Joachim Güntzel

Ein Prager Fotoalbum (Teil 2)

- 3 -

Als er am nächsten Morgen das Haus verließ, um im Supermarkt in der Nähe der U-Bahn-Station am Nationalmuseum Brötchen zu holen, spürte er sofort, dass etwas in der Luft lag. Prag hatte sich verändert, es war härter und wacher als am vergangenen Abend. Menschen gingen an ihm vorbei, hastig aufwärts in Richtung U-Bahn und etwas weniger hastig abwärts Richtung Stadtzentrum. Die Sirenen der Polizeifahrzeuge heulten beinahe im Fünfminutentakt, so dass er sich an amerikanische Krimiserien erinnert fühlte. Selbst der heilige Wenzel, der von seinem Pferd aus über die Geschicke der Stadt wachte, schien seine Haltung und seinen Gesichtsausdruck verändert zu haben und nun in einer Art lauernder Aufmerksamkeit seinen Blick auf ihn zu richten. Schmid erinnerte sich an den gestrigen Abend. Nach dem Betreten des Hauses waren sie direkt in die Wohnung gegangen und hatten etwas gegessen. Nachdem sie fertig waren, hatte er schließlich von der seltsamen Begegnung im Turm erzählt und es gewagt, das kleine Buch aufzuschlagen und seinen Inhalt zu begutachten. Zu seiner Überraschung handelte es sich um ein altes Fotoalbum. Es mochte wohl über hundert Jahre alt sein, einen Eintrag konnte er jedoch nicht finden. Das Büchlein war in dunkelbraunes Leder gebunden, das seinem Alter entsprechend stark verblasst war. Es waren um die zwanzig vergilbte Fotografien enthalten, die Männer in altertümlichen Anzügen, Frauen in Rüschen besetzen Kleidern und Kinder in Matrosenanzügen und hübsch verzierten Kleidchen zeigten.

„Wer mag das wohl sein?“ hatte seine Frau gefragt, jedoch ohne sonderlich großes Interesse an dem seltsamen Geschenk zu zeigen. Vielleicht sind wir das, hatte Schmid gedacht, gesagt hatte er jedoch etwas anderes, dass er es nicht wisse und dass diese Menschen vielleicht etwas mit dem Turm zu tun hätten, dass sie möglicherweise einmal dort gelebt hatten oder dass es einfach ein Zufall sein, dass sich dieses alte Fotoalbum dort befunden hatte und die Aufsichtsdame froh gewesen sei, es jemandem geben zu können und sich nicht weiter darum kümmern zu müssen.

„Sicher hast du Recht“, hatte seine Frau geantwortet, und dann hatten sie zu Abend gegessen.

