Joachim Güntzel

Ein Prager Fotoalbum (Teil 1)

 

- 1 -

Prag ist weiblich: Praha. Und wie eine schöne, von zahllosen Männern bewunderte und begehrte Frau ist es in seine eigene Schönheit verliebt und glaubt, ihretwegen schon alles verdient zu haben. Es ist stolz auf seine aufreizende Figur, die es abends in festlicher Garderobe gerne den Blicken seiner berauscht dreinblickenden Bewunderer preisgibt. Diese Frau liebt Musik, Tanz und Theater und bewegt sich leicht und lasziv, lockend. Unschuldig lacht und kichert sie und betört die Sinne all derer, die sich nur zu gerne ihrem Zauber hingeben. Wen sie mit ihrem Haar sanft berührt, der verspürt ein leichtes Stechen im Herzen und ist ihr fortan verfallen. Von weit oben, von der Spitze des Doms auf dem Burgberg,  kann sie sich selbst betrachten und in ihr lächelndes Gesicht blicken, in den Spiegeln, die ihr von den Türmen und Dächern der Altstadt entgegen gehalten werden. Ja, sie ist schön, Frau Praha, und sie hütet ihre Schönheit eifersüchtig. Doch saugt sie die Liebe all derer auf, die sich schnell und leichtfertig an ihrer Anmut gierig erregen wollen wie an einem Glas Absinth, und spuckt sie, nachdem jene vom aussichtslosen Liebeswerben blass und entkräftet niedersinken, achtlos wieder aus. Die Fülle der Statuen, die sie besitzt – auf Brücken, auf Dachgiebeln, an Erkern und auf Plätzen – erscheint wie ein steinernes Abbild ihrer nach abertausenden zählenden Liebhaber, die nach einer Sinnen betörenden Liebesnacht an der unnahbaren, gläsernen Schönheit ihrer Geliebten verzweifelten und schließlich an gebrochenem Herzen starben. Dabei meint sie doch nichts böse, man liebt sie nur auf eigenes Risiko.

 

„Wie heißt dieser Turm noch mal?“ fragte die Frau keuchenden Atems. Ihr Mann, der vor ihr herging und die steile und knarrende Holztreppe zur obersten Plattform hochstieg, zwang sich, die Gedanken, die ihn unerklärlicherweise bedrängten, zu verscheuchen. Es war einer der mittelalterlichen Stadttürme Prags, die den stillen Betrachter in eine Stimmung demutsvoller Hingabe versetzen, wenn sie wie hunderte emporgereckter Finger auf den Himmel verweisen. Bis zum achten Stockwerk konnte man den Aufzug nehmen, den letzten Aufstieg nach ganz oben, von wo aus man einen herrlichen Ausblick auf die Stadt genießen konnte, musste man zu Fuß bewältigen.

 

„Jindřišská vĕž“ antwortete ihr Mann nach einem Blick auf das Eintrittsticket, und nach einigem Herumblättern in seinem Stadtführer ergänzte er: „Heinrichsturm auf deutsch.“

 

Die Aussicht von oben war in der Tat beeindruckend, doch musste man darauf achten, sich nicht den Kopf zu stoßen. Die nette Aufsichtsdame bemühte sich auf Deutsch zu erklären, dass das Glockenwerk, das im Dachgestühl des Turmes angebracht war, einer näheren Betrachtung würdig sei und verwies auf einiges schriftliche Material, das zur Information auslag. Doch hatten die beiden keinen Sinn für Glocken, sie genossen sich lieber den Anblick der fernen Burg und des Dächergewirrs der Altstadt. Seltsam, dachte der Mann, seltsam, dass ich noch nie hier gewesen bin.

