Monika Peter

Paula

September 1930, morgens sechs Uhr dreißig.
Paula und Leni packen sich gegenseitig die Schulranzen auf den Rücken. Die Mutter hat die Milchkanne mit ihrem Mittagessen schon in ihre abgeschabte Tasche gesteckt und geht nun mit den Mädchen aus dem Haus. Sie arbeitet in einer Weberei und hat einen 30-Minuten-Marsch vor sich. Hartl, der Vater arbeitet in einem Steinbruch. Weil die Hitze dort tagsüber unerträglich ist, fängt er an, sobald es hell ist.
Die Vier wohnen ineinem kleinen Häuschen mitten im Ort, mit einem winzigen Garten, den der Vater hegt und pflegt. Manchmal ist auch noch der halbblinde Großvater bei ihnen, der liebevoll "Ähle" genannt wird.
Die Kinder sind tagsüber in einem Kinderheim und bekommen dort ein Mittagessen. Manchmal müssen sie auch kleine Botengänge erledigen. Erst um 17 Uhr 30, wenn die Eltern wieder zu Hause sind, gehen sie heim.
Es ist eigentlich ein Waisenhaus und wird von Franziskanerinnen geleitet. Gleichzeitig ist es aber auch ein Kindergarten, in dem die "Fabrikkinder" untergebracht sind. Viele Frauen arbeiten in der nahegelegenen Weberei. Es ist praktisch die einzige Möglichkeit für sie in der Gegend Geld zu verdienen. Da sie aber fast 12 Stunden außer Haus sind, wären ihre Kinder unversorgt. Deshalb ist das "Asyl" für viele Familien ein  großer Segen.
Das Haus, in das Leni und Paula nun gehen gehörte früher, wie ihr Heimathaus zu einer Vogtei. Es ist ein großes, hohes Gebäude mit einer mächtigen Tür. Sie ziehen an der Glocke und eine "Schwester" öffnet. Artig grüßen sie mit "Gelobt sei Jesus Christus..." und gehen in einen großen Saal, wo sie sich tagsüber mit den anderen Kindern aufhalten. Die Tür wird abgesperrt und sie setzen sich in eine Ecke. In dem alten Gemäuer knistert und knarrt es, ganz eng rücken sie zusammen und halten sich an den Händen.
Um sieben Uhr fünfzehn sperrt die alte Schwester Roberta wieder auf. Wie jeden Tag gehen die Geschwister mit den anderen Mitbewohnern in die Kirche: Voraus die die Klosterfrauen und dahinter in Zweierreihen die Kinder. Kein Wort ist auf  zu hören, niemand redet und schon garnicht in der Kirche!  Niemand wagt zu flüstern oder gar sich umzuschauen. Sonst saust nachher der Tatzenstecken auf die Hände, die Frau Oberin sieht nämlich alles. Paula hat das schon einige Male erfahren müssen, aber heute kniet sie ganz still in ihrer Bank - sie betet um Beistand....
 
 
Es ist der erste Schultag. Leni freut sich schon seit Tagen darauf,sie ist eine gute Schülerin und hat in den Ferien wieder ein ganzes Heft vollgeschrieben. Bestimmt bekommt sie heuer wieder einige "Fleißbildla".
Das flüstert sie ihrere Schwester auf dem Weg zur Schule zu. Paula seufzt tief und schickt noch ein Stoßgebet nach oben.
Hoffentlich hilft ihr einer von dort....
 
Die Schule ist ein großer dunkelgrauer Bau mit hohen Fenstern und einer schwarzen runden Flügeltür.
Die Klassenzimmer sind große Säle, in denen immer zwei Klassen unterichtet werden. Das ganze Haus hat einen eigenartigen Geruch nach Kreide, Bohnerwachs und Latrine.
Paula hält den Atem an, als sie mit der Schwester Hand in Hand den Raum betritt.
Leni kommt diese Jahr in die vierte Klasse, die Zehnjährige ist ein wissbegieriges, fleißiges und ordentliches Mädchen. Ihre Schiefertafel war noch nie zerkratzt, die Griffel immer gespitzt, der Tafellappen sauber und nie sind ihre Holzstifte abgebrochen.Sie hat eine schöne Schrift und macht jede Hausaufgabe vorbildlich und in Handarbeiten hat sie die Note eins. Sie erledigt alle Aufgaben mit großem Ernst und Eifer. Nie käme sie mit schmutzigen Händen zum Unterricht oder mit zerzausten Haaren. Sie hat ein rundes, ernsthaftes Gesichtchen und die dunklen Haare sind an den Seiten zu Schneckzöpfen geflochten.
 
