Carrie Winter

Ihre Freiheit

Der Tag fing ganz normal an. Nie hätte Liz gedacht, das sich heute ihre ganze Welt verändern würde. Sie stand wie jeden morgen zu spät auf, verpasste den Bus und kam mitten während der ersten Stunde ins Klassenzimmer gerannt. Unser Mathelehrer warf ihr nur einen kurzen Blick zu und redete dann weiter. Er hatte sich schon lange damit abgefunden.
Liz ließ sich neben mich auf den Stuhl fallen und setzte ein Grinsen auf, das sie immer hatte, wenn sie verknallt war. Ich stöhnte auf und sparte mir die Frage, wer es war, da ich es schon wusste. Sie hatten sich gestern auf meiner Geburtstagsparty kennen gelernt und waren kurz darauf im Schlafzimmer verschwunden.
"Ich liebe ihn." Flüsterte sie aufgeregt und ihre Augen glänzten.
"Ja, ich weiß. Du liebst jeden, der dich zu einem Orgasmus bringt."
Okay, das hörte sich vielleicht etwas gemein an aber es stimmte. Liz hatte jedes Wochenende einen neuen Freund. Begründung: Er war besser im Bett als der letzte.
"Nein, diesmal ist es etwas anderes. Ich liebe ihn wirklich und er liebt mich! Wir werden heiraten!"
"Heiraten? Du willst mit 16 heiraten? Das ist wirklich toll. Ich mein, ich hab auch vor meinen Freund zu heiraten demnächst. Wieso machen wir nicht eine Doppelhochzeit?
Wir könnten unserer Freunde einladen. Unsere Eltern vielleicht auch. Aber die brauchen wir nicht unbedingt. Schließlich interessiert es ja keinen, was die darüber denken."
Sie verzog ihre roten Lippen zu einem Schmollmund und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Liz! Nimms doch nicht so ernst! Das sollte doch nur ein Witz sein! Komm schon!
Du weißt genau, das du noch nicht volljährig bist! Und deine Eltern erlauben dir nie, zu heiraten!" redetet ich auf sie ein.
"Meine Eltern! Die sind mir egal! Ich hau mit ihm nach New York ab! Wir lassen uns in einer von diesen coolen Kirchen trauen, die man immer in den Sitcoms sieht!"
"Du willst abhauen? Das ist nicht dein Ernst!" rief ich entsetzt.
"Doch! Ich hab diesen Ort satt, wo jeder jeden kennt und alles vom anderen weiß!"
"Aber du kannst doch nicht einfach abhauen!" protestierte ich entsetzt.
"Und ob ich kann. Mein größter Traum war schon immer, Filmstar in New York zu werden.
Und mit Brad werde ich es auch schaffen. Er kennt sich in Amerika aus."
"Aber du bist noch nicht volljährig, du hast die Schule noch nicht abgeschlossen, du lebst zu hause, du..." Sie unterbrach mich gereizt: "Ich hätte nie erwartet, das du so reagierst. Was ist los mit dir? Wolltest du nicht auch endlich hier raus? Wo ist die Rebellin, mit der ich die Schule unsicher gemacht habe?" Ich schwieg. Darauf fiel mir nichts mehr ein.
"Das spielt doch jetzt gar keine Rolle. Wieso kannst du nicht einfach hier bleiben?"
"Verstehst du es immer noch nicht? Weil ich diesen Ort hasse! Weil er mit Erinnerungen verbunden ist, die mich jedes Mal quälen wenn ich vor die Tür trete! Mein ganzer Schulweg ist eine Strasse durch die Hölle! Wenn ich an dem Friedhof vorbeigehe sehe ich den Grabstein von Tim, der sich umbrachte nachdem ich ihn sitzen ließ! Das JOIN erinnert mich an die vielen Abende, die ich von zuhause weglief und mich besoff um meine streitenden Eltern zu vergessen! Beim Laden muss ich daran denken wie sie mich verdächtigten, gestohlen zu haben und mein Vater mich verprügelte, obwohl ich gar nichts getan hatte! Und die große Wiese erst! Als ich eines Abends von dir nach hause ging und auf einmal von einer Gruppe von Typen gepackt und beinahe vergewaltigt worden wäre! Siehst du jetzt, warum ich es hier nicht mehr aushalte? Weil es ein einziges Meer von schlechten Erfahrungen ist, die ich vergessen will! Und so lange ich hier bin, wird das niemals gehen!"
Sie war inzwischen aufgesprungen und schrie. Die Schüler starrten sie fassungslos an, der Lehrer wollte etwas sagen, da hatte sie aber schon ihren Rucksack gepackt und war rausgerannt. Er setzte wieder zu einem Satz an aber da rannte ich raus.
Ich hatte gerade den Schulhof erreicht als ich sie auf ein Motorrad steigen sah, dessen Fahrer Brad war. Verzweifelt rief ich ihren Namen. Sie drehte sich um und starrte mich kalt an während das Motorrad davonbrauste.

Am nächsten Tag stand folgender Bericht in der Zeitung:
Ein junges Mädchen erlitt bei einem Motorradunfall tödliche Verletzungen und starb noch auf der Straße. Der männliche Fahrer kam mit gebrochenen Knochen davon und wird wegen des Unfalls zur Verantwortung gezogen. Es scheint, das er der Hauptverantwortliche dafür ist. Ihm drohen bis zu 10 Jahren Gefängnis falls sich die Vermutung als wahr herausstellt.

Ich stehe alleine an deinem Grab. Tränen glitzern in meinen Augen. Langsam knie ich mich hin und lege einen Strauch Blumen auf die feuchte Erde.
"Armes Ding." Ich schau auf. Vor mir steht der alte Friedhofswärter und raucht.
"Nein...Nein sie ist nicht arm." Sage ich langsam und muss lächeln.
"Sie hat jetzt das, was sie immer wollte. Ihre Freiheit."
Kopfschüttelnd sieht er mir nach, wie ich den schmalen Kiesweg zurück zum Eingang gehe.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Carrie Winter).
Der Beitrag wurde von Carrie Winter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Carrie Winter als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Abzittern von Herbert Genzmer



Ghostwriter trifft Wunderheiler; In einem rasanten Roman im Roadmovie-Stil geht es um Sexsucht, Internetchats, Gesundheitskult

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Carrie Winter

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Und was ist eigentlich aus vergewaltigten Töchtern geworden? von Carrie Winter (Trauriges / Verzweiflung)
Flaumis Entscheidung von Helga Edelsfeld (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Meine liebe Seele, von Heike Kijewsky (Briefe)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen