Über ehrliche Lügen und unaufrichtige
Wahrheiten
Sie
ging allein spazieren. Das einzige Geräusch, das sie vernahm,
war das leise Prasseln des Regens um sie herum. Die kühlen
Regentropfen benetzten ihre Haut.
Sie
mochte dieses Gefühl. Es war, als wäre ihr Körper mit
einer unsichtbaren Hülle umgeben, die sie sicher und geborgen
hielt und vor allem bewahrte. Sie beschützte sie. Vor allen
schlechten Gedanken, vor der Zukunft, der Gegenwart, der
Vergangenheit. Vor der Wahrheit.
Die
Wahrheit ist eine Tugend, heißt es. Man wird erzogen mit der
Belehrung, dass man stets die Wahrheit sagen muss. Dass Lügen
schlecht sind. Dass etwas entweder wahr oder gelogen ist. So wurde
auch sie erzogen. Die Wahrheit ist gut, die Lüge schlecht.
Eine
feste Regel mit mächtigen Wurzeln, die sie standhaft machen,
unerschütterlich erscheinen lassen.
Doch
dann stößt diese feste Regel völlig unvorbereitet auf
die kleinen, unlogischen, nicht vorhersehbaren Unebenheiten des
Lebens, lassen sie stolpern, nur einmal, ganz kurz. Und das genügt,
um sie in sich zusammenbrechen zu lassen.
Plötzlich
gibt es nicht mehr nur schwarz und weiß, Wahrheit oder Lüge,
jetzt ist da auch grau. Etwas dazwischen, nicht wirklich wahr, doch
auch nicht gelogen - die Ehrlichkeit und die Aufrichtigkeit.
Doch
ist das nicht das gleiche? Wer ehrlich ist, spricht die Wahrheit, wer
die Wahrheit spricht, ist ehrlich und wer ehrlich ist, ist
aufrichtig...
Sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie ging
weiter durch den dunklen Tag, ihr Haar war schon ganz nass. Doch das
spürte sie nicht. Das Einzige, was sie wahrnahm, war der Regen.
Und ihre Gedanken. Sie dachte an alles, was geschehen ist in ihrem
Leben. Und sie fragte sich, wie es geschehen ist.
Was ist es, was die Wahrheit von der Ehrlichkeit
und der Aufrichtigkeit unterscheidet?
Wahrheit
gibt es nur eine. Jeder Mensch muss sie für sich selbst
entdecken und das ist die Kunst. Ehrlich sein kann jeder. Ehrlich war
sie immer, ihr Leben lang. Wenn sie jemand etwas gefragt hat oder sie
um ihre Meinung gebeten wurde, so hat sie stets ehrlich geantwortet.
Doch
hat sie, wenn es um die Wahrheit, ihre Wahrheit ging, stets
gelogen. Niemals hätte sie gewollt, dass jemand erfährt,
wie es in ihr aussieht. Das hätte sie verletzbar gemacht. Und
was noch viel schlimmer ist: sie hätte sich die Wahrheit selbst
eingestehen müssen. Und so hat sie auf Fragen, die auf ihr
Wohlbefinden abzielten immer auf eine ehrliche Art gelogen. Jeder hat
ihr geglaubt, nie hätte jemand auch nur einen Moment daran
gedacht, dass es nicht stimmt. Ehrliches Lügen. Ein Widerspruch,
doch tut es jeder, immerzu, Tag für Tag.
Allein
schon deshalb, weil man den anderen nicht verletzen möchte. Man
verpackt beispielsweise seine Kritik in einer kleinen Schwindelei, so
ist es ehrlich gemeint, auch wenn es nicht die Wahrheit ist.
Ja,
sie wusste, dass auch sie nie wollte, dass jemand sich ihretwegen
sorgt. Wollte kein Mitleid, keine Hilfe. Doch waren diese Gedanken,
so ehrlich sie auch waren, wirklich aufrichtig? Und wenn nicht, was
ist Aufrichtigkeit?
Sie blieb stehen und sah in den Himmel. Dunkel und
verhangen blickte er auf sie hinunter. Schwarze, schwere Wolken
brachen und ließen den angenehmen Regen auf die Erde herab. Sie
kannte die Antwort auf ihre Frage in dem Moment, in dem sie sich ihr
stellte.
Aufrichtig
sein bedeutete, zu etwas zu stehen. Zu der Wahrheit. Wer aufrichtig
ist, gibt zu, dass er unehrlich war oder dass er etwas nicht gut
findet. Wer aufrichtig ist, kann Kritik üben.
Sie
ging weiter. Sie wusste nicht, ob sie aufrichtig war. Zwar war sie
immer ehrlich und stand zu ihrer Meinung – auch wenn das bedeutete,
dass sie jemand anderen damit verärgern konnte – doch konnte
sie nicht zugeben, wenn sie sich gegen ihre eigene Wahrheit stellte.