Paula ist nur elf Monate jünger und das ganze Gegenteil  ihrer braven Schwester. Sie hasst die Schule und alles was damit zu tun hat. Hausaufgaben machen und lernen sind ihr ein Greuel und sie versucht alles, um den unangenehmen Pflichten zu entkommen. Die strengen Klosterfrauen haben ein Auge auf Paula geworfen  und verhindern so manchen Ausbruch. Aber ihr gelingt es immer wieder, einige Stunden zu entkommen.
Und trotzdem ist der kleine Frechdachs bei allen beliebt.
Sie hat helle Augen und tausend Sommersprossen in einem herzförmigen Gesicht. Die dunkelbraunen Haare kämmt die Mutter jeden Morgen zu zwei festen Zöpfen, aber davon sieht man nach einigen Stunden nichts mehr, die Strümpfen rutschen immer und an jeder Schürze ist nach kurzer Zeit ein Fleck...
Wenn die gutmütige Leni der Kleinen nicht immer wieder helfen würde, wäre der Schulalltag noch schlimmer, als er schon sowieso ist.
Paula ist immer in Bewegung - sie hüpft uns plappert den ganzen Tag. Der "Ähle" sagte neulich zu seiner Tochter Walli: "Deinr Paula muas ma amol d` Gosch egschdra doadschlaga..." Dabei liebt er seine kleine Enkeltochter über alles.
 
Aber heute am ersten Schultag ist sie ungewöhnlich ruhig. Leni schaut sie von der Seite streng an und fragt: "Hasch du ebbes?"
"Hm, hm..." Paula schüttelt den Kopf und seufzt. Leni ahnt, dass heute noch etwas auf sie zukommt. Denn sie als große Schwester leidet natürlich mit, wenn die Kleine Probleme bekommt, zumal sie ja in einem Raum sitzen, sie schämt sich auch auch oft für deren Übeltaten. Und wenn Paula so ein Gesicht macht, wirds meistens schlimm!
 
Die Zwei sitzen wie jedes Jahr neben ihren besten Freundinnen; Paula neben Anna und Leni neben Berta.
Das Fräulein Lehrerin hat das gleiche Kleid an wie vor den Ferien: Grau mit einem weißen Kragen und dunkelgrauen Ärmelschonern, die bis zu den Ellbogen reichen. Sie hat die Haare zu einem Knoten gebunden und ist eine hagere, strenge Frau.
Paula sitzt ganz vorn, weil sie die Kleinste ist. Das passt ihr natürlich gar nicht. Sie säße am liebsten ganz hinten, wo sie nicht so leicht zu sehen wäre.
 
Am letzten Schultag vor den Ferien wurde den Kindern empfohlen Fleißaufgaben zu machen. Das würde dann am ersten Schultag belohnt. Und zwar mit  heißbegehrten bunten Bildchen, den Fleißbildchen. Leni und Berta haben die meisten, Paula und Anna die wenigsten, Paula hat sogar nur ein einziges...Aber das wird sich heute ändern!
 
 
Natürlich bekommt man das begehrte Objekt nur, wenn man etwas vorweisen kann. Und je mehr man hat, um so mehr bekommt man. Für ein vollgeschriebenes Heft - egal ob Rechnen oder Schreiben - bekommt man fünf Stück!!!
Heuer will Paula auch so eine Ehre!
 
Leni zeigt der Lehrerin ihre Fleißarbeit, sie hat ganz rote Bäckchen  über das Lob und darf sich fünf Bildchen aussuchen. Sie sortiert sie gerade in ihre "Bildleschachtel", als sie als ihre Schwester mit einem Heft nach vorne gehen sieht. "Wann hat die denn das geschrieben", denkt sie "Die hat doch in den ganzen Ferien nicht einmal einen Bleistift angefasst..."
Und dann wird sie wieder rot, aber diesmal vor Schreck: Sie kennt das Heft....
 
 Paula steht stolz vor der überraschten Lehrerin und streckt ihr ein vollgeschriebenes Heft entgegen.
"Das hast DU in den Ferien geschrieben...?"
Paula nickt heftig...
"WIRKLICH...?"
Paula schluckt und nickt wieder.
Das Fräulein schlägt eine Seite auf und schaut entgeistert auf ihre Schülerin.
"PAULA! WER hat das geschrieben!?"
 
Leni möchte am liebsten im Erdboden versinken, SIE weiß wer das geschrieben hat... diese verflixte Paula.
Die sagt jetzt gar nichts mehr, nur die Löckchen zittern. Sie zeigt auf mit rotem Kopf auf Leni ...
Dann prasselt eine Strafpredikt auf die Sünderin nieder und statt der fünf Fleißbildchen, bekommt sie fünf Tatzen mit dem neuen Tatzenstock.
 
Dass sie in der Pause nicht zu den anderen darf, ist ihr gerade recht. Denn den Spott der Mitschüler und die Augen der Schwester kann sie jetzt nicht ertragen.
Und zur Strafe muß sie auch noch das  ganze Heft abschreiben, es war das Fleißaufgabenheft von Leni - vom letzten Jahr....
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Monika Peter).
Der Beitrag wurde von Monika Peter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.02.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Monika Peter als Lieblingsautorin markieren

Buch von Monika Peter:

cover

Das Leben geht weiter... sagen sie ... von Monika Peter



Es handelt um Fragen, Antworten, Gefühle... ausgesprochen von einer Frau, die unfassbares Leid erfahren und erlebt hat. Monika Peter hat vier ihrer fünf Söhne verloren und schildert mit einfachen, klaren Worten ihre Gefühls- und Gedankenwelt - ihr Leben danach.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Kindheit" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Monika Peter

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

"Eckes Edelkirsch"... von Monika Peter (Leben mit Kindern)
Russisch Brot von Norbert Wittke (Kindheit)
Befreiungsschläge von Elke Lüder (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen