Karl-Heinz erwischte es eiskalt:
er, für einen Neuanfang zu alt und für die Rente zu jung, wusste erst mal mit
sich und der Situation gar nichts anzufangen. Er war enttäuscht, verbittert,
dass ihn die Unternehmensleitung so lange im Unklaren gelassen hatte und man
sich auf den Aufprall überhaupt nicht hatte vorbereiten können. War er denn
nicht verbunden und verwachsen gewesen mit dem Betrieb? Hätte man nicht
rechtzeitig erkennen können, wo Not am Mann ist, was getan werden müsste? Hätte
man nicht so was wie einen Krisenrat ins Leben rufen müssen? Diese Fragen
stellte er nicht nur sich, er stellte sie auch der Betriebsleitung und bekam
ein lapidares: das hätte das Ruder auch nicht rum reißen können zu hören. Und:
na, dann haben sie jetzt viel Zeit sich um ihre „Büttenreden“ zu kümmern.
Und genau das wollte Karl-Heinz.
Sein Betrieb, der ihn so fallen ließ, der ihm die Tür zumachte und vor
vollendete Tatsachen stellte, dem wollte er’s in der nächsten Bütt gehörig
heimzahlen. Er fühlte sich hintergangen, abgeschoben. Der ganzen Welt wollte
er’s mitteilen: dass nicht die Konjunktur Schuld war, sondern ein völliges
Missmanagment, dass seinen Betrieb kaputt gemacht hatte. Dass man Leute wie ihn,
die den Betrieb doch wie ihre eigene Westentasche kannten und ihn mit aufgebaut
hatten, gar nicht zu Rate gezogen hatte um gemeinsam aus der Krise zu kommen.
Dass die Oberen ja immer ihre Spielchen abkarteten und im Zweifelsfall auch
noch Profit daraus schöpften. All das wollte er an der Fastnacht ins Stadtvolk
posaunen, wie die Posaunen von Jericho sollte seine Wut erschallen.
Zur Generalprobe für den
Fastnachtsabend hatte sich im darauf folgenden Jahr eine Woche vor der
Fastnacht das Komitee - wie jedes Jahr - in der Stadthalle eingefunden. Man
wollte die letzten Details besprechen und das Abendprogramm im Schnelldurchlauf
abhandeln. Karl-Heinz war dieses Jahr - wie jedes Jahr - gewappnet mit einer
süffigen Büttenrede und in diesem Jahr lag ihm seine Botschaft besonders am
Herzen. Er stieg in die Bütt, holte tief Luft und legte los: erst etwas
Erschwingliches zum Einstieg, dann ein bisschen Kommunalpolitik und
schließlich: sein Betrieb. Denn es war ja sein Betrieb gewesen, den man
jämmerlich hatte verrecken lassen. Für den angeblich nichts mehr getan werden
konnte. Von dem man ihn, der bald dreißig Jahre dort gearbeitet hätte, wie
einen räudigen Hund gejagt hatte…Karl-Heinz redete sich in Rage und als er
fertig war und sich - wie jedes Jahr - danach zum Fastnachtskomitee in den Saal
setzte um sich für die gelungene Rede beglückwunschen und auf die Schulter
klopfen zu lassen, musste er feststellen, dass seine Büttenrede in diesem Jahr
nicht den erwarteten Effekt auf das Fastnachtskomitee hatte.
Beklommene
Stimmung, betretene Gesichter, manche wichen ihm mit dem Blick aus und
schließlich brach Erwin von der Soldatenkameradschaft e.V. das Schweigen:
Karl-Heinz, die Rede kannst net
halten.
Ja, warum denn net? Der Narr hält
der Gesellschaft den Spiegel vor.
Ja, aber da lacht doch kein
Mensch.
Meinst Du, es ist zum lachen, was
mit meinem Betrieb und mit mir passiert ist?
Karl-Heinz, wir verstehen dich
schon, das ist ein hartes Schicksal. Aber die Leute wollen sich an der
Fastnacht amüsieren, fröhlich sein, den Alltag hinter sich lassen. Bei deiner
Rede schauen danach alle drein wie sauer Bier. Schreib sie bitte noch amoll um
oder lass den Teil mit dem Betrieb raus. Aber so können wir dich net auf die
Bühne stellen.
Nein, einen Scheissdreck tu ich, ich schreib die Rede net um. Ein Jahr lang
habe ich darauf gewartet, endlich des sagen zu dürfen, was gesagt werden muss,
da werde ich jetzt keinen Rückzieher machen.
Karl-Heinz, des kannst einfach
net bringen, des geht net,
schaltete sich jetzt Christl vom
Obst- und Gartenbauverein ein:
die Leute werden sich recht
bedanken und nachher sagen ob hier die Gewerkschaft oder die Linken ihre Finger
im Spiel haben. Ich mein, Gesellschaftskritik ist ja schön und gut, aber des, was
du da erzählst, des will doch niemand hören.
Aber, Christl, des ist doch mein
Leben, mein Schicksal.
Trotzdem will des niemand hören,
des ist eine Fastnachstveranstaltung, gell, und keine sozialistische
Rumheulerei.
Aber Christl, darum geht`s doch
gar net, es geht um Arbeitsmarktpolitik und soziale Gerechtigkeit, mit
Sozialismus hat des doch nichts zu tun. Außerdem bin ich doch net der einzige
im Ort, der seinen Arbeitsplatz verloren hat.
Ich glaube, lieber Karl-Heinz,
du überforderst einfach des Publikum mit deiner Rede. Und glaubst Du, Deine
arbeitslosen Ex-Kollegen haben an der Fastnacht Lust und Muse sich zu
amüsieren?! DIE sind bestimmt net da.
Erwin von der
Soldatenkameradschaft e.V. wollte das unappetitliche Thema schnell vom Tisch
haben:
Karl-Heinz, sag mer amoll,
vielleicht ist es besser, Du hälst in dem Jahr mal keine Büttenrede, muss ja
auch net jedes Jahr sein. Die Christl würde mit ihrer Schwägerin ersatzweise
als „Daggy und Traudl“ in die Bütt steigen. Du bist aber natürlich herzlich
eingeladen, trotzdem zu kommen. So, und jetzt gehen wir bitte zum nächsten
Programmpunkt, ich hab net ewig Zeit.
Also fiel in diesem Jahr die
Büttenrede von Karl-Heinz aus, das erste Mal seit nun bald dreißig Jahren. Das,
was Karl-Heinz lange für unvorstellbar gehalten hatte, wurde wahr und war nicht
mehr aus der Welt zu schaffen.
Gelacht, gebrüllt und Schenkel
geklopft wurde in diesem Jahr an der Fastnacht aber doch, nämlich mit „Daggy
und Traudl“. Und - wie jedes Jahr - , war es genau das, was die Leute hören wollten.
Nicht mehr und nicht weniger.