Sie
war ihr Leben lang ehrlich gewesen, vielleicht
zu ehrlich,
hatte gelernt, die Ehrlichkeit so zu verpacken, dass sie nicht wehtat
und verstand es, andere dazu zu bekommen, aufrichtig zu sein.
Doch
was war mit ihr? Wie oft hatte sie diese Ehrlichkeit, die andere ihr
entgegen brachten so unendlich tief verletzt? Und das, weil sie es
selbst so wollte!
Ihr
war es schon immer wichtig gewesen, dass man absolut ehrlich zu ihr
war. Mehr noch, dass man die Wahrheit sagte und sie ging sogar noch
weiter und erwartete Aufrichtigkeit. Und Aufrichtigkeit ist die
gefährlichste Form der Wahrheit. Sie ist es, die am stärksten
wehtut, am tiefsten vordringt, den meisten Mut erfordert. Die
schwerer wird, je länger man wartet. Denn sie erfordert das, was
am schwersten ist für einen Menschen, nämlich zugeben, dass
man gelogen hat, dass man nicht die Wahrheit gesagt hat.
Aber
wieso nur konnte sie es nicht? Wieso konnte sie nicht zu ihrer
Wahrheit stehen? Wieso konnte es ihr nicht ein einziges mal egal
sein, was andere dachten, was andere fühlten, wieso konnte sie
nicht ein einziges Mal ihre eigenen Gefühle beachten, ihren
Verstand ausschalten, der ihr immerzu sagte, dass es falsch sei, dass
es Leid brächte, dass sie nicht konnte, nicht durfte und
stattdessen auf ihr Herz hören? Gerade heraus sagen, was sie
dachte, was sie fühlte. Was sie ehrlich und aufrichtig für
die Wahrheit befand.
Die
Antwort war recht simpel; weil sie sie nicht kannte!
Und
plötzlich traf es sie wie ein Blitz. Sie stand wie zu Eis
erstarrt dar, ihre Haare fielen ihr in nassen Strähnen ins
Gesicht. Langsam wanderten ihre Augen empor und sie legte den Kopf in
den Nacken. Sie lauschte dem Prasseln und beobachtete den Regen. Sie
wusste von einer Sekunde zur anderen, was ihre Wahrheit war, erkannte
sie in den kleinen, Millionen Regentropfen, deren einzige Bestimmung
es war, zu fallen. Fallen aus dem Himmel, fallen auf die Erde mit dem
Ziel, dort irgendwo aufzukommen und zu zerplatzen.
Ein
einziger Tropfen konnte nichts ausrichten, würde allerhöchstens
einen winzigen Punkt hinterlassen, doch mit anderen zusammen war er
stark genug, einen ganzen Ozean zu füllen, Leben und
Fruchtbarkeit zu bringen. Gemeinsam.
Sich
fallen lassen. Sagen, was man fühlt. Zugeben, allein nicht
weiterzukommen. Sie war davor weggelaufen, weggelaufen vor der
einzigen Person, der sie die Wahrheit, ihre Wahrheit sagen
konnte. Weggelaufen vor dem einzigen Menschen, dessen Wahrheit sie
nicht hatte verkraften können, dessen Ehrlichkeit und
Aufrichtigkeit sie nicht hatte standhalten können. Weggelaufen
vor ihrer eigenen Wahrheit, aus Angst, dass sie sie ihm hätte
sagen können. Hinein in den Regen, der ihr Schutz bot indem er
sie davor bewahrte, ihre Maske vor anderen fallen zu lassen und somit
die einzige und richtige Wahrheit zu entblößen, und der
ihr half, ihre Stärke zu wahren und der nun plötzlich alles
so klar und einfach machte.
Vor
ihr stoben die Wolken auseinander, der Regen hörte langsam auf
und ein dünner Sonnenstrahl drang hindurch und berührte
sanft den durchnässten Boden zu ihren Füßen, wurde
breiter und erfasste die Baumkronen, die Tropfen auf den Blättern
glitzerten im Licht und schienen fast zu strahlen. So, wie es nun in
ihr strahlte.
Es
war, als wäre mit der Wolkendecke auch etwas in ihr geöffnet
worden, was sie ihre Wahrheit hatte greifen lassen. Ein Lächeln
umspielte ihre Lippen. Endlich konnte sie dazu stehen, zu dem einzig
Wahren, was zählte.
„Ich
brauche ihn!“ sagte sie leise, als die Sonne um ihren Körper
tanzte.
Dieser Text war mein Beitrag des Literaturwettbewerbes 06/07 zum Thema "Wahrheit".
Ich habe den dritten von vier Plätzen belegt :)
Was mir aber gefehlt hat ist konstruktive Kritik, ob nun positiv oder negativ, einfach eine Meinung. Klar, dass ich gewonnen hab sollte mir schon zeigen, dass es wohl einigen gefallen hat, aber ich halte sehr viel von ehrlicher Kritik! Avelina Riru, Anmerkung zur Geschichte