Eine Textzeile aus einem alten Pink Floyd-Song ging ihm durch den Kopf. Waren die Menschen, die durch die Straßen eilten, nicht genau wie in diesem Song beschrieben; versuchten sie nicht die Sonne einzufangen, rannten sie nicht hinter ihr her, nur um festzustellen, dass letztlich sie von der Sonne eingefangen wurden, die unweigerlich versank, um in ihrem Rücken wieder aufzugehen? Die Sonne blieb dieselbe, die Menschen jedoch veränderten sich, denn ihre Lebenszeit lief unweigerlich ab. Mit jedem Jahr, mit jedem Tag, der verging, wurden sie ein wenig kurzatmiger und näherten sich dem Ende. Oder das Ende näherte sich ihnen. Bestand darin nicht das eigentliche Paradox der Zeit – dass man sie nicht haben konnte, ohne dass sie zerrann? Je mehr Zeit man geschenkt bekam, umso mehr Zeit musste vergehen. Konnte es also unendlich viel Zeit geben – wenn unendlich viel Zeit doch eine Unendlichkeit braucht, um vergehen zu können, also nie vergehen konnte? Plötzlich erschien es ihm eigenartig, dass die Menschen die Endlichkeit ihres Lebens bedauerten, sich also nach Unsterblichkeit und damit nach der Unendlichkeit des Lebens sehnten – und die Unendlichkeit sie zugleich in den Wahnsinn treiben konnte, so wie es jenem berühmten Mathematiker geschehen war, der sich dem Unendlichen zu sehr genähert hatte und darüber den Verstand verlor. Brauchen wir die Endlichkeit des Lebens, also den Tod, um überhaupt leben zu können? fragte sich Schmid. Leben konnte man nicht, ohne sein Leben zu verbrauchen. Es war wie flüssiges Gold, das man in die Taschen steckte und das durch die Fasern des Stoffes versickerte. Das einzige was übrig blieb, war die Färbung der Taschen und die Erinnerung, einmal Taschen voller Gold gehabt zu haben. Das Unerträgliche an diesem Leben schien ihm seine pure Gegebenheit zu sein. Es ist da, ohne dass wir danach gefragt haben, ohne dass wir darum gebeten hätten, ja ohne dass wir überhaupt wüssten, was und warum es letztlich ist. Das einzige was wir mit Sicherheit von ihm wissen, ist seine Endlichkeit. Dieses grausame Wissen um ein Geschenk, das uns wieder genommen wird, zwingt uns auf eine Suche, die Suche nach einem Sinn, einer Bestimmung, mit der wir diesem Geschenk auf Widerruf doch noch eine Dauerhaftigkeit geben können. Aber worauf sollen wir es ausrichten, wenn alles worauf wir es ausrichten können, ebenso vergänglich ist wie das Leben selbst? Vielleicht war dieses Wissen die Frucht des Baumes, die wir nie hätten kosten dürfen. Die Wahrheit ist unbenennbar. Aber sie ist.

 

Als er ins Haus zurückgekehrt war, vergingen vielleicht fünfzehn Minuten, bis es klopfte, leise und verhalten, so dass sie es fast überhört hätten. Vor der Tür stand die Frau aus dem Turm. Er betrachtete sie genauer. Sie war jünger als sie ihm beim ersten Mal erschienen war, vielleicht Ende vierzig, Anfang fünfzig. Ihre Haare waren anders, sie trug sie nun offen und sie reichten in leichten Wellen fast bis auf ihre Schultern herab. „Verzeihen Sie, wenn ich störe“, begann sie unsicher und lächelte leicht.

„Aber nein“, entgegnete Schmid, „ich freue mich, Sie zu sehen.“ Er wusste nicht recht, was er sonst sagen sollte. Sollte er sie herein bitten? Was wollte sie von ihnen?

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Nun ja“, entgegnete sie, „also… ich habe Sie vorhin auf der Straße gesehen und beobachtet, wie Sie in dieses Haus hinein gingen, und da dachte ich mir… Hätten Sie vielleicht etwas Zeit?“


Schmids Frau war inzwischen hinzu getreten und erkannte den unerwarteten Gast.

„Das ist ja eine Überraschung!“ rief sie. „Wollen Sie nicht herein kommen? Wir sind gerade dabei zu frühstücken und es ist noch gedeckt. Haben Sie schon gefrühstückt? Aber eine Tasse Kaffee werden Sie doch mit uns trinken. Kommen Sie doch herein und setzen Sie sich!“

Es war Schmid zwar nicht Recht, aber er bekräftigte die Einladung und die Turmfrau (wie Schmid sie insgeheim nannte) trat ein.

„Danke. Ich heiße übrigens Yelena Matašesky. Nennen Sie mich doch bitte Yelena.“

„Gerne. Wir heißen Schmid. Das ist meine Frau Agnes, und ich heiße Edgar.“ Sie reichten sich die Hand. Etwas umständlich trat die die Turmfrau näher, sah sich in der kleinen Wohnung um und nahm, nachdem sie von Schmid nochmals aufgefordert wurde, am Tisch Platz. Ein schönes Gesicht hat sie, dachte er insgeheim und tadelte sich doch sogleich innerlich selbst für dieses unausgesprochene Kompliment.

