Der alte Mann lächelte, während er an das Leben dachte, das nun zuende ging. Die unzähligen Lachfalten vermischten sich auf seinem Gesicht mit den ebenso unzähligen Falten, die Kummer und Sorgen darin eingebrannt hatten. Obwohl der alte Mann müde war und dem Tod nun Auge in Auge gegenüberstand, erinnerte er sich an die vielen schönen Momente seines Lebens. Er erinnerte sich an winzige Augenblicke des Glücks, die Jahre der Trauer und des Unheils auslöschten und vergessen machten. Er sah die Menschen vor sich, die er liebte. Er sah sie kommen – und sah sie gehen. Kommen und gehen...
Nun war es für ihn an der Zeit, zu gehen.
Der Tod, der geduldig wartete, bis der alte Mann zum Gehen bereit war, schwieg. Die wenigen Minuten, die er warten musste, waren ein Nichts im Vergleich zur Ewigkeit, der er diente.
„Tod...? fragte der alte Mann plötzlich. „Tod? Kannst Du mir sagen, weshalb ich nun mit Dir gehen soll? Ich weiß, dass ich alt bin und ein erfülltes Leben hatte. Und doch interessiert es mich. Warum? Warum sterbe ich? Warum sterben überhaupt Menschen?“
Er war es nicht gewohnt, dass man Gespräche mit ihm führte. In den meisten Fällen zeigte er auch keine Geduld, wenn man ihm partout nicht folgen wollte. Irgendetwas an dem alten Mann ließ ihn jedoch auf die Frage eingehen.
„Du stirbst, weil Deine Zeit um ist. Für alle Menschen gibt es eine begrenzte Zeit. Ist sie um, komme ich, um meine Arbeit zu machen. Mal komme ich früh und mal komme ich spät.“
Noch immer lächelte der alte Mann. Es kam ihm wirklich nicht darauf an, Zeit zu schinden. In Gedanken hatte er sich längst verabschiedet. Nur die Neugier, die ihm eigen war, seit er das Licht der Welt erblickt hatte, war der Grund für seine Fragen.
„Wenn das so ist, Tod, ist alles in unserem Leben vorherbestimmt? Schon in dem Moment, wo wir geboren werden, steht irgendwo geschrieben, wann wir sterben müssen?“
„Es ist komplizierter, alter Mann. Du hast nicht die Zeit, es zu verstehen. Bist Du nun bereit, mir zu folgen? Ich habe noch sehr viel zu tun, wie Du Dir wohl denken kannst!“
„Natürlich, Tod. Verzeih mir bitte! Ich bin nur ein alter Mann, der nicht glauben will, dass wir Menschen nur geboren werden, um sterben zu müssen. Du verstehst doch, dass ich das nicht so einfach glauben kann, oder?“
„Es ist nicht so, dass Ihr sterben müsst, weil Ihr gelebt hat. Es ist vielmehr so, dass Ihr leben müsst, weil Ihr sonst nicht sterben könntet. Ich sagte Dir ja, dass es etwas komplizierter ist, als Du dachtest! Können wir nun aufbrechen?“
So kompliziert erschien es dem alten Mann gar nicht. Dann war also nicht das Leben das Ziel, sondern das Sterben? Hieße das nicht aber auch, dass das eigentliche Leben erst nach dem Tod begann, da es sonst eine himmelschreiende Ungerechtigkeit wäre, geboren zu werden?
„Verzeih mir! Ich bereite Dir Schwierigkeiten, nicht wahr? Darf ich dir noch zwei Fragen stellen, bevor ich dann friedlich sterbe? Nur zwei kurze Fragen, die Dich bestimmt nicht lange aufhalten werden?“
„Zwei Fragen. Ich werde sie beantworten, sofern ich denke, dass Du die Antworten verstehen kannst!“
„Führst Du mich in die Geburt oder ins Nichts?“
„Ich führe Dich dorthin, wo die Antwort auf diese Frage irrelevant ist.“
„Diese Antwort ist keine Antwort, Tod. Ins Nichts – oder in einen neuen Anfang...?“
„Es wird weitergehen, alter Mann!“
„Und nun meine zweite Frage, Tod. Muss ich mich vor dem fürchten, was mir bevorsteht?“
„Da, wo es weitergeht, lebt keine Furcht!“
„Also muss ich mich nicht fürchten?“
„Du bist ein hartnäckiger alter Mann.“
„Stimmt. Muss ich mich fürchten...?“
„Ja! Du musst Dich fürchten, solange Du lebst. Danach gibt es keine Furcht mehr. Es gibt dann für Dich nur noch den Schmerz, der kein Ende findet.“
Das Lächeln auf dem Gesicht des alten Mannes erstarrte. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Im gleichen Augenblick, als er begriff, dass er für seine Taten ewig sühnen musste, verkrampfte sich sein Herz. Das letzte, was er fühlte, war eine Angst, die furchtbarer nicht sein konnte. Er wollte schreien – aber der Tod hielt ihn bereits fest umklammert...
Der Mann, der den Tod tausender Menschen zu verantworten hatte, war tot.
Oder...?
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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Kein Leben hinter mir: Trauma oder Irrsinn
von Klaus-D. Heid
Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.
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