Die Bahnhofshalle sieht wie eine Einkaufspassage aus, nur dass zu jedem Gleis eine Treppe hochgeht mit einem Fahrband für die Koffer.
Ich bin viel zu früh hier. Der Zug fährt erst in 23 Minuten ein, auf Gleis 12.
Von oben hört man das Rauschen einfahrender Züge auf den Gleisen, wie ein sich im Kreis drehender Sekundenzeiger.
Ich gehe in Richtung der Treppe für Gleis 12. Rechts von mir ist eine Bäckerei und daneben ein Geschäft für Kleidung. Nach oben hin verschwindet das Kunstlicht in ein graues Tageslicht. Es ist Vormittag und kühl.
Am Gleis kommt es mir kühler und windiger vor als es am Tag schon war. Ich bin viel zu früh, ich könnte noch einen Kaffee in der Bäckerei trinken. Ich gehe zu einer der freien Bänke und setze mich. Ich stecke meine Hände in die Jackentaschen.
Am Anfang zu Gleis 12 sehe ich einen Mann heraufkommen. Er trägt eine kleine schwarze Reisetasche mit sich. Sein Mantel ist grau, sein Haar dunkel.
Julik hat ähnlich ausgesehen. Er arbeitet seit einigen Monaten in Belgien. Ich habe immer ein Bild von ihm in meinem Kopf: den Hals hinauf bis zu seinem Mund, seine Nase und seine Augen, seine Stirn und sein Haar.
Auf Julik musste ich immer warten, aber wenn ich ihn dann wiedergesehen habe, war ich nie überrascht, wie er aussah. Wenn wir uns wiedersahen, waren wir immer dieselben, auch wenn wir uns verändert haben. Wir waren dann noch mehr wir selbst als zuvor. Julik ist immer sanft und eindringlich wie ein Zigeuner gewesen.
Wir schreiben uns nicht, aber ich weiß, wenn er wieder da ist, werde ich von ihm hören. Würden wir aufeinander warten, würde die Zeit zu lang.
Ich bin hier und er ist in Belgien. Sobald jemand da ist, der ihm ähnlich sieht, steigt der mühsam verdrängte Luftballon voller Wucht nach oben. Ich habe keinen Brief und kein Foto von Julik.
Der Mann in dem grauen Mantel geht zu den Bänken auf seiner Seite. Er schaut auf seine Schuhe, dreht den Kopf dann nach links. Seine Körperhaltung wirkt müde.
Wenn es Julik wäre, würde ich mich zu ihm setzen und ihm mit leichtem Druck auf die Wange küssen. Er lächelt dann immer und nimmt mich in den Arm.
Wenn ich müde bin, denke ich, ich bin ihm etwas näher. Die einzige Zeit, in der ich mich traue, an ihn zu denken.
Ich habe keinen Grund, in die Richtung des Mannes zu gehen. Aber ich könnte so tun, als würde ich ungeduldig auf den Zug warten. Ich muss mich ja nicht zu ihm setzen. Dann würde ich die nächste Viertelstunde am Gleis stehen bleiben. Anscheinend fährt der Mann im gleichen Zug wie ich.
Alles ist ohne Julik weitergewachsen. Was würde er sagen, wenn ich mich bei ihm melden würde. Mir kommt die Zeit ohne ihn verpasst vor, wie eine verpasste Chance. Aber welche Chance? Mein Gefühl zu ihm ist warten und die Müdigkeit, wie nach einem Tag Arbeit. Ein Sehnsuchtsziel, das man nicht erreichen kann. Müde werde ich auch ohne ihn sein. Alle Feiertage waren ohne ihn. Was wäre das Leben, wenn ich nicht mehr an Julik denken würde?
Der Mann auf der Bank ist auch müde. Er ist dunkelhaarig und trägt einen grauen Mantel. Ich gehe etwas näher zu der Bank. Ich möchte das Gesicht des Mannes sehen.
Er dreht den Kopf zu mir, als hätte er meinen Blick gesehen.
Julik. Mir bleibt der Name im Hals stecken.
Ich stehe vor Julik!
„Warum hast du nichts gesagt?“ Meine Stimme vermischt sich mit dem Klopfen von meinem Herzen in den Hals.
„Ich weiß nicht, ob das gut ist“, sagt er. Er wirkt so müde.
„Warst du in Belgien?“ frage ich ihn.
„Nein, ich bin hier geblieben.“
Ich setze mich neben ihn. Meine Beine sind schwer geworden.
„Warum hast du nichts gesagt?“ frage ich ihn wieder.
„Ich wollte gehen. Wohin hätten wir das noch geführt?“ antwortet er.
„Wohin“, meine Stimme verliert ihren Ton. „Das hast du ohne mich entschieden?“
„Ich habe alles ohne dich gemacht, so wie du ohne mich.“ Er dreht sich zu mir und sieht mir in die Augen. Er ist der Julik, den ich mir behalten habe.
„Soll ich ganz ohne dich sein?“ frage ich ihn und kann es nicht glauben.
„Du warst auch vorher ohne mich.“ Er steht auf und nimmt seine Tasche.
Er legt seine Hand auf meine Schulter.
„Ich muss gehen, mein Zug fährt ein. Danke für die Zeit mit dir.“
Ich habe immer ein Bild von Julik in meinem Kopf. Er ist immer sanft und eindringlich wie ein Zigeuner gewesen. Er ist dunkelhaarig und hat einen grauen Mantel getragen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.02.2007.
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Niemals aufgeben
von Rita Rettweiler
Lyrik verbindet Menschen auf der ganzen Welt. Sie gibt Glauben, Hoffnung, Zuversicht und vor allem Kraft. So viel Leid gibt es auf dieser Welt. Wir können die Welt nicht verändern, aber oft hilft es schon, wenn der Mensch spürt, dass er mit seinen Problemen nicht alleine da steht, dass es Menschen gibt die ähnlich fühlen. Ich habe mich hauptsächlich auf Mut machende Gedichte spezialisiert, doch auch Gedichte zum träumen wirst du hier finden. Gedichte über das Leben eines jeden von uns, voller Leidenschaft, Liebe, Erotik, Hoffnung , Familie und der Kampf des Lebens.
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