 

In der Mitte des Raumes standen mehrere Stühle in einem großen Kreis angeordnet, zum Hinsetzen und Ausruhen aufgestellt. Vielleicht fanden hier auch Vorträge zur Geschichte des bemerkenswerten Glockenwerkes statt, dachte sich die Frau, und nutzte gerne die Gelegenheit, sich ein wenig vom Aufstieg zu erholen. Ihre Gedanken kreisten um verschiedene Dinge, sie konnte sich manchmal schlecht konzentrieren und hatte in ihrer momentanen Verfassung keinen Blick für die Schönheiten der Stadt, ihr Mann hingegen umso mehr. Interessierte er sich mehr für eine Stadt als für seine Frau? Die Aufsichtsdame, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters sich eine gewisse Mädchenhaftigkeit bewahrt hatte, schien ihre Gedanken zu erraten und lächelte sanft zu ihr herüber. Der Mann, er hieß Schmid, näherte sich nun der Aufsichtsdame, die ihre Aufmerksamkeit umgehend auf ihn richtete und ihn ein wenig besorgt betrachtete.

 

„Sie hätten nicht so lang fort bleiben sollen“, sagte sie zu ihm. Schmid, der nicht im Geringsten wusste, wovon sie sprach, sagte nur: „Wie bitte?“

 

„Sie hätten nicht so lange fort bleiben sollen. Sie wurden vermisst.“

 

„Ich bitte um Entschuldigung, Sie müssen mich verwechseln. Ich war noch nie in Prag. Es ist eine sehr schöne Stadt, und ich bereue es, nicht schon viel früher die Zeit zu einem Besuch gefunden zu haben. Leben Sie hier?“

 

„Außerhalb, es ist eine längere Fahrt mit der U-Bahn. Doch ich muss Sie berichtigen. Alle werden Ihnen bestätigen, dass Sie froh sind, Sie wieder zu sehen.“

 

„Wer denn, um Himmels willen? Wer sind „alle“? Ich sage Ihnen doch, ich bin zum ersten Mal in Ihrer schönen Stadt.“

 

 

Die Aufsichtsdame blickte traurig zu Boden. Plötzlich begann sie leise, kaum hörbar, zu singen. Es klang wie ein Kinderlied, und als ihr der Text entfallen zu sein schien,  summte sie die Melodie vor sich hin und lächelte wie selig.

 

„Sie wussten, dass Sie kommen würden“, sagte sie. „Nehmen Sie dies als kleines Zeichen der Aufmerksamkeit“. Sie drückte ihm ein kleines in Stoff gebundenes Buch in die Hand. Schmid sah es verwundert an. Es war alt, die Ecken abgestoßen und der Einband rissig.

 

„Aber…“ setzte er an, doch die Frau wandte sich um, wie um ihm zu bedeuten, dass sie alles gesagt habe, was zu sagen sei.

 

Langsam und wie benommen ging Schmid hinüber zu seiner Frau, die von dem Gespräch und er seltsamen Übergabe nichts mitbekommen hatte.

 

 

Später tranken sie einen Kaffee im Gemeindehaus. Schmid mochte es mittlerweile gerne, sich in den schönen Café-Häusern Prags aufzuhalten, von ihrer ganz eigenen Atmosphäre gefangen nehmen zu lassen und dem fast unmerklichen Dahinrauschen der Zeit und ihrer ewigen Wiederkehr zu lauschen. Ja, er konnte die Zeit hören, sie hatte einen ihr eigenen Ton, war ein lebendes Wesen, das sich räkelte, gähnte, sich langsamer und schneller bewegte, aß und trank, manchmal dahinraste, wieder innehielt, sich ihrer selbst bewusst wurde, nur um wieder in Selbstvergessenheit und tiefen Schlaf zu versinken. Wie viele Augenpaare mochten die Wandmalereien und die Gipsreliefs an Wänden und Decken betrachtet haben? Welche Gedanken waren hier gedacht worden, welche Träume geträumt? Cafés erschienen ihm wie riesige Verschiebebahnhöfe, auf deren Gleisanlagen sich Leben kreuzten. Manchmal fuhren sie aneinander vorbei, manchmal mussten sie einen Umweg nehmen, um sich auszuweichen, und manchmal stießen sie aneinander, wurden verbunden oder getrennt, einzelne Wagen kamen an einen anderen Zug und änderten für immer ihre Fahrtrichtung.

