Joachim Güntzel

Ego te absolvo

Das Gesicht in der Ecke war fahl. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und schienen von einem fiebrigen Glanz erfüllt, während sie unruhig hin und her wanderten und den Eindruck erweckten, die rauchgeschwängerte Luft mit schierer Willenskraft beiseite schieben zu wollen. Das „Red Rooster“ in Edinburghs Altstadt war um diese Zeit für gewöhnlich gut besucht. Anwälte und Banker, die auf ihrem Weg aus der City nach Hause auf ein paar Drinks herein schauten; Anwohner der umliegenden Straßen, die sich zu ihren regelmäßigen Kartenrunden oder einem Spielchen Pool oder Darts trafen.

Der Mann in der Ecke bestellte noch einen Whiskey. Es war sein vierter und Stan der Wirt nahm das zum Anlass, sich zu erkundigen, ob sein Gast irgendwelche Probleme habe, was jedoch kurz und unmissverständlich verneint wurde. Dieser Kauz gehörte nicht hier her. Niemand schien ihn zu kennen und umgekehrt machte er keine Anstalten, mit irgendjemandem in Kontakt zu kommen. Seinem Dialekt nach zu urteilen schien er aus der Gegend um Aberdeen zu stammen, aber sicher konnte Stan das nicht beurteilen bei den wenigen Worten, die er bisher mit ihm gewechselt hatte.

„Abscheuliches Wetter heute, nicht?“ Stans definitiv letzter Versuch, ein Gespräch mit dem Kauz zu beginnen. „Nicht gerade eine nette Art, sich einem Besucher zu präsentieren. Sind Sie zum ersten Mal in unserer schönen Stadt, Sir?“ „Ja.“ Der Kauz leerte seinen Whiskey, stellte das Glas lautstark auf den Tisch und starrte den Wirt aus glubschigen, an einen verendeten Karpfen erinnernden Augen an.

„Können Sie mir sagen, wann am Wochenende Gottesdienst ist?“ Stan zuckte unwillkürlich etwas zusammen; das wäre das letzte gewesen, womit er gerechnet hätte. Dieser Kauz, der sich am helllichten Tag vier Whiskeys hinter die Binde kippte, sich dabei aber zu gut vorkam, um sich auf ein Gespräch mit dem Wirt einzulassen, wollte einen Gottesdienst besuchen. Na ja, es gab wohl wirklich nichts, was es nicht gab, und in Edinburgh sowieso.
„Kann ich Ihnen leider nicht sagen, Sir, ich bin nicht sonderlich religiös. Wissen Sie, für mich sind das alles Pharisäer, haben es nur auf den Klingelbeutel abgesehen, Sie verstehen, und deswegen meinen die, sie könnten Gott verkaufen. Aber nicht an mich, glauben Sie mir, ich wüsste gar nicht, wo ich soviel Heiligkeit unterbringen sollte, wo doch alles hier mit Dark Ale und Whiskey ausgefüllt ist…“ Stan lachte zweimal.
Nichts, keine Reaktion. Die Fischaugen starrten immer noch unbeweglich. Hatte der Typ überhaupt geblinzelt? Stan räusperte sich.
„Na ja, wie gesagt, ich weiß es nicht. Aber gehen Sie doch mal rüber zu St. Giles, könnte sein, dass die Zeiten dort aushängen.“ Das Fischauge blinzelte, immerhin, dachte Stan.

Ein paar Minuten später war der eigenartige Kauz verschwunden. Stan hatte ihn im allgemeinen Gedränge nicht gehen sehen, doch das Geld für die Whiskeys lag auf dem Tisch. Genau abgezählt natürlich.

Zwei Tage danach, genau fünf Wochen vor den grauenhaften Ereignissen, fiel der Kauz einer Frau in einer Kirche auf. Norma O´Doherty war eine regelmäßige Kirchgängerin, das war auch der Grund, warum sie das fremde Gesicht sofort registrierte. Dabei schien der Kerl nicht einmal mit der Liturgie vertraut zu sein, denn er bekreuzigte sich andauernd, auch an unpassenden Stellen, wie er überhaupt seltsam geistesabwesend zu sein schien.

