.
Vorheriger TitelNächster Titel
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Kathrin Mullis).
Der Beitrag wurde von Kathrin Mullis auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.01.2007.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).