Der Regen hängt schwer in den riesigen Ulmen an diesem kalten Morgen im August. Die schmutzigbraunen Zackenblätter bedecken die ganze Allee entlang den Boden, bis zum Drehkreuz, verwandeln ihn in eine seifige Rutschbahn...ich stecke meine Saisonkarte in den Schlitz und betrete das Freibad. Ein kurzer Rundblick: Im warmen Nichtschwimmerbecken treiben schon 2-3 Mumien mit eifrig-grotesken Paddelschlägen, als könnten sie so dem unaufhaltsamen Weg alles Irdischen entgehen. Harry, der Schwimmmeister sitzt mit dem teilnahmslos-trüben Blick des geübten Spiegeltrinkers in seiner Kabine, zwischen den Lippen den kalten Stummel eines krummen Hundes...er hebt die rechte Hand zum Gruss oder verscheucht die Fliegen, die um seinen Kopf kreisen, um die langen Haare, die ihm strähnig-fettig ins Gesicht hängen, ich bin mir nicht sicher. Im Hintergrund sieht man den schmuddeligen Roten Kreuzkasten, da hat er den Schnaps drin versteckt, so wird gemunkelt. Aus den Musiklautsprechern quäkt leise der unnachahmliche Axel Rose von Guns´N´roses mit "Paradise city". Das 50m Schwimmerbecken liegt verlassen da. Ab und zu kräuselt ein Windstoss die Wasseroberfläche. Mich fröstelt, das ist anfangs immer so, rasch suche ich die Umkleidekabine auf. Ein leichtes zittern in der Brust, mir fällt ein, ich habe heute morgen meine Tabletten nicht genommen, Romano-Ward-Syndrom, eine Herzrhythmusstörung. Seit ich in der Schule zweimal umgefallen bin bekomme ich Tabletten, anfangs dachten sie an epileptische Anfälle, ein guter Internist fand es heraus, seither habe ich keine Probleme mehr, ich....... ...ich sehe den Kinderwagen, unter dem Vordach, neben dem Sprudelbecken und auch die Alte, die sich ihm nähert, mit dieser sicherlich von Herzen kommenden Freundlichkeit beugt sie sich über das Gefährt, der dürre Körper in ein schwarzes Leinenkleid gehüllt, das Gesicht zu einer lächelnden Fratze verzogen, brabbelt sie die sinnlosen Silben, die man Säuglingen üblicherweise zukommen lässt, dabei fällt der Greisin irgendetwas aus dem Gesicht, in den Wagen,....worauf sich sofort markerschütterndes Protestgeheul aus dem Wageninneren erhebt, die Alte, entsetzt, weicht zurück, blickt sich um, hilflos, schaut mich an, ich weiche ihrem Blick aus... schiebe mich in eine Kabine , ziehe mich aus, Badehose, raus, jetzt muss es schnell gehen, sonst kommt der innere Schweinehund zum Zug, im Laufschritt zum 50m Becken, zuerst unter die Dusche, dann rein...der Sprung, das eintauchen, die Luft bleibt weg, kurz, es ist kalt, eiskalt, ich tauche auf, kann keinen klaren Gedanken fassen, schwimm los, Brust, nach 20m wird es besser, der Wind treibt ein paar Nebelschwaden über das Wasser, kleine , spitze Fontänen vom einsetzenden Regen , aus dem Dunst tauchen die silbrig glänzenden Startblöcke auf, Wende,.... Das Wasser vermittelt jetzt eine angenehm frische Wirkung, es macht Spass, ich schwimme mit tiefen Zügen, ....am Sprudelbecken steht immer noch die Alte, ich sehe sie bei jedem auftauchen, wie eine einsame, alte Krähe, daneben der Kinderwagen...ich konzentriere mich auf meine Strecke,...die Wende.. ich tauche tief ein, stosse mich ab ,... ein Schatten , ein dunkler Schatten, direkt vor mir, ich wundere mich, dachte, ich bin alleine im Becken, ich schwimme direkt hinein. Ich verliere die Orientierung, ich muss an die Oberfläche, ...aber ich spüre keinen Lufthunger. Ich treibe in eine Dunkelheit, die mir gibt was ich brauche, ich atme die Schwärze, die mich nun ganz einhüllt, ich trinke sie. Eine Wärme umgibt mich mit einem Mal, wie ich sie noch nie verspürt habe, sie füllt mich aus, bis zum Innersten meines Körpers, gleichzeitig erlebe ich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, ich drehe mich um meine eigene Achse, immer schneller, Landschaften tauchen vor mir auf, wogende Wiesen im Sonnenlicht, lachende Gesichter von Menschen, die ich kenne, die ich kannte...wie lang ist es her? ...es war immer so, es war nie anders, ich habe diese Erkenntnis jetzt, ...ich spüre, dass die Zeit ein Faktor im Ganzen ist, ein Bestandteil, der sich verändern lässt, der keine Rolle spielt...es ist einfach, alles ist so einfach...... Ich stehe in einem Gang, weiches, warmes Licht, Tür reiht sich an Tür, immer weiter, endlos.... Durch eine dieser Türen muss ich gehen, ich weiss es. ch fühle sie, sie steht neben mir, die Alte vom Sprudelbecken, sie legt ihre Hand auf meine, lächelt mich an, sie sieht jung aus, schön, ich kann es nicht glauben, das schwarze Kleid, sie ist es. Mit leichtem, aber bestimmtem Druck schiebt sie mich zurück, geht an mir vorbei zu einer Tür, dreht sich noch einmal um...ich habe plötzlich einen Geschmack im Mund, als hätte ich Weinbrand aus einem Aschenbecher getrunken...die Alte ist verschwunden, von der Decke hängt ein Seil, eine Schlange?...streift mein Gesicht, ich versuche es wegzuwischen ... "Hallo", die Stimme von Harry, wie kommt er hierher?...mir wird eiskalt, der Gang löst sich in Nebel auf, die Schlange bleibt , ich spüre sie im Gesicht, schlage nach ihr...treffe Harry, der sich über mich beugt, dessen fettige Haare mir ins Gesicht hängen, der mich aus dem Wasser gezogen hat, der mich wiederbelebt hat, er wischt sich über die Lippen....mein ganzer Brustkorb tut bei jedem Atemzug weh, ich friere, ich versuche mich zu erinnern, wie ich hierher kam, meine Tabletten, die ich vergessen hatte , und dann... ich kann mich nicht mehr erinnern.... Der Notarzt hört mich ab, ich bekomme eine Infusion, ein EKG wird abgeleitet, sie legen mich auf eine Trage, eingehüllt in Decken, tragen mich hoch, an den Kabinen vorbei, am Sprudelbecken, ich sehe einen Kinderwagen und einen strampelnden, fröhlich kreischenden Säugling, der auf einer Rassel herumbeisst, nein...es sieht aus, wie eine Zahnprothese...der Anflug einer Erinnerung...ich blicke in das dampfende Sprudelbecken, sehe etwas Schwarzes, dann eine Hand die auf und untertaucht, als winke sie...ich will schreien, will sie aufmerksam machen, Harry, die Sanitäter, die andern, die sich alle um mich kümmern, die es nicht sehen. Ich lasse es. Ich habe die tiefe Gewissheit, dass dort nichts mehr zu tun ist, ein sicheres Gefühl. Im Hintergrund läuft weiter Harrys Lieblingslied "Paradise City" in der Endlosschleife, ich muss lächeln.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.03.2007.
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