 

„Es ist nett hier“, sagte Frau Schmid.

 

„Ja, da ist es“, antwortete ihr Mann, immer noch gedankenverloren.

 

„Geht es dir besser?“ fragte Schmid seine Frau. Sie litt an Monatsbeschwerden und war während dieser Zeit gelegentlichen depressiven Verstimmungen ausgesetzt.

 

„Danke, es geht“, sagte sie, lächelte und nahm seine Hände. „Danke“, sagte sie noch mal und sah ihm dabei in die Augen. „Danke, dass du so viel Verständnis für mich hast.“

 

 

Der Kellner brachte den bestellten Kaffee. Er bewegte sich zielstrebig durch den großen, hallenartigen Hauptsaal des Cafés im Erdgeschoss des Obecní dům. Sein Blick war geradeaus gerichtet, das Tablett mit den Getränken trug er auf einem Arm, den er halb erhoben hielt und mit dem er geschickt die leichten Schwankungen seines Körpers während des Gehens ausglich. Offensichtlich verstand er sein Geschäft, dachte Schmid, doch es war ihm, als fühlte er eine eigenartige Abwesenheit des Geistes. Ein Schweigen inmitten des Trubels, so als hätte ein Gedanke plötzlich, und sei es nur für eine Sekunde, aufgehört gedacht zu werden und die Welt wäre in Nichtsein versunken. Konnte die Zeit stehen bleiben? dachte er und glaubte, schwindlig zu werden. Dann war es vorbei und der Kellner lächelte ihm zu, als er den Kaffee auf den Tisch stellte. Doch als er fast schon fertig war und gehen wollte, dreht er sich noch einmal um und beugte sich zu Schmid hinunter. Leise sagte er:

 

„Sehen Sie hinein, mein Herr.“

 

„Wie bitte?“ antwortete Schmid. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“

 

Doch der Kellner lächelte nur und wiederholte:

 

„Sehen Sie hinein, und Sie werden verstehen.“

 

Schmid war konsterniert und sagte nichts. Der Kellner wandte sich um und ging zu einem anderen Tisch, um eine Bestellung aufzunehmen.

 

 

 

 

 

 

 

-         2 –

 

