Yvonne Habenicht

Ein Mann muss her

Kennen Sie das? Da steht man plötzlich morgens vor dem Spiegel und fragt sich: War's das nun schon? Jedes einzelne Fältchen und jedes graue Härchen, das aus dem getönten Haar springt, scheint einen bösartig anzugrinsen. So ging's mir an jenem Sonntagmorgen. Ich war wütend, so früh wach geworden zu sein. Vor mir lag ein endlos langer, freier Tag. Draußen schien die Sonne, und ich hatte dieses Spiegelbild vor Augen, das, wie es mir schien, höchstens als abschreckendes Beispiel gut war.
Lustlos stellte ich mich unter die Dusche, überlegte, ob ich mich wenigstens ein wenig schminken oder einfach auf weitere Blicke in den Spiegel verzichten sollte. Ich entschied mich für Letzteres, bereitete Kaffee und holte die Zeitung herein. Sonntage sind in der Regel recht eintönig. Ich las die Zeitung beim Frühstück, quälte mich anschließend manchmal durch eine wenig unterhaltsame Musiksendung im Fernsehen, sichtete meinen Kleiderschrank, sofern ich vorhatte, einen Spaziergang zu machen, überlegte, ob ich mir ein Essen kochen sollte, ließ es meist sein, tat dies und jenes Nötige und Unnötige und erwartete den Abend, der oft wieder vor dem Fernseher stattfand.
Anfangs, nachdem meine Ehe in die Brüche gegangen war, gefielen mir meine Wochenenden, schließlich hatten Ulli und ich an Wochenenden meist gestritten oder uns angeschwiegen. Jetzt ödeten mich freie Tage häufig an. Sibylle, du musst etwas unternehmen, sagte ich mir, du wirst langsam aber sicher immer älter. Irgendwann wirst du eine einsame Rentnerin, und dann ist jeder Tag so ein Sonntag. Willst du das wirklich?
Natürlich war der Gedanke nicht neu, mich wieder nach einem Mann umzusehen. Rita, meine Freundin, lag mir dauernd in den Ohren, indem sie mir diesen und jenen aus ihrem umfangreichen Bekanntenkreis vorschlug. Nur hatte ich bis dahin immer gemeint, es hätte eigentlich noch Zeit. Im Grunde saß mir noch die Erinnerung an meine öde Ehe im Nacken. An diesem Sonntag jedoch hatte ich ein Gefühl, das man wohl weithin als Torschlusspanik bezeichnet. Immerhin wurde ich in zwei Jahren fünfzig, ein Gedanke, der mir gar nicht gefiel.
Es war also bestimmt kein Zufall, dass ich diesmal bei der Seite mit den Bekanntschafts- und Heiratsannoncen stecken blieb. Angucken schadete ja nichts. Niemand sah mich dabei und dachte vielleicht: na, die hat's nötig. Es waren herzlich wenig Anzeigen, die mir auch nur ansatzweise interessant erschienen. Einige Kandidaten priesen sich als so unwiderstehlich an, dass ich mich fragte, wieso sie ein Inserat nötig hatten. Andere waren zu jung, zu alt und schon vom Stil der Anzeige undiskutabel.
Schließlich dachte ich, wenn ich nun schon so weit sondiert hatte, konnte ich mich auch hinsetzen und die wenigen Chiffrenummern, die in Frage kamen, anschreiben. Es waren genau drei. Es kostete mich einige Überwindung die Briefe auszudrucken, mit Fotos zu versehen und in Kuverts zu tüten und noch mehr Überwindung, mich zurechtzumachen, anzuziehen und die Dinger in den Briefkasten zu stecken. Mal sehen, was draus wurde. Sehr zuversichtlich war ich nicht, redete ich mir jedenfalls ein. Trotzdem schloss ich in den folgenden Tagen meinen Briefkasten mit gewisser Spannung auf. Ich will auch nicht verschweigen, dass ich meinen Entschluss durch eine neue Frisur und ein paar sündhaft teure Klamotten krönte. Ich sagte mir, wenn ich nicht mal mir selbst gefiel, wem sollte ich wohl dann ins Auge stechen.
Der erste Brief kam von einem Automobilverkäufer. Das Bild sah recht ansprechend aus. Der Briefstil war nicht ganz mein Fall - zu burschikos - aber ich wollte zumindest an die beigefügte Email-Adresse eine Antwort schicken. Der zweite Brief kam einen Tag später. Beim Beschauen des Fotos fragte ich mich, ob meine zierlichen Sitzmöbel diesem Kandidaten wohl gewachsen wären, es war schon erstaunlich genug, dass ein einziges Foto noch ausreichte, seine Körperfülle aufzunehmen. Der schied auf jeden Fall aus. Na ja, höflicherweise wollte ich eine nette Absage erteilen. Nummer drei war der letzte Brief. Er kam erst zum Ende der nächsten Woche, als ich schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte. Das Foto sah sehr passabel aus, es war ein Finanzbeamter in Pension. Die Anzeige hatte mir schon in der Zeitung am besten gefallen. Er hatte eine lebensfrohe, tierliebe Dame zum näheren Kennenlernen gesucht, sich selbst als natur- und tierliebend beschrieben, erwähnt, dass er auch kulturell interessiert sei. Das Foto zeigte übrigens nicht nur den Mann, sondern auch einen wuscheligen Hund, den er sein Eigen nannte. Er schrieb unter anderem, dass der Hund inzwischen größer sei. So gut kenne ich mich mit Hunden nicht aus. Ich konnte auf dem Bild jedenfalls nicht ausmachen, ob es was Echtes oder eine Promenadenmischung war. Das spielte aber keine Rolle. Eigentlich mag ich Tiere sehr gern, mir fehlt nur die Zeit, selbst eines zu halten. Der Brief war sehr korrekt, klar pensionierter Beamter, aber dennoch nett gehalten. Eine Telefonnummer war beigefügt, mit der Bemerkung, ich sei die einzige der Damen, die geschrieben hätten, der er sie mitteile. Das schmeichelte mir.
Nach zwei Gläsern Wein hatte ich am Abend endlich den Mut, anzurufen. Ich bin nicht geübt, wildfremden Männern mitzuteilen, dass ich sie kennen lernen will. Der Telefonpartner nahm mir einen Teil meiner Scheu, wir kamen recht nett ins Gespräch. Am Ende verabredeten wir uns für den folgenden Sonntag.
Am Samstag davor hatte ich ein Treffen mit dem Autoverkäufer vereinbart. Aufgeregt wie ich war, vergaß ich erst die Autoschlüssel in der Wohnung, verfuhr mich anschließend und wurde am Ende noch geblitzt wegen überhöhter Geschwindigkeit, weil ich versuchte, noch einigermaßen pünktlich zu kommen. Die Hetze hätte ich mir sparen können, auch das gekonnte Make-up und das neue Kostüm. Als wir uns nach fast drei Stunden in einem Café trennten, bezweifelte ich, ob er hinterher überhaupt wusste, wie ich aussehe. Mir für meinen Teil schwirrte der Kopf, denn der Mann hatte mit dem niederschmetternden Tempo eines Maschinengewehrs auf mich eingeredet. Frage mich niemand, was er alles erzählte. Vielleicht verwechselte er mich mit einem Kunden, dem ein Auto aufzuschwatzen war, das der gar nicht wollte. Ich kam heim und atmete auf: dann doch lieber ein Abend vor dem Fernseher, den kann ich wenigstens ausschalten.
Nach diesem Erlebnis hatte ich am Sonntag kaum die richtige Motivation für ein weiteres Treffen. Ich erwartete sicherheitshalber eine ähnliche Enttäuschung. Am Telefon war immerhin Nummer eins auch nicht so erschreckend redselig gewesen. Doch der Pensionär entpuppte sich auch persönlich besehen als angenehm. Ein bisschen Kavalier der alten Schule. Außerdem entschädigte er mich für den vorigen Nachmittag mit einigen Komplimenten. Wir saßen in einem Kaffeegarten. Er war Witwer, schon seit fast sechs Jahren, lebte mit seiner Tochter und deren Mann in einem Haus etwas außerhalb der Stadt. Den Hund hatte er nicht dabei, schilderte mir aber in den höchsten Tönen, was für ein intelligentes, liebes Tier der Timmi sei. Nach einem anschließenden Spaziergang lud er mich für den folgenden Samstag zu sich ein.
Mein ramponiertes Selbstbewusstsein war wieder im Lot. Das fiel offenbar auch im Büro auf, denn mein Kollege meinte: "Sybille, Sie sind ja heute so fröhlich. War wohl ein besonders schönes Wochenende?" Das Wort "besonders" betonte er ziemlich anzüglich.
Ich nickte und bemühte mich, weniger auffällig fröhlich zu wirken. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt. Trotzdem begann ich, mich richtig auf den Samstag zu freuen.