Pfarrer Finch war an diesem Sonntag erkrankt und konnte den Gottesdienst nicht selbst abhalten. Sein junger Vertreter aus der Nachbargemeinde machte seine Sache unter den gegebenen Umständen recht ordentlich, na ja, man konnte schließlich nicht erwarten, dass er einundzwanzig Jahre Erfahrung im Umgang mit den hiesigen, als starrköpfig und eigensinnig geltenden Gemeindemitgliedern im Handumdrehen wettmachen konnte. Norma hoffte inständig, dass Pfarrer Finch am folgenden Wochenende wieder selbst die Messe würde halten können und schickte ein stilles Genesungsgebet für ihn zum Himmel.

Offensichtlich fand ihr Bitten Gehör, denn am folgenden Sonntag stand Pfarrer Finch wieder auf der Kanzel. Zunächst hatte sie den Eindruck, er wäre vollauf gesundet, doch von Sonntag zu Sonntag glaubte Norma an ihm eine schleichende Veränderung festzustellen. Sie hatte Finch als offenen und umgänglichen Menschen kennen gelernt, doch nun musste sie mit ansehen, wie er immer düsterer, grüblerischer und verschlossener wurde. Es war, als senke sich ein bleischwerer Schatten über sein Gemüt und drohe seine Seele in einem dunklen und undurchdringlichen Sarkophag auf dem Grunde des Meeres einzuschließen.
Hätte sie geahnt, dass der Pfarrer in dieses abscheuliche, unvorstellbare Verbrechen verwickelt würde, sie hätte alles daran gesetzt, um es zu verhindern – ohne auch nur eine Vorstellung zu haben, wie sie dies hätte tun können.

Norma behielt den fremden Kirchgänger im Auge. War es schon seltsam genug, dass ein solch eigenartiger Kauz den Gottesdienst besuchte, so war es noch seltsamer, dass er nach der Predigt zur Beichte ging. Jeden Sonntag, seitdem Pfarrer Finch wieder auf der Kanzel erschienen war, wiederholte sich das Ritual. Der Fremde empfing zwar nicht die Kommunion, wartete nach Ende des Gottesdienstes jedoch ab, bis die Kirche so gut wie leer war. Dann ging er in den Beichtstuhl. Als Norma einmal besonders lange in stiller Andacht in der Kirche verharrte, sah sie, wie der Kauz mit höhnischem Triumph in den Augen den Beichtstuhl verließ und wenig später Pfarrer Finch ebenfalls heraus kam. Sein in sich selbst, in eine nicht vorhandene Mitte zusammen gefallenes Gesicht und seinen leeren und verzweifelten Blick würde sie fortan nie mehr vergessen können. Als er schleppenden Schrittes und mit gesenktem Haupt die Kirche verließ, blind für die Welt um ihn herum und für Norma, die sich doch zu seinen treuesten Anhängerinnen zählen durfte – fürwahr kein zu vernachlässigendes Faktum in diesem Meer von wild schäumendem Unglauben um sie herum – ; als er also diesen erschütternden und zutiefst beklagenswerten Anblick bot, da wäre sie am liebsten dem Kauz gefolgt, hätte ihn am Kragen seines abgetragenen Trenchcoats gepackt und ihn zur Rede gestellt. Möge der Himmel ihr verzeihen, dass sie es nicht tat, womöglich hatte sich hier die letzte Gelegenheit geboten, das Folgende noch abzuwenden, den grausamen Schicksalsfaden, an dessen Ende Pfarrer Finch stand, noch zu durchschneiden. Norma schnitt nicht, wer weiß, ob ihr der Schnitt überhaupt gelungen wäre, ob nicht das raffinierte Garn dieses Fadens einen anderen Weg gefunden hätte, sein grausames Ziel zu erreichen. Doch wenigstens hätte die Gewissheit, es versucht zu haben, ihr Trost gespendet. So aber musste sie nun ohne diesen Trost weiter leben. Doch sie, die sie nicht sagen konnte, ob sie nun versagt hatte oder ob sie selbst Teil einer höheren Vorhersehung gewesen war, sie durfte wenigstens weiter leben.