 

Doch was sie zu sagen hatte, die Turmfrau, das gefiel ihm nicht so gut wie ihr Äußeres. Die Stimmung wurde gedrückter, und schließlich, nach zwei Stunden etwa, war Schmid froh, als sie ging. Sie konnte nicht recht bei Verstand sein, da war Schmid sich sicher. Wie konnte so etwas möglich sein? Konnte die Welt, so wie sie war, wie Schmid und Millionen andere Menschen sie jeden Tag wahrnahmen, so … unfest sein, wie es sich aus ihrer Beschreibung ergab? Konnten sich in ihr winzige Fugen zeigen, die anfingen zu bröckeln und rissig zu werden wie die Kacheln einer in die Jahre gekommenen Küchenwand? War es wirklich so, dass diese Wand nur scheinbar fest war und die Dinge ordnete, eines vom anderen trennte, in Wahrheit jedoch eher wie eine dünne Schicht aus feinem Papier beschaffen war, Papier, das alles wie eine Flüssigkeit hindurch sickern ließ, in welche Richtung auch immer? Und gab es Menschen, die das alles wussten, die immer lebten und die er in jenem Fotoalbum, damals im Turm, gesehen hatte? Nein, die Turmfrau musste verrückt sein.

- 4 -

So dachte Schmid, bis ihm der Mann begegnete. Seltsamerweise war er im Laufe ihres Gespräches keinen Moment auf die Idee gekommen, ihn nach seinem Namen zu fragen. Vielleicht hatte sein Inneres auf irgendeine unerfindliche Art und Weise beschlossen, dass ein Name in diesem Fall keine Rolle spielte. Schmid war dem Mann auf der Straße begegnet, und er wusste, dass es sich um einen der altertümlich gekleideten Männer aus dem Fotoalbum handelte. Er trug zwar moderne Kleidung, hatte seinen Haarschnitt verändert, doch sein Gesicht war dasselbe.

Der Mann deutete auf das Schaufenster eines Geschäftes, das sich etwa fünfzig entfernt auf der gegenüber liegenden Straßenseite befand.

„Lassen Sie uns dort hinübergehen, ich möchte Ihnen etwas zeigen“, sagte er und war auch schon mitten auf der Straße. Der Verkehr, der um diese Zeit sehr dicht war, schien ihn dabei nicht sonderlich zu besorgen. Schmid musste aufpassen, nicht unter ein Auto zu geraten bei dem Versuch, seinen eigenartigen Gesprächspartner nicht aus den Augen zu verlieren. Als er am Schaufenster angelangt war, registrierte er, dass der Mann vor einer alten Schwarzweißfotografie stand und sie schweigend betrachtete. Das Bild zeigte eine Ansicht der Brooklyn Bridge in New York, mit Blick auf Manhattan. Schmid wusste nicht recht, was er damit anfangen sollte.


„Was sehen Sie?“ wandte sich der Mann an Schmid.

„Ich sehe eine bekannte Brücke in einer noch bekannteren Stadt. Eine recht gelungene Aufnahme, vielleicht aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.“

„Gut. Und weiter?“

Schmid betrachtete die Aufnahme eingehender.

„Ich sehe Hochhäuser im Hintergrund, die Skyline von Manhattan wie sie vor langer Zeit einmal aussah, ich sehe den Fluss mit Schiffen darauf, ich sehe einen Bus, der gerade die Brücke überquert… was meinen Sie denn? Ist das ein Suchbild? Soll ich etwas Bestimmtes sehen?“

„Sitzt in dem Bus jemand?“

„Ich nehme an, sicherlich, auf jeden Fall der Busfahrer und bestimmt auch einige Fahrgäste. Aber ich kann sie nicht sehen.“

„Das macht nichts. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind einer dieser Fahrgäste. Was sehen Sie?“

Ich sehe von der Brücke über den Fluss, dahinter die Hochhäuser. Vielleicht ist ein Fenster des Busses leicht geöffnet. Ich kann… ich…“

Schmid zögerte und schloss die Augen. Und plötzlich merkte er es.

 

„Ich kann das Wasser riechen. Ich rieche New York.“

Der  seltsame Mann lächelte leicht.