Herr Klein, der eigentlich eher ziemlich groß war, holte mich pünktlich zu Hause ab. Ich hatte mir diesmal ganz besonders viel Mühe mit meinem Outfit gemacht, und zu meiner Freude ließ er das nicht unbeachtet.
Das Haus wirkte hell und freundlich, der Rasen im Garten war frisch gemäht, die Hecken säuberlich gestutzt, Blumenbeete leuchteten in der Sonne. Ein angenehmer erster Eindruck, dem ich mich aber nicht lange widmen konnte, denn es kam ein riesiges Zotteltier auf uns zugestürmt: besagter "ganz lieber Hund". Ich machte einen erschreckten Schritt rückwärts und wäre fast in ein Blumenbeet gefallen, aber auch ohne solches Malheur nahm mein neues Kostüm einigen Schaden, denn das Tier sprang nicht etwa erfreut seinen Herren an, sondern mich. Eine triefende Sabberschnauze hinterließ ihre Spuren auf meiner Bluse und die Pfoten mussten zuvor in schwarzer Erde gewühlt haben. Ich bekam einen Heidenschreck. Der Größe nach zu urteilen musste unter seinen Vorfahren mindestens ein Bär gewesen sein. Der Ansturm hätte mich garantiert umgehauen, wenn Herr Klein mich nicht mit festem Griff gehalten und dem Tier geboten hätte: "Ruhig, Timmi. Ist gut. Platz."
Timmi hielt offenbar wenig davon, anderen seine Gehorsamkeit vorzuführen, falls er sonst gehorsam war. Er ließ lautes, tiefes Bellen ertönen, sprang dann an seinem Herren hoch, der ihn etwas hilflos abzuwehren suchte. Ich fragte mich, wie man mit einem solchen riesigen Temperamentklotz fertig werden sollte. Schließlich gelang es Herrn Klein, das Halsband zu erwischen und Timmi an seiner Seite zu halten.
Besabbert, mit schwarzen Pfotenabdrücken auf dem Rock, bot ich bestimmt nicht den gepflegtesten Anblick, als mich die Tochter und ihr Mann begrüßten. Die Tochter lachte nur: "Ach, hat Timmi Sie gleich richtig begrüßt? Das macht er nur, wenn ihm jemand gefällt."
Es wäre mir lieber gewesen, Timmi nicht zu gefallen. Nachdem ich mich im Bad ein wenig hergerichtet hatte, weshalb Bluse und Rock nun nasse Flecken zeigten, setzten wir uns zum Kaffee auf die Terrasse. Timmi legte sich unter den Tisch, ließ mich aber nicht aus den Augen. Seinen Blick fand ich alles andere als freundlich. Auch Tochter und Schwiegersohn des Herrn Klein schienen mich unterschwellig Maßzunehmen. Na gut, wenn ihr Vater jetzt auf Freiersfüßen ging, konnte man es ihnen vielleicht nicht verübeln.
"Ein hübsches Haus", bemerkte ich und versuchte die Masse Hund unter dem Tisch und die abschätzenden Blicke des Paares zu ignorieren.
"Ja", nickte der Schwiegersohn, "da steckt auch viel Arbeit drin, und viel Geld."
Herr Klein pflichtete ihm bei: "Allerdings. Ohne die Kinder hätte ich es auch nicht halten können. Finanziell vielleicht noch, aber die Arbeit... na, Sie wissen ja, man wird nicht jünger mit den Jahren. So ein Garten, der hält einen auf Trab. Im Haus gibt es auch immer dies und jenes zu richten. Tobias", er nickte in Richtung des Schwiegersohns, "ist ja Tischlermeister, hat eine eigene Werkstatt in der Stadt."
"Schön, wenn man vieles selbst machen kann. Handwerker sind heutzutage teuer", sagte ich. Hoffentlich trat ich damit nicht irgendwie ins Fettnäpfchen.
Doch der Schwiegersohn nickte und seine Frau meinte: "Ja, ohne Tobias sähe es hier nicht so aus. Ist ja ein altes Haus. Als Mutter starb, haben wir alles neu gemacht, die Etage oben ausgebaut und so. Aber zu tun bleibt halt immer was. Den Garten machen vor allem Vater und ich. Manchmal ist das einfach zu viel."
"Das kann ich mir denken, ist ein recht großes Grundstück. Jedenfalls ist der Garten sehr gelungen."