Für Pfarrer Finch gas es nun keine Rettung mehr, doch gestaltet sich die weitere Rekonstruktion dessen was sich zutrug schwierig. Konnte sich das bisher gesagte auf spätere beeidete Zeugenaussagen von Stan dem Wirt und Norma der Kirchgängerin berufen, beruht die Wiedergabe der folgenden Ereignisse auf schriftlichen Einlassungen des Pfarrers selbst. Einlassungen, die dieser offensichtlich in einem Zustand höchster emotionaler Angespanntheit zu Papier gebracht hat, und über deren Qualität und Stichhaltigkeit deshalb nur sehr vorsichtig und zurückhaltend geurteilt werden sollte. Die existenzielle Verzweiflung, in der sich Finch während der letzten Wochen befunden haben muss, wird vor allem durch drei Eintragungen in seinem Tagebuch verdeutlicht, die deshalb unkommentiert wieder gegeben werden sollen.

Sonntag, 23. März

„Die Vorsehung findet dich, egal wo du dich verstecken magst. Ich habe es immer gewusst und mich davor gefürchtet. Kein Exorzismus vermag den Dämon, der für dich bestimmt ist, zu vertreiben; kein Ritual der Selbstgeißelung verhindert, dass du dem Dämon, dem du verschrieben bist, die Tür öffnest. Heute hat ein Mann gebeichtet. Er ist kein Mitglied meiner Gemeinde, doch ich spüre, dass er mir auch kein Fremder ist. Er bringt verborgenes, vergangen geglaubtes in mir zu Tage, und ich weiß nicht, wie ich dem entgegentreten soll. Dieser Mann bittet mich, ihn anzuhören und ihm nach seiner dritten Beichte die Absolution zu erteilen. Dies setze, so erklärte ich ihm, ehrliche Reue voraus; er seinerseits sagte, er würde wahrhaft bereuen, was er mir in der dritten Beichte zu sagen habe. Ich bin nun, ob mir das genehm ist oder nicht, für sein Seelenheil verantwortlich und spüre doch zugleich eine große Furcht vor dem was kommen wird.

In der Nacht habe ich geträumt. Ich fand mich inmitten einer blühenden, von saftig gelbem Löwenzahn gesäumten Wiese. Die Gräser blühten, Vogelgesang erfüllte die Luft und die Strahlen der Sonne hüllten die ganze Szenerie in ein gleißendes Licht. Ich fühlte tiefen inneren Frieden und doch zugleich eine innere Beklemmung wie vor einem drohenden, undefinierbaren Unheil. Während ich so stand und nach innen lauschte, zogen am Himmel dunkle Gewitterwolken auf und es wurde kühler und windig. Ich wollte gehen, um nicht in den Gewitterregen zu geraten, doch etwas hielt mich zurück. Unter einem seltsamen Zwang stehend, führte ich meinen rechten Zeigefinger zum Mund, benetzte ihn mit Speichel und berührte damit einen prächtig blühenden Löwenzahn. Daraufhin verwelkte die ganze herrliche Wiese mit einem Schlag, die Wolken öffneten sich und die Urflut stürzte vom Himmel. Der Schreck über dieses beklemmende Schauspiel ließ mich erwachen und ich verbrachte den Rest der Nacht in Andacht und Gebet.“

Sonntag, 30. März

„Nicht der Fremde ist es, der die Beichte ablegen müsste, sondern ich. Was einst nur als vage Ahnung mein Gewissen streifte, wird nun zur fürchterlichen Gewissheit. Dieser Mann hat die Frau, die er liebte, verloren, verloren durch meine Schuld. Als junger Mann, noch vor meiner Berufung zur geistlichen Laufbahn, führte mein Weg mich mit dieser Frau zusammen. Für kurze Zeit zwar nur, doch lange genug, um ihr Herz an unserer späteren Trennung zerbrechen zu lassen. Ihre schwere Depression, ihr folgender geistiger Verfall und schließlich ihr früher Tod war ihre Antwort auf meine Entscheidung gegen ein Leben mit ihr und für ein Leben in der Gemeinschaft Gottes. Und so ist es nun die grausame Ironie des Schicksals, die mich viele Jahre später mit diesem Fremden im Beichtstuhl zusammen führt. Sie liebte mich zu sehr, er liebte sie zu sehr, und ich liebte die Kirche zu sehr; wir alle liebten zu sehr, und wir alle können diese Liebe und was aus ihr folgte, nicht zurück nehmen, sie nicht wieder einsammeln und einschließen in unser Herz. Und so ist, obwohl wir doch alle in der Gegenwart leben und gut daran tun, die Vergangenheit ruhen zu lassen, doch richtig, was der Fremde zu mir sagte: Das heute ist nur das gestern von morgen.“

