Dietmar Wessel

Eiszeit

„Zwei Kugeln mit Sahne, Schokolade and Straciatella.“ Bei diesem herrlichen Sonnenschein konnte ich mein Eis so richtig genießen.
„Mensch, was geht es mir gut“, dachte ich zufrieden, als ich durch die Stadt Richtung Parkplatz schlenderte, um meine Einkaufstasche im Auto abzulegen.
„Wissen Sie, junger Mann, dass Sie auf einem Behindertenparkplatz stehen?“, sprach mich in vorwurfsvollem Tonfall ein älterer Herr an.
„Ich weiß, danke, ich habe eine entsprechende Berechtigung“, entgegnete ich freundlich.
„Wenn Sie schwerbehindert sind, bin ich der Kaiser von China“ bekam ich zu hören.
Ärger stieg in mir hoch..wieder einmal..nur weil mein Parkinson mir mal eine Stunde Ruhe lässt, muss ich mich so behandeln lassen?
Ich wollte mir meine gute Stimmung nicht verderben lassen und ging wortlos weiter, um mich am nahen Bach auf eine Bank zu setzen und mein Eis zu Ende zu essen.

Zufällig traf ich dort einen Bekannten. „Siehst aber gut aus, das Rentnerleben bekommt Dir offensichtlich. Nun denn, guten Tag noch, ich muß wieder zur Arbeit, haben es nicht alle so gut wie Du....“
„Nicht ärgern“ sagte ich mir, schloß die Augen und döste in der Sonne..

E mögen so 20 Minuten vergangen sein, da wurde mir kalt...die Sonne schien noch...es kam von den Füßen...“Oh nein, nicht schon wieder, ich habe doch noch eine Stunde Zeit bis zur nächsten Medikamenteneinnahme..Ja, Tabletten hatte ich bei.. Ein Getränk war im Auto...

Ich versuchte aufzustehen...nichts...meine Beine gehorchten nicht..ich kam nicht hoch.. Ich presste mich gegen die Rückenlehne und versuchte mich abzustützen...ich sackte wieder zurück...

Eine ältere Dame kam mit ihrem Hund vorbei und bemerkte meine Bemühungen.
„Kann ich helfen?“
„Ja bitte, ich habe Parkinson und bin gerade blockiert. Wenn Sie mir hochhelfen könnten....?“

„Gerne“, sagte sie mitleidsvoll, so jung und schon Parkinson...“

Da stand ich nun, zwar gebeugt und mit hängenden Armen, aber immerhin stand ich. Diese Position hatte umgehende Wirkung. Ich bekam einen starken Blasendrang. Ich weiß, daß dies auch mit der Krankheit zusammenhängt, aber trotzdem....Panik stieg in mir hoch...Am Parkplatz war eine öffentliche Toilette, vielleicht 50 Meter entfernt...so nahe und doch so fern...

Ich wollte gehen...es ging nicht...Ich bat die ältere Dame, doch einen Fuß vor meinen Fuß zu stellen, als Starthilfe...es funktionierte...1, 2, 3. 5, 8 Schritte und Blockade..mitten auf dem Parkplatz...

„EISZEIT! FREEZING! BLOCKADE!“

„EISZEIT! FREEZING! BLOCKADE!“

Die Worte tanzten vor meinen Augen...ich musste die Toilette am Parkplatzrand erreichen..ich musste etwas trinken, um die Tabletten zu schlucken..

„Toilette...Trinken...Tablette….Toilette...Trinken...Tablette..“ sagte ich mir vor..

Hinter mir hupte ungeduldig der Wagen..ich stand im Weg...angefroren..gebeugt, konnte den Kopf nicht wenden...

Ein junger Mann kam mir entgegen.
„Probleme? Was geht ab hier?“

Wieder meine Erklärung und Bitte um Hilfe mit dem Fußtrick...

1, 3, 6, 9, 15 Schritte...ich war am Toilettenhäuschen und bekam Erleichterung...

Nun zum Auto..mit letzter Kraft schleppte ich mich hin, zwängte mich auf den Sitz und trank etwas aus der Flasche, um meine Tabletten runter zu bekommen...Ich war fertig...Tränen stiegen mir in die Augen..