"Doch, kann man sagen", antwortete sie, "war ja mein Fach früher. Ich bin Landschaftsgärtnerin. Aber jetzt habe ich hier genug zu tun, da ist an Beruf nicht mehr zu denken. Aber Sie sind berufstätig, wie Vater erzählte?"
"Ja, Buchhalterin."
"Na, da passen Sie zu Vater. Er war ja beim Finanzamt."
"Das hat er mir erzählt."
Sie nötigten mich zu einem weiteren Stück Kuchen und ich lobte diesen ausgiebig, schließlich war er ein Produkt der Tochter.
Herr Klein lehnte sich in seinen Stuhl zurück und brannte eine Zigarre an.
"Also, wie es scheint, gefällt Ihnen unser kleines Reich, Frau Riedel? Das freut mich. Aber Gundula hat Recht. Es gibt wirklich immer viel zu tun. Gartenarbeit macht Spaß. Manchmal könnte man aber gut ein paar Hände mehr gebrauchen. Sie sind ja auch eine Blumenfreundin und lieben die Natur, wie Sie mir erzählt haben."
Ich horchte auf.
"Ja, das schon. Mit Gärten habe ich allerdings keine Erfahrung. Meine Blumenkünste beschränken sich auf einen Balkon und Grünpflanzen in der Wohnung."
"Der Balkon von Frau Riedel sieht sehr gut aus, muss ich sagen, ich habe ihn von der Straße bewundert, als ich sie heute abholte. Kein falsche Bescheidenheit, Frau Riedel, entweder man hat eine Hand für Blumen oder man hat sie nicht."
"Doch, Freude habe ich schon daran. Allerdings kann ich mich meist nur am Wochenende damit beschäftigen."
"Ja, wenn man arbeiten muss", meinte die Tochter und es klang wie eine Beileidserklärung.
"Mir macht mein Beruf Freude, und wir sind ein sehr nettes Büro", versuchte ich zur Ehrenrettung berufstätiger Frauen beizutragen.
"So? Wie schön", ließ sich der Tischlermeister vernehmen. "Andererseits, ich finde - gerade bei so einem Haus, wie hier - sollte eine Frau doch daheim bleiben."
Tochter Gundula stimmte ihm zu: "Anders wäre es auch nicht zu schaffen."
Herr Klein schlug vor, mir das Grundstück und das Haus zu zeigen. Die Tochter begann eifrig den Tisch abzuräumen.
"Sehen Sie, liebe Frau Riedel, früher war es anders, als meine Frau noch lebte. Soviel haben wir da nicht hergemacht mit dem Garten, obwohl sie sich kaum mal eine ruhige Minute gegönnt hat und ständig auf den Beinen war. Später hat Gundula in ihrer Freizeit viel mitgeholfen, als Margot - meine Frau - krank wurde. Dann hat Gundula geheiratet, und Tobias hat sofort alles in die Hand genommen, den Umbau vor allem. Hat hier auch viel Geld mit rein gesteckt. Die Kinder erben es mal, ist ja nichts verschenkt."
Da sprach der Finanzbeamte. Er führte mich durch das Haus, das wirklich tipptopp ausgebaut und renoviert war.
"Und das ist mein Reich", erklärte Herr Klein und zeigte mir die Wohnung in der oberen Etage. Zwei geräumige Zimmer, Stilmöbel, ein großes Bad.
"Die Kinder haben die Räume unten bekommen, weil da die große Küche ist. Na, und wenn mal Nachwuchs kommt, dann poltern die Kinder nicht immer die Treppe rauf und runter."
"Ist Ihre Tochter schon lange verheiratet?"
"Was man so lange nennen kann. Fast sieben Jahre. Ich war 34 Jahre verheiratet. Übrigens, das mit dem Herrn Klein ist so steif. Nennen Sie mich doch Erwin."
"Einverstanden. Ich bin Sybille, aber das wissen Sie ja. Hübsch haben Sie es hier, und der schöne Blick auf den Garten."
"Nicht wahr? Aber ich bin es langsam müde, allein zu sein. Margot hätte das verstanden. Gundula macht sich auch verrückt hier mit der ganzen Hausarbeit, und ich bin abends so viel alleine. Man will ja nicht immer den Kindern auf die Nerven gehen."
"Das verstehe ich."
Im Stillen begann ich mich zu fragen, was er nun suchte. Jemanden, der sich wie die dahingeschiedene Margot, keine ruhige Minute gönnte und die arme Gundula entlastete? Die Wendeltreppe bebte, als das mächtige Tier heraufgestampft kam und sich mit größter Selbstverständlichkeit auf das Doppelbett plumpsen ließ.