„Aber das geht doch gar nicht. Ich bin hier und dieser Moment, den ich gerade erlebe, hat vielleicht vor über achtzig Jahren statt gefunden. Er ist lange Vergangenheit. Ich bilde mir das nur ein.“

„Nein, Ihnen ist etwas bewusst geworden. Dieser Fahrgast, der Sie gerade waren, hatte einen Moment erlebt, der einmalig war. In der gesamten Geschichte des Universums hat dieser Moment nur ein einziges Mal statt gefunden und wird sich nie wiederholen, ebenso wie dieser Moment, den wir gerade hier erleben.“

 

Sie waren inzwischen weiter gegangen und schlenderten über den Wenzelsplatz hinunter bis zum Mustek. Die Spitze des Krone-Palais leuchtet zu ihnen herunter, und sie bogen nach rechts ab in Richtung Pulverturm.

„Aber wie kann ich mich an etwas erinnern, das ich gar nicht erlebt habe? Ich war zu dieser Zeit noch nicht geboren, und ich war noch nie in New York.“

„Das macht nichts. Sie brauchten sich überhaupt nicht zu erinnern. Sie brauchten nur Ihre Sinne zu schärfen und Ihre natürliche Wahrnehmungsfähigkeit  zu nutzen. Die Zeit hat sich für Sie erinnert. Dieser Moment, den sie in sich gefühlt haben – oder an den sich die Zeit erinnert hat – ist genau so real wie jeder andere Moment in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Er ist gespeichert im ewigen Gedächtnis der Zeit und existiert dort weiter.“

„Dann ist Zeit also nur eine Illusion? Es gibt keinen Unterscheid zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?“

„Nein, so einfach ist es nicht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Begriffe, die wir uns gebildet haben, um uns eine fundamentale und wahrnehmbare Realität zu schaffen. Wie hören Sie zum Beispiel Musik?“

Wieder eine dieser im ersten Moment banal klingenden Frage, mit denen dieser eigenartige Fremde – Schmid bemerkte, dass er noch nicht einmal seinen Namen kannte – ihn offensichtlich zu irritieren versuchte. Schmid. Sein eigener Name war Schmid, das würde er sich nicht ausreden lassen. Hier und jetzt hieß er Schmid.

„Ich lege eine CD ein und drücke auf den Play-Knopf“.

„Ja, aber das ist nicht das Wesentliche. Sie hören Töne, einen nach dem anderen. Ihr Musikstück ist eine Ansammlung von vielen Noten, die alle gleichzeitig auf einem Stück Papier niedergeschrieben sind. Alle Töne existieren gleichzeitig, die gesamte Musik ist auf irgendeinem Medium gespeichert, und sei es das Papier, auf dem die Noten gedruckt sind. Wenn ein Orchester alle Töne in einem einzigen Moment spielen würde, dann wäre das streng genommen die gesamte Information, die von dem Komponisten in sein Stück eingebracht wurde. Doch Sie würden absolut nichts wahrnehmen oder erleben, jedenfalls keine Musik. Erst die Zeit erlaubt es Ihnen, Musik wahrzunehmen, indem sie einen Ablauf ermöglicht. Durch diesen Ablauf entsteht etwas, das wir als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezeichnen. Und doch nehmen wir diesen zeitlichen Ablauf als Einheit war. Niemand käme auf die Idee, die ersten Töne eines Stückes nach einigen Sekunden als Vergangenheit zu betrachten und sie zu vergessen. Sie wirken nach, sie existieren in uns weiter und bilden mit den letzten Tönen zusammen eine Einheit, die wir als ein Musikstück bezeichnen. Erst das Stück als Ganzes löst das Erlebnis in uns aus, das wir als Musik bezeichnen. Doch wir brauchen die Zeit, um dieses Stück hören zu können. Die Zeit ermöglicht es uns, Dinge zu erleben, Dinge, die immer schon da waren und immer da sein werden.“

 

Nachdenklich ging Schmid weiter. Er dachte darüber nach, was der seltsame Mann ihm gesagt hatte.

„Was also ist Zeit dann?“ Er versuchte zu verstehen, doch da war ein Kern, der ihm zu entgleiten schien, sobald er sich ihm näherte. Der ihn auslachte, verhöhnte. Du siehst mich nicht, sagte dieser Kern zu ihm. Aber ich sehe dich. Du kannst mich nie begreifen, nur fühlen. Ich habe dich in meiner Hand, während ich deinem Zugriff entgleite. Ich war, bin und werde sein.