Wie lassen sich Schmid und seine Frau beschreiben? Beide waren um die vierzig und seit fünfzehn Jahren verheiratet. Sie hatten es zu etwas gebracht, hatten in ihren Berufen eine ansehnliche Karriere gemacht, vor drei Jahren ein kleines Haus gekauft und liebevoll renoviert. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, doch schien es, als hätten sie sich mit diesem Los abgefunden. Sie redeten nicht darüber. Von ihrer äußeren Erscheinung schienen sie nicht sonderlich gut zueinander zu passen. Schmid war von eher kleiner und gedrungener Gestalt, sein Haaransatz ließ Fremde sein Alter eher höher schätzen. Er war, wie seine Frau manchmal halb scherzhaft zu ihm sagte, ein bäuerlich behäbiger Typ. Dabei verliehen im seine runde Nickelbrille und sein in bestimmten Situationen feiner Sinn für Ironie ein gewisses intellektuelles Flair. Seine Frau hingegen erweckte den Eindruck einer Dame von Welt. Ihr rotblondes, mittellanges Haar hatte sie hochgesteckt, was ihre großen aber geschmackvollen silbernen Ohrringe sowie ihren dezent ausgetragenen rotbraunen Lippenstift und das sparsame Rouge ihrer Wangen betonte. Sie war etwas größer als er, was einige ihrer Freunde nicht nur im körperlichen Sinne auffassten. Nicht von ungefähr bewegte sie sich beruflich auf der Ebene des mittleren Managements mit ausgezeichneten Chancen, in den nächsten Jahren in die Führungsebene der Großbank, für die sie arbeitete, aufzusteigen. Schmid hingegen, der sein Studium der Politikwissenschaft in früheren Jahren aufgegeben hatte, um ein damals lukratives Angebot einer Lokalzeitung annehmen zu können, sah sich in einer beruflichen Sackgasse angekommen. Nach oben ging es für ihn nicht recht weiter, während von unten jüngere Konkurrenz nachwuchs und ihm seinen Rang streitig zu machen begann. Doch das alles bereitete ihm nicht die Kopfschmerzen, die andere vermuteten, wenn sie in sein immer häufiger schwermütig erscheinendes Gesicht sahen. Vielmehr sah Schmid sich durch einen unvermittelten und ihn völlig unvorbereitet treffenden Angriff auf die Grundfeste seiner Existenz erschüttert. Etwas das er zwar immer mit dem Verstand erfasst hatte, doch mehr in der Art, wie man weiß, dass die Sonne eines Tages erlöschen und die Erde untergehen wird. Man weiß es, doch scheint es einen nicht zu betreffen, da der Zeitpunkt des Ereignisses in einer fernen Zukunft liegt. Man schnürt sich ein dickes Polster aus Zeit zu Recht, das man um seinen Körper wickelt und glaubt damit, sich vor dieser Zukunft zu schützen. Doch gibt es etwas Flüchtigeres als Zeit? Reden wir nicht alle davon, dass man im „Hier und Jetzt“ leben müsse – die Vergangenheit ruhen lassend und über die Zukunft nicht grübelnd? Schmid dachte über diese seltsame Vorstellung von Vergangenheit nach und fragte sich, was das eigentlich sei. Er dachte an ein Ereignis aus seiner Kindheit zurück, als er einmal beim Radfahren fast unter ein Auto gekommen wäre. Der Fahrer des Wagens ging mit ihm zu seiner Mutter und klärte sie über das unvorsichtige Verhalten ihres Sohnes auf, und Schmid wurde von ihr energisch zu Recht gewiesen. Dies war unzweifelhaft ein Teil seiner Vergangenheit. Wer wusste davon? Er selbst, seine Mutter und der Autofahrer, und dann noch die Personen, denen diese drei Personen von dem Vorfall erzählt hatten oder die ihn zufällig beobachtet hatten. Alles in allem vielleicht zwölf Personen. Was war, wenn alle diese zwölf nicht mehr lebten, wenn es niemanden gab, der sich an diesen Vorfall erinnerte? Konnte man dann noch immer von Vergangenheit reden, als einem realen und beschreibbaren Etwas? Schmid fragte sich, ob es eine Vergangenheit ohne irgendeine menschliche Erinnerung daran überhaupt geben konnte. Er wusste darauf keine Antwort, doch fühlte er die Angst in sich, buchstäblich alles könne sich in nichts auflösen – die Welt, die Zeit, sein Leben, er selbst. In vielleicht einigen Jahrzehnten würde es niemanden geben, der ihn je gekannt hatte, sich an ihn erinnerte, sein Gesicht aus der Erinnerung beschreiben konnte. Es würde sein, als hätte es ihn nie gegeben. Genauso wie die Menschen der Zukunft für ihn nicht existent waren. Er würde ihnen nie begegnen, mit ihnen lachen, reden oder weinen können. Es schien ihm, als wäre diese Vorstellung von Zeit nur eine riesige Trennwand, die die menschliche Vorstellung konstruiert, um eine scheinbare und brüchige Ordnung in ein Chaos zu bringen, das sie ansonsten um den Verstand bringen würde. Es gab nur das Jetzt, und es entstand in jeder Sekunde, in jedem einzelnen menschlichen Gehirn auf Neue, seit Jeher und auf immer, ohne hinten oder vorne, oben oder unten. Es gab nur das Jetzt, und welche Rolle spielte es da, ob die Erde in fünf Milliarden Jahren untergehen würde, in fünftausend oder übermorgen? Wenn es geschah, würde es immer „jetzt“ sein.  Und schließlich fühlte Schmid dieses Etwas, das ihm den Boden unter den Füßen zu entziehen drohte und das er noch nie zuvor so deutlich und schonungslos erfahren, gefühlt und verstanden hatte: Er begriff, dass sein Leben zu Ende ging, unwiderruflich und unaufhaltsam. Und dass dieses Zu-Ende-Gehen jeden neuen Tag seines Lebens - jeden Tag, der nur ein einziges Mal in der schier unendlichen Geschichte des Universums existierte und nie wiederkehren würde -, dass es immer wieder „jetzt“ geschah.