So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt..ich sinnierte..

Wie Ikarus wollte ich fliegen, hoch hinaus, in höhere Sphären, adlergleich, dort wo die Luft dünner ist und die Sicht klarer, elegant wollte ich meine Kreise im Leben ziehen, über den Problemen weit unten schweben...Nein ich wollte nicht die manchmal stickige Luft der Mühseligen und Beladenen atmen...

Ich wollte wie ein Delphin im offenen Meer pfleilschnell und eine weiße Gischt vor mir herführend die Wellen durchschneiden..mit den Elementen spielerisch und geschmeidig umgehen..dem Horizont und dem roten Sonnenuntergang entgegen..
Nein, nicht wie eine Schildkröte sowohl an Land als auch im Wasser langsam und mühsam mich bewegen..

Nein, Langsamkeit war nicht für mich geplant...mit einem starken Motor ausgestattet wollt eich auf der Überholspur des Lebens dahingleiten, klimatisiert, von den Geräuschen und Unebenheiten des Lebens komfortabel abgeschirmt, auf breiten Straßen reisen...
Nein, nicht auf unebenen Geländewegen jedes Schlagloch spüren in einem klapprigen Fahrzeug, und dann noch stecken bleiben...

Wie ein Adonis wollte ich schön und kraftvoll mich den Unbillen des Lebens entgegestemmen, erfolgreich, beliebt und bewundert werden, ein „winner“ sein...Nicht hilflos von älteren Damen auf die Beine gestellt werden und unbeholfen zum Auto stolpern...

Ein Musiktitel riß mich aus den Gedanken. „It’s my way“ von Frank Sinatra…Ja, das ist mein Weg, den ich zu Ende gehen muß..zum Glück nicht allein..ich hatte meine Partnerin…Schmerzlich musste ich daran denken, dass auch Sie soviel unter meiner Krankheit litt....einige Verse kamen mir in den Sinn...ich notierte sie:

Gestern

Ich denke immer noch an gestern
Und alles erscheint mir so klar
Du warst immer neben mir
Und ich hielt Dich so nah.
Du hast mir soviel gegeben,
aber das Gestern ging so schnell vorbei
Ich will' heute auch leben
Bevor mein morgen ist vorbei.

Wenn ich spreche kannst Du mich kaum verstehn,
mein Lächeln ist mir nur schwerlich anzusehn.
Und nun gehe ich hinter Dir her,
mein Gang ist schlurfend, die Beine wollen nicht mehr.
Aber ich kann Dir noch viel Liebe geben
Obwohl, es ist jetzt ein anderes Spiel
Es kommt noch immer von Herzen
Jedoch kann mein Körper nicht mehr viel.

Wenn ich in einer Position festfriere,
brauche ich Deine Hilfe, Deine Liebe,
Ich nehme mir fest vor, ganz sicher zu geh'n
ich will es versuchen, auch wenn die Leute mich merkwürdig ansehn.
Ich bin bemüht, mich nicht zu auffällig zu benehmen,
ich hoffe nur, Du wirst Dich wegen mir niemals schämen.

Wenn dann das letzte Kapitel ist vorbei,
ist es Zeit für den Abschied, Zeit zu sagen "good-bye"
Aus dem Gefängnis meines Körpers werde ich lächeln,
und ganz ohne Tränen,
voll Dankbarkeit Dich anschauen
mich nach einer letzten Umarmung dann sehnen.

Wir beide werden wissen und der Gedanke tut gut,
wir haben Liebe gegeben und manchem auch Mut.



Hier stoppte ich und schaute in den Rückspiegel. „Noch ist es noch nicht so weit, Adonis“, und lächelte mir selbst zu.
Bei den letzten Zeilen hatte ich schon so ein Prickeln in den Füßen gespürt, mehr als 30 Minuten waren seit der Tabletteneinnahme vergangen. Ich wartete noch einige Minuten, stieg dann aus und ging problemlos einmal um den Wagen. Zeit nach Hause zu fahren, dachte ich mir.
Ich summte vor mich hin „It’s my way“ und fuhr nach Hause.

Dietmar Wessel

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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