„Die Zeit, Herr Schmid, ist ein lebendes Wesen. Sie sind die Zeit, ich bin die Zeit, die Zeit lebt in uns, wir sind ihre Burg. Die Zeit braucht Wesen wie uns, damit sie wahrgenommen wird. Indem wir sie wahrnehmen, machen wir sie zu einer Realität, zu unserer Realität. Sie lebt in uns, und sie gibt uns dafür, was wir Leben nennen.“

 

Während die Worte des seltsamen Mannes noch in Schmid nachhallten, drehte dieser sich um und ging wortlos weiter, ohne sich in erkennbarer Weise von Schmid zu verabschieden. Wozu auch, dachte Schmid, wir kennen uns ja nicht einmal. Nach kurzem Zögern drehte Schmid sich um und ging in die andere Richtung.


- 5 -

Zwei Tage später.

Prag ist weiblich.

So wie die Frau, die neben ihm liegt. Es ist nicht seine Frau. Seine Frau ist bereits abgereist. Mit dem Zug, Zehn Uhr fünfundzwanzig ab Mašaryk-Bahnhof, Wagen sieben, Sitz dreiundzwanzig. Den einen Koffer, den sie mit dem Notwendigsten gefüllt hat, trägt Schmid ins Abteil. Versucht sie zu überreden, doch zu bleiben. Vergeblich. Die letzten Tage haben eine Veränderung in ihm ausgelöst. Eine tiefe, unter der Oberfläche gärende Veränderung, die alles in Frage stellt, alle bisherigen Konstanten des Lebens auflöst und nur eines zurück lässt: Die Notwendigkeit zu leben. Jetzt. Immer nur jetzt, kein gestern, kein morgen oder nächste Woche. Ich war, bin, und ich werde sein, sagte die Zeit zu ihm. Ich bin immer jetzt, sagte die Zeit.

Ich bin immer jetzt, sagte Schmid.

Ich bin wie du. Ich bin du.


Das war es, was er gespürt hatte, als er der Frau neben ihm begegnet war. War es eine Flucht, Flucht vor dem Leben, wie er es bisher geführt hatte, der letztlich vergebliche Versuch, neu anzufangen und alles Bisherige – alles bisher erlebte mitsamt der Prägungen, die es seinem Inneren aufgedrückt hatte - hinter sich zu lassen?

Nein. Das war es nicht, zumindest nicht nur.

 

Er hatte es gespürt, von Anfang an, vom ersten Mal, als sie sich begegnet waren. Es würde geschehen, geschehen müssen. Es hatte nichts mit seiner Frau zu tun, absolut nichts. Oder doch? Es spielte keine Rolle.

In diesem Moment war er der Zeit entkommen. Nur in diesem Moment. Diesem Moment ohne Zeit, der doch von der Zeit eingeholt werden würde. Das war das Paradoxon. Für einen Moment war er ohne Zeit. Für einen Moment hatte er die Zeit besiegt, war in ihr Innerstes gekrochen und hatte sie vom Thron gestoßen. Ihr das Zepter entrissen. Für einen Moment konnte er ihr ins Gesicht lachen und über sie triumphieren. So fühlte Schmid.

Die Frau neben ihm lächelte. Sprach kein Wort, lächelte nur. Die Frau von dem Foto. Sie lächelte.

Dachte sie an ihren Mann? An ihre Kinder? Hatte sie eine Familie?

Dann, nach einer Weile, sagte sie:

„Wirst du wiederkommen?“

Schmid lächelte.

 

Er sah in ihre Augen und sah: Eine Seele, eine Seele, die um ihr eigenes Nichts wusste, das Nichts, zu dem die Zeit sie machen wollte. Einsam. Fragend. Zweifeld. Und schließlich: Unendlich traurig. Wie Schmid. Er sagte nichts. Als er Prag verließ, wusste er, dass er nicht wiederkommen würde.

 

© Joachim Güntzel 2007

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.02.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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