 

„Schatz, hörst du nicht?“

 

Die Stimme seiner Frau riss Schmid aus seinen Gedanken.

 

„Entschuldige bitte, was hast du gesagt?“

 

„Der Kellner fragt, ob wir zahlen möchten. Möchten wir? Ehrlich gesagt, würde ich gerne gehen und mir die Karlsbrücke bei Dunkelheit anschauen. Es muss herrlich sein, mit all den Menschen auf der Brücke, und dann die wunderbaren Statuen. Lass uns bitte gehen, ja?“

 

„Natürlich. Was macht es bitte?“ wandte sich Schmid an den Kellner.

 

Doch als er aufsah, sah er den Mann nicht da wo er ihn erwartet hatte, sondern am Nebentisch. Er wusste nicht, wie viel Zeit seither vergangen war, doch er hätte schwören können, dass es dieselbe Szene war, die er vorhin beobachtete, nachdem der Kellner ihn auf so seltsame Weise angesprochen hatte. Was war das, träumte er etwa oder hatte er die zwischenzeitlich vergangene Zeit vergessen?

 

 

Er konnte sich nicht daran erinnern, was in der Zeit, die sie im Café verbrachten, geschehen war. Hatte er sich mit seiner Frau unterhalten und worüber? Er wusste es nicht, und diese gelegentlichen Ausfälle seines Erinnerungsvermögens waren wohl einer der Gründe dafür, warum er und seine Frau sich entfremdet hatten. Sie hielt seine Gedächtnislücken für gespielt, er wiederum vermisste irgendeine Art von verständnisvoller Anteilnahme, und so taten sie beide, als gäbe es sein Handicap nicht.

 

Später, auf der Karlsbrücke, blieb er gefangen in einer jener seltsamen Gemütslagen, die von Zeit zu Zeit Besitz von ihm ergriffen. Nicht dass sein Verstand ihn im Stich lassen würde, nein, es war etwas anderes. Es war wie wenn eine blitzartige Erkenntnis, eine Einsicht die ihn durchzuckte. Eine Einsicht, die er kaum in Worte fassen konnte und die doch so real vor ihm stand wie jene Statue von drei Personen, zwei Männern und einer Frau, die flehentlich ihre Hände zu dem Heiligen emporhob. Es war die Einzigartigkeit des Moments, des Gefühls, und seines Lebens, die ihn erschütterte. Jene nicht mitteilbare Erfahrung, sich plötzlich - völlig klar und ohne Einschränkung - seiner selbst und der Realität des Zeitkorns, in dem man sich befand und das einen wie eine schützende Hülle umgab und vor dem unendlich dunklen Abgrund des Nichts bewahrte, bewusst zu werden. Er erblickte die Statuen, sah, wie sich Licht und Schatten über ihnen verteilte und wusste: Ich bin der einzige Mensch im ganzen Universum, der diesen Moment erlebt. In der gesamten Geschichte dieses schier unbegrenzten Alls wird sich dieser Moment nie wiederholen, und ich bin sein einziger Zeuge. Bin ich nur ein Zeuge oder erschaffe ich diesen Moment gerade? Und doch, obwohl dies zweifellos ein Moment der Erleuchtung ist, werde ich ihn nicht festhalten können; er wird vergehen, als ob er nie gewesen sei. Auch werde ich ihn niemandem mitteilen können, denn was ich fühle, ist die Gegenwart meiner selbst. Welch ein unaussprechliches Ereignis! Er hatte das Bedürfnis, es hinauszuschreien und aller Welt zu sagen: Ich bin da! Ich bin wahrhaftig da und ich nehme mich wahr; es geschieht jetzt und hier, und es ist einzigartig! Doch wusste er auch, dass die anderen ihn nicht verstehen würden. Sie würden ihn für einen Irren halten, bestenfalls für einen harmlosen Spinner. Keineswegs würden sie verstehen, was er meinte. Er sah zu seiner Frau hinüber, die ein paar Meter von ihm entfernt stand und fotografierte. Als sie zu ihm hersah, lächelte er ihr zu. Hatte er je einen solchen Moment des Bewusstseins mit ihr geteilt? Wie schmerzhaft er doch diese Trennung empfand, diese Isoliertheit des Einzelnen und wie stark das Bedürfnis, das Wunder der klaren Wahrnehmung zu teilen. Einen Moment zu haben, in dem er so bei sich selbst wäre wie eben beim Anblick der Statuen und diesen selben Moment im Bewusstsein eines anderen zu sein und dieser andere in seinem. Dies wäre ein inneres Band, das beide auf ewig verbände.

