Klaus-D. Heid

Die nackte Magdalena - Teil I.

Als Künstler habe ich ein etwas differenziertes Verhältnis zu meinen Modellen, die sich mir nackt präsentieren. Zu meinen Prinzipien gehörte es immer, dass ein Maler niemals mit dem Schwanz denken darf, wenn er mit dem Herzen malen will. Eine für das Modell deutlich spürbare Distanz fördert die Konzentration und das unbedingt erforderliche Stillhalten des Modells, damit ich das strikte Einhalten einer Position nicht ständig anmahnen muss. Sie dürfen mir glauben, dass ich im Laufe meiner Künstlertätigkeit so viele Frauen und Mädchen gesehen habe, dass mich beim Anblick eines nackten Körpers nichts mehr überraschen kann. Nacktheit ist für mich zwar etwas kurzfristig Schönes, das auf Leinwand gebannt, zu etwas ewig Schönem werden kann, aber jede Form von sexueller Erregung hat damit nicht das geringste zu tun. Selbst eine Venus von Milo könnte sich vor mir räkeln und sich mit gespreizten Schenkeln präsentieren, ohne dass ich dabei etwas anderes als Lust aufs Malen verspüren würde. Ich habe Frauen mit großen, kleinen, hängenden und stehenden Brüsten gemalt. Ich habe ebenso dicke, dünne und steinalte Frauen gemalt, wie auch Mädchen, die sich gerade erst auf der ersten Stufe zur werden Frau befanden. In den vergangenen dreißig Jahren gab es wirklich kein Extrem, das nicht den Weg auf meine Leinwände gefunden hätte. Und doch bin ich bei all den Verführungen und Reizen stets meinem Prinzip des distanzierten Künstler/Modell-Verhältnisses treu geblieben.

Bis ich Magdalena kennen lernte...

Die meisten meiner Modelle bekomme ich über eine Anzeige, die ich in diversen Künstlerzeitschriften veröffentlicht habe. Diese Zeitschriften werden ebenso von Kunststudentinnen wie arbeitssuchenden Ex-Models gelesen. Zusätzlich inseriere ich auch noch in ein oder zwei Tageszeitungen, um jene Modelle zu finden, die so richtig ‚normal’ unkünstlerisch eingestellt sind. Manchmal ist es gerade der Typ Frau, der kein bisschen in Farben denkt, von dem eine unglaublich erotische Ausstrahlung und Faszination ausgeht.

Magdalena stand jedenfalls eines Tages vor meiner Tür, weil sie meine Anzeige in der Tageszeitung gelesen hatte. Mit Kunst hatte sie eigentlich nichts am Hut – und wenn man’s genau nahm, ging es ihr nur um die Gage von einhundert Euro, die ich jedem Modell anbot, dass ich für geeignet hielt.

Als ich die Tür öffnete und Magdalena vor mir stehen sah, gab es sofort vier Aspekte, die mir durch den Kopf schossen. Erstens: Dieses Mädchen war die Reinkarnation aller Natürlichkeiten dieser Welt! Zweitens: Dieses Mädchen konnte auch von einem Rafael oder Michelangelo nicht so gemalt werden, wie es ihrer Schönheit angemessen war. Drittens: Dieses Mädchen trotzdem zu malen, würde den eigentlichen Sinn meines Lebens ausmachen. Viertens: Gott musste doch eine Frau sein...

Nachdem ich Magdalena mein Dachstudio gezeigt und ihr die erste Angst vor meiner Person genommen hatte, fragte ich sie, ob sie schon einmal für einen Maler als Aktmodell posiert hatte. Sofort bekam Magdalena einen hochroten Kopf, schüttelte denselben energisch und meinte:

„Niemals! Und ich würde auch jetzt nicht bei Ihnen sein, wenn ich nicht so dringend auf das Geld angewiesen wäre. Sie müssen wissen, dass ich auch jetzt noch nicht sicher bin, ob ich mich für Sie ausziehen möchte...!“

Ich beruhigte Magdalena, indem ich ihr einige meiner Bilder zeigte, die ich in den vergangenen Jahren gemalt hatte. Gleichzeitig wies ich sie darauf hin, dass es mir sogar viel lieber wäre, wenn ich anfangs einige Skizzen von ihr fertigen könnte, die es nicht erforderlich machten, dass sie sich entkleidete. Vielleicht war es gerade dieser letzte Hinweis, der Magdalena überzeugte, ‚in guten Händen’ bei mir zu sein? Oder lag es an meinem Gesichtsausdruck, der ihr unverkennbar klarmachen musste, dass ich sterben würde, wenn sie mich wieder verließ, ohne von mir gemalt worden zu sein?

„Also gut. Einverstanden! Aber erst die Skizzen – und dann vielleicht mehr, ja?“

Wir einigten uns darauf, sofort mit der ersten Sitzung anzufangen.

Der erste Abschied

Als Magdalena an meiner Tür geklingelt hatte, war es etwa 13.00 Uhr. Mittlerweile war es fast sieben Stunden später – und ich verspürte nicht die geringste Erschöpfung in meinen Fingern. Noch immer ließ ich meine Kohlestifte wie wild übers Papier fliegen, um immer wieder neue Eindrücke von diesem Zauber an Ebenmäßigkeit einzufangen. Es waren bestimmt fünfzig Entwürfe, die ich bereits gefertigt hatte, ohne dabei daran zu denken, wie hart das Modellstehen auch für Magdalena war.

„Könnten wir nicht für heute Schluss machen? Wenn Sie möchten, kann ich ja morgen um die gleiche Zeit, wieder bei Ihnen sein?“

Das wirklich unglaubliche an Magdalena war, dass ihre Faszination nicht alleine von ihrem Äußeren ausging. Auch die Stimme Magdalenas, dieser hocherotische Klang ihres Ausdrucks, obwohl sie sich dabei nicht ein winziges bisschen bewusst war, wie bezaubernd sie klang, versetzte mich in eine nie gekannte Ekstase. Tatsächlich rissen mich die Worte des Mädchens aus einem tranceähnlichen Zustand, in dem ich auch Jahre verbracht hätte, ohne an Essen und Trinken zu denken.

„Entschuldige, Magdalena. Natürlich machen wir jetzt Schluss, wenn Du möchtest. Ich war so sehr in meine Skizzen vertieft, dass ich vergessen habe, wie hungrig und durstig Du sein musst. Es tut mir wirklich sehr leid! Also dann Morgen? Wieder gegen Mittag?“

Wie sollte ich die kommende Nacht überstehen? Wie sollte ich all die Eindrücke verarbeiten, die mich mit einem angenehmen Schmerz quälten, seit ich Magdalena zum ersten Mal sah? Wie konnte ich bis zum nächsten Tag atmen und mein Herz schlagen lassen, wenn ich doch unentwegt nur an Magdalena dachte?

„Ich bin froh, dass Sie so sind, wie Sie sind! Wir sehen uns dann Morgen, ja?“

Und schon war ich mit all meinen Qualen alleine. Mir blieben nur die lächerlich wenigen Skizzen von ihr, bis ich sie wiedersehen durfte. Skizzen, die ich rings um mich herum ausbreitete, weil ich mir so vorstellen konnte, Magdalena doch noch bei mir zu haben. Ich betrachtete die Zeichnungen, während ich versuchte, an meiner Hand den Geruch Magdalenas zu finden. Ob sie bemerkt hat, wie sehr mich ihr Händedruck in Verlegenheit brachte? Konnte es denn tatsächlich sein, dass ich – ein durch und durch professioneller Künstler mit jahrzehntelanger Erfahrung – derart die Contenance verlor?

Meine Hände zitterten wie Espenlaub. Meine Knie waren bereits so weich, dass ich mich unbedingt setzen musste, um nicht umzufallen. Meine Gedanken kreisten, taumelten und schwirrten durch den Kopf, als seien es Millionen kleiner Magdalenafliegen. Meine Lippen fühlten sich trocken und rissig an.

Es war noch so unendlich lange hin, bis ich sie wiedersehen durfte...

Das erste Wiedersehen

Ich hatte mir gar nicht erst die Mühe gemacht, ins Bett zu gehen. Mir war klar, dass ich unmöglich einschlafen konnte, wenn ich ständig einen Engel durch meine geschlossenen Augenlider hindurch, beobachtete. So habe ich stattdessen die ganze Nacht damit verbracht, Magdalena so zu malen, wie ich sie in Erinnerung hatte. Wie ein Besessener habe ich den Pinsel in Farben getaucht, habe ihm freien Lauf auf der Leinwand gelassen, um einfach das Projekt meiner Phantasie zu verwirklichen.

Irgendwann muss ich dann doch auf meinem alten Lehnstuhl eingenickt sein, als mich das Klingeln an der Haustür in die Realität zurückholte.

Magdalena! Himmel! Es war bereits 13.00 Uhr – und ich musste aussehen, wie ein irre gewordener Wilder aus irgendeinem Freak-Comic. Keine Zeit mehr, mich zu waschen. Keine Zeit mehr, mich umzuziehen. Keine Zeit mehr, mich mental darauf vorzubereiten, dass ich in wenigen Augenblicken die Vollkommenheit wiedersehen durfte!

„Bin ich zu spät...?“

„Zu spät? Aber nein, Magdalena. Kommen Sie nur rein und machen Sie es sich gemütlich. Ich brauche nur ein paar Minuten und dann können wir da fortfahren, wo wir gestern aufgehört haben!“

„Aber möchten Sie mich denn heute nicht nackt malen?“

„Nackt? Ob ich Dich nackt malen möchte? Natürlich möchte ich Sie...“

„Darf ich mich schon ausziehen, bis Sie zurück sind?“

Ich weiß nicht mehr, was ich als Antwort gebrabbelt habe. Ich weiß nur noch, dass ich das ‚Du’ mit dem ‚Sie’ genauso verwechselte, wie die Schranktür, durch die ich gehen wollte, um ins Bad zu gelangen.

Ende I. Teil

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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