Erwin schmunzelte und klopfte dem kalbsgroßen Zottelhund den Hals: "Das kann ich ihm nicht abgewöhnen. Als er klein war, durfte er ins Bett, und dann war er nicht mehr wegzukriegen. Na, Dicker, wenn wir mal ein Frauchen haben, musst du dich dünner machen."
So, dünner machen. Das Herrchen ging also davon aus, man würde zu dritt in diesem Bett schlafen. Eine solche Aussicht fand ich wenig verlockend. Ich rechnete mir gerade aus, wie viel Platz für zwei Menschen neben diesem Tier bleiben würde.
"Er schläft also immer in Ihrem Bett?"
"Ja, ja. So lange ich allein war, spielte es keine Rolle. Man ist dann nicht so einsam, nicht wahr."
Ich schluckte die Antwort, dass er es doch dann besser dabei lassen sollte, schnell hinunter.
Später saßen wir alle wieder zum Abendessen unten im kleinen Esszimmer beisammen. Gundula spielte die perfekte Hausfrau und ihr Mann den nonchalanten Gastgeber, während der Vater in ständigen Lobreden über die "Kinder" erging.
"Also, wir finden es schön, dass Vater mal eine Frau mit ins Haus bringt. Wir haben ihm so lange zugeredet mit der Annonce", sagte die Tochter.
Ihr Mann stieß ins gleiche Horn.
"Natürlich. Er ist doch noch lange nicht vom alten Eisen. Es ist doch nichts für einen Mann, so alleine. Und für meine Frau ist es auch nicht einfach, wenn sie immer zwei Männer versorgen muss."
"Nicht doch", wehrte seine Frau ab, "das mache ich ja gern. Aber Vater ist zu viel allein. Tobias hat die Firma, ich habe hier von früh bis spät zu tun."
"Immerhin ist da noch Timmi", konnte ich mir nicht zu sagen verkneifen.
Gundula lachte: "Ach ja, unser Timmi. Vaters Begleiter bei seinen langen Spaziergängen. Ein Hund muss sein, bei so einem Haus. Eine Alarmanlage brauchen wir nicht. Aber Sie scheint er zu mögen. Das ist ganz wichtig, wissen Sie. Vater würde sich auch nie auf jemanden einlassen, der Timmi nicht mag."
Darauf antwortete ich lieber nicht.
"Wissen Sie, erst hat Vater gemeint, Sie wären zu jung, als Ihr Brief kam. Aber wir haben ihm zugeredet. Was soll er mit einer alten Witwe, einer Rentnerin, die vielleicht lauter Wehwehchen hat?"
So, so. Es sollte anscheinend eine her, die noch gesund war und zupacken konnte.
Als mich Erwin heimfuhr, war ich schweigsamer, als bei der Hinfahrt.
"Ich glaube, Sie haben auch den Kindern gefallen, Sybille. Ich wollte, dass Sie sie kennen lernen. Die Chemie muss stimmen, in der ganzen Familie. Finden Sie nicht auch? Ich bin eigentlich sowieso ein Familienmensch."
"Warum haben Sie dann nicht schon längst wieder geheiratet?"
"Ja, dran gedacht hatte ich manchmal. Es war aber alles nicht das Richtige. Nun, dann rieten mir die Kinder zu dem Inserat, und schon habe ich Sie kennengelernt. Ich habe gleich gespürt, dass Sie eine Frau sind, die mitten im Leben steht. Nicht so ein Dämchen, das sich nur einen schönen Tag machen will."
"Ach, gegen schöne Tage habe ich auch nichts."
Jedenfalls fühlte ich mich bemüßigt, ihn nach all der Mühe, die man sich dort um mich gemacht hatte, für einen Abend zu mir einzuladen. Eigentlich hatte er heute nicht allzu viel gesagt. Mal sehen, wie es sich anließ, wenn die "Kinder" nicht dabei waren? So schnell wollte ich meinen Plan, einen Gefährten zu finden noch nicht aufgeben. Allerdings bat ich ihn, in Anbetracht meines kleinen Appartements Timmi nicht mitzubringen.
"Nein, das verstehe ich. Wir können ein anderes Mal einen Ausflug machen und ihn mitnehmen. Er soll sich an Sie gewöhnen."