 

Doch das konnte nicht von Dauer sein, nicht auf dieser Welt und nicht in diesem Leben. Zu dauerhaft, zu fundamental war die Spaltung in die Gegebenheit dieser Welt einzementiert, zu radikal und unwiderruflich war das Individuum in die Einsamkeit der Welt hinauskatapultiert, zu stark die Vergessenheit über die verbindende Kette, die geistige Wurzel alles Existierenden. Eine kalte, feste Hand strich in grausamer Gleichgültigkeit über Schmids Rücken und drohte, ihm die Kehle zuzuschnüren. Nahm das nie ein Ende? Diese Anfälle von Verzweiflung und Verlorenheit, Schmids Angst vor dem Vergehen der Zeit, dem nicht enden wollenden, verschwenderischen Strom an Leben, an beginnendem, seiendem und endendem Leben, ohne woher und wohin, ein ewiger Strom an Fragen, staunend, zweifelnd, fordernd, vergessend und erinnernd, und über allem, oder in allem, Zeit. Was, wenn es keine Zeit gab, keine Vergangenheit oder Zukunft, nur ein einziges riesiges und ewiges Jetzt, wenn dieses Jetzt alles war was existierte, von Anfang an und in alle Ewigkeit. Wäre dann alles vorherbestimmt, wäre alles was je geschah und noch geschehen würde, im Bewusstsein dieses Jetzt geborgen?

 

Schmid erschrak, als er die Stimme seiner Frau wahrnahm. Sie fragte ihn, ob er heute noch irgendwo hin gehen wolle, was er verneinte. Beide wandten sich also Richtung Altstädter Brückenturm und gingen durch die Karlstraße zum Altstädter Ring. Von hier war es nicht mehr weit zum Wenzelsplatz, an dessen oberem Ende, direkt unterhalb des Nationalmuseums, das Apartmenthaus stand, in dem sie sich eingemietet hatten. Ein Junge rempelte Schmid im Vorübergehen an und murmelte etwas Unverständliches. Er mochte vielleicht zehn, elf Jahre alt sein und hatte ein schmales, von hellblondem mittellangem Haar umrandetes Gesicht. Er machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen, sondern stellte sich auf sein Skateboard, das er unter den Arm geklemmt mit sich geführt hatte, und fuhr pfeifend davon. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus griff Schmid sich an die Jackentasche, in der er das eigenartige Geschenk der Aufsichtsdame im Heinrichsturm mit sich führte. Er konnte die Umrisse des Buches fühlen und wurde sich bewusst, dass er noch keinen Blick hinein geworfen hatte. Er wusste nicht warum, doch er scheute davor zurück. Jedoch wegwerfen konnte er es auch nicht, dessen war er sich nur zu bewusst. Das kleine Buch begann eine seltsame Macht über ihn auszuüben.

 

 

 

 

 

© Joachim Güntzel 2007

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.02.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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