Sonntag, 6. April

„Niemand hat mich hierauf vorbereitet, niemand hätte es vermocht. Die dritte Beichte ist erfolgt und der wütende Sturm im Herzen dieses Mannes hat sich mir vollständig offenbart. Er bereut, was er tun wird, und muss es doch tun. Das schlimmste aller Verbrechen zu begehen scheint ihm die einzige verbliebene Möglichkeit, Sühne für den Tod der Geliebten zu fordern und seiner Seele Frieden zu geben. Ich weiß nun, dass ich es bin, der bestimmt ist, dieses Sühneopfer zu erbringen. Er, dessen Leben ich ohne es zu wissen zerstört habe, will Absolution für einen Mord, den er begehen wird und dessen Opfer, dessen bin ich mir gewiss, ich selbst sein werde. Und wenn ich auch zögere, so ist es mir doch unausweichlich bewusst, dass ich ihn frei sprechen muss von dieser Sünde, die er begehen wird, denn nur so kann ich hoffen, selbst frei gesprochen zu werden. Wenn dies der einzige Weg ist, der letzte, so flehe ich um die Kraft, ihn zu gehen. Ego te absolvo, ich spreche dich frei von deinen Sünden.“

Was in jenen Tagen wirklich geschah, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben. Man wird sich noch viele Jahrzehnte später abends in den Kneipen der Stadt eine weitere düstere Begebenheit aus der an solchen Geschichten reichen hiesigen Vergangenheit erzählen.

Der Messdiener fand die Leiche in der Sakristei und alarmierte die Polizei. Der leitende Ermittlungsbeamte, Chefinspektor Tramell, gab in seinem Untersuchungsbericht den Tathergang wie folgt wieder: Nach dem letzten Sonntagsgottesdienst musste der Mann, der verschiedenen Zeugen aufgefallen war, Pfarrer Finch in die Sakristei gefolgt sein. Dort kam es zu einem Kampf auf Leben und Tod, in dessen Verlauf der Pfarrer sich verzweifelt gewehrt hat. Das eigentliche Tatwerkzeug ließ sich nicht ermitteln, jedoch fehlte nach Aussagen des Messdieners ein schwerer silberner Kerzenleuchter. Die Identifizierung der Leiche ergab, dass es sich um den Fremden handelte, der laut der bei ihm vorgefundenen Papiere den Namen Brandon Tylor trug und eine Wohnadresse in Aberdeen hatte. Spätere Ermittlungen ergaben, dass Tylor schon seit Jahren arbeitslos und dem Alkohol verfallen war, wofür er nach Aussagen von Nachbarn „diesem Pfaffen in Edinburgh“ die Schuld gab.

Pfarrer Finch blieb seitdem verschwunden. Eine später ausgeschriebene und halbherzig betriebene Fahndung – man konnte sich nicht einigen, ob man ihn nun wegen Mordes, Tötung in Notwehr oder lediglich als Zeugen suchte – verlief im Sande. Seine Gemeindemitglieder beten allwöchentlich für sein Seelenheil, und manchmal wollen spielende Kinder in der Nähe einer kleinen verfallenen Kapelle in den Highlands einen Mann gesehen haben, der einen Kerzenleuchter in der Hand trägt und dessen zerschlissene Kleidung sie an einen Pfarrer erinnert.

© Joachim Güntzel 2007

AKTUELL: Die Geschichte wurde in meinem soeben erschienenen Buch "Der Gefühlstütenwanderer. Dreizehn Geschichten am Limit" abgedruckt (bookmundo 2018, Hardcover), ISBN 9789463673181.
 

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