Ich schloss meine Tür auf, hängte die Jacke an den Garderobenhaken, streifte die unbequemen Schuhe ab. Das Kostüm war trotz meiner Versuche, die Hundespuren auszureiben, reif für die Reinigung. Ich ließ mich in meinen Lieblingssessel fallen, legte die Beine hoch und schloss leicht erschöpft die Augen. Ich malte mir aus, wie eine Partnerschaft dort aussehen würde: Das Kalb würde mich an den Bettrand drängen, wenn nicht hinauswerfen, bei Sonne und Nieselregen würden wir zu dritt Unkraut jäten, ich dürfte mir mit seiner Gundula die Küche teilen, was bestimmt so aussähe, dass Gundula ihre älteren Rechte anmeldete. Sie machte ganz den Eindruck. Nun, so weit waren wir immerhin noch nicht. Würden wir auch nie sein, sagte ich mir mit Entschiedenheit. Beim nächsten Treffen würde ich ihm reinen Wein einschenken: dass ich weder Talent noch Lust zum Pflanzen, Jäten, Putzen, Kochen habe, dass ich zwar tierlieb bin, aber Timmi mir mindestens fünf Nummern zu groß ist, dass ich überhaupt nie vorhabe, meinen Beruf an den Nagel zu hängen, nur um Mann und Haus zu versorgen. Wenn überhaupt, suchte ich jemand, mit dem ich etwas Freizeit teilen, etwas Gemeinsamkeit erleben konnte. Betonung auf "etwas". Gemeinsam arbeiten, das hatte ich im Büro.
Wenn überhaupt, so was in keinem Fall. Recht besehen: wieso sollte ich eigentlich auf die Annehmlichkeiten meines Lebens verzichten? Plötzlich fand ich alles Mögliche wieder annehmlich: hier allein zu sitzen und wenn hundertmal ein langweiliger Film kam und alle CD's schon zigmal gespielt worden waren. Vielleicht war es doch besser, mal mit einem aus Ritas Bekanntenkreis auszugehen. Einfach nur mal ausgehen, ohne Aussichten auf Garten- und Küchenarbeit, dem Vergleich zu einer nimmermüde gewesenen Verstorbenen und einer, ach, so fleißigen, Tochter. Was war denn so schlecht an meinem Leben, dass ich es dafür aufgeben sollte?
Am nächsten Abend fasste ich mir ein Herz, rief Erwin an und sagte das Treffen ab, sagte ganz ehrlich, ich habe darüber nachgedacht, dass ich wohl doch nicht die richtige Frau für eine engere Beziehung mit ihm sei.
Danach fühlte ich mich unendlich erleichtert. Am kommenden Sonntag wachte ich wieder zu früh auf, drehte mich aber noch mal genüsslich im Bett um. Meinem Spiegelbild sagte ich: Na, und? Die paar Fältchen? Lachen wir doch drüber. Sybille, du bist weder alt noch hässlich. Diese Gundula wird in deinem Alter nicht so aussehen. Ich legte mich auf den Balkon, ließ mir die Sonne auf den Bauch scheinen und fand es wunderschön, dass ich mit all meinen Sonntagen machen konnte, was ich wollte. Die Seite mit Bekanntschafts- und Heiratsanzeigen überblätterte ich.
Im Büro hörte ich zufällig, wie eine Kollegin zur anderen sagte: "Die Sybille ist ja wie ausgewechselt. Ich glaube, da ist ein Mann im Spiel."
Ich kicherte in mich hinein: Von wegen, die Sybille mag sich nur plötzlich, so wie sie ist.


Copyright © 2002 by Yvonne Habenicht
Berlin/Deutschland

Sybille ist das Alleinsein leid. Doch die Erfahrungen, die sich auf der Suche nach einem Partner macht, sind ernüchternd.
Yvonne Habenicht
Yvonne Habenicht, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Entscheidung am Bahnhof Zoo von Yvonne Habenicht



Die Geschichte spielt im Berlin der 90er Jahre.

Den beiden Freundinnen Andrea und Sigrid hat im Laufe weniger Monate das Schicksal übel mitgespielt. Mit dem Weihnachtsfest scheint sich eine positive Wende anzukündigen. Andreas Beziehung zu Wilfried Ruge, die anfangs unter keinem guten Stern zu stehen schien, festigt sich. Auch ihre Freundin glaubt in Wilfried ein verlässlichen Kameraden zu sehen. Beide Frauen nehmen ihr Schicksal optimistisch in die Hand.

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