Gaby Schumacher

Kleine Blume - ganz groß!

Nach einem ungewöhnlich milden Winter besiegte der Frühling das Bild der dürren Felder und kahlen Wälder. Er war jung, voller Kraft und zauberte überall zarte Pflanzen hervor sowie winzige Blattknospen an die Zweige der Bäume. Sie alle streckten sich der Sonne entgegen, die sie mit jedem weiteren Tag mit immer wärmeren Strahlen verwöhnte.


Das Braun des Erdbodens verschwand unter einem stetig üppigeren, saftig grünen Teppich. Vielerorts zeigte er ein leuchtendes Farbenspiel. Das kam von den unzähligen kleinen und großen Blumen, die sich sacht im Frühlingswinde wiegten.


Auch die Tiere erwachten aus der Traurigkeit der vergangenen, kalten Monate. Weil sie das Frühjahr spürten, kleideten sie sich in leuchtende Farben, flogen und hopsten munter einher und übten ihre Arien. Manche bewiesen sich als wahre Meister. Andere schienen ihr Lied fast vergessen zu haben und komponierten es neu. Erst zögerlich, dann immer sicherer reihten sie Ton an Ton, bis sie sich schließlich stolz in ihre kleine Vogelbrust warfen und die fertige Melodie jubelnd zum Besten gaben.


Viele erwachsene Menschen bemerkten die Veränderung in der Natur, nahmen für Minuten oder ab und zu auch Stunden Abstand von dem nüchternen Alltag und erholten sich in Wiese und Flur. Sie hatten sich einen Blick bewahrt für die zarte Schönheit rings um sie her, die zierlichen, sprießenden Pflanzen und ein Ohr für das zwitschernde Konzert der Vögel. Sie schlossen die Augen, sogen die reine Luft ein und lauschten mit frohem Herzen.


Die Kinder drängten nach draußen. Nichts hielt sie mehr in den Häusern. Anstatt auf den Straßen zu spielen, rannten sie lachend zu den umliegenden Felder und hopsten durchs junge Gras. Ab und zu traute sich eines und legte sich für einen Moment auf jenen kitzelnden Teppich. Dabei blickte es auf all die frischen Blumen, die von wachsender Lebensfreude und die Aussicht auf Wochen und Monate wilder Abenteuerspiele im Freien erzählten.


"Ich pflück` welche für meine Mama!", rief die kleine Amelie.

Es sollte ein sehr bunter Strauß werden mit ganz viel Rot, Gelb und auch Weiß. Ja, Weiß durfte da nicht fehlen.

„Da vorne steht eine tolle, rote Blume!“, schlug ihr ihre Freundin vor.

„Das ist Mohn!“, erklärte Amelie stolz.


Dies kurze Gespräch hatten die umher stehenden Blumen mit Entsetzen belauscht.

„Au weia! Wie werden wir bloß ganz schnell ganz blass, damit wir den Menschenkindern nicht mehr gefallen?“, jammerte die Mohnblume, gar nicht mehr stolz auf ihr schönes Rot.
Dabei hatte sie vor kurzem vor all den anderen Pflanzen des Feldes noch ganz furchtbar angegeben, wie schön sie doch sei.

„Das haste jetzt davon!“, hielt ihr ein sehr bescheiden auftretender, kleiner blauer Krokus vor. „Das Angeben hat genauso kurze Beine wie das Lügen.“

Einerseits tat ihm die Mohnblume ja doch leid, aber um nichts in der Welt hätte er das da zugegeben.


Die eingebildete Schönheit neben ihm überhörte diesen Vorwurf geflissentlich, obwohl sie sich insgeheim zugab, dass der Winzling mehr als recht hatte. Darüber aber lange nachzudenken, blieb ihr nicht mehr die Zeit. Schon war Amelie bei ihr und rupfte sie mit einem kleinen Hauruck aus der Erde.

„Autsch!“, machte die Pflanze.

Das blieb das Letzte, was die Wiese von ihr zu hören bekam.


In der einen Hand die Mohnblume haltend, entdeckte Amelie den kleinen Krokus.

„Ach, wie süüß du bist!“, rief sie aus. „Ob ich dich auch mitnehme ... ?“

Die Kleine legte grübelnd die Stirn in Falten und überlegte. Der Krokus versuchte verzweifelt, möglichst nicht mehr so gut zu duften. Seine Blütenblätter zitterten vor Angst im Winde.

„ Ach, bitte lass mich leben!“, duckte er sich.

Ob das Menschenkind ihn wohl verstünde?


Kinder mögen kleine Tiere und sind meistens sehr lieb zu ihnen. Genauso haben sie einen Draht zu allem Kleinen in der Natur. So, wie es jetzt Amelie bewies. Sie sah den nickenden Blumenkopf, blickte auf die bebenden Blütenblätter und die kindliche Fantasie tat ein Übriges.

„Duhuuh ... , sagte sie nachdenklich zu ihrer Freundin, „das sieht aus, als ob es schreckliche Angst hat. Wir sind ja auch soo groß und es ist ja noch soo klein.“

Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort:

„Nee, das tu ich nicht. Der sieht hier viel schöner aus als in Mamas Vase!“

Sie wandte sich zum Krokus:

„Hab` keine Bange, du niedliches Blümchen! Ich lass dich hier. Dann strahlt dich die Sonne an und du bist glücklich.“

Der Krokus mochte zuerst an sein Glück kaum zu glauben. Doch dann reckte er seinen Kopf in die Luft und duftete aus Dankbarkeit ganz besonders gut. Seine Blütenblätter hörten auf zu zittern und es stand da wieder der kleine, bescheidene Krokus. Jedoch war er ausnahmsweise ganz stolz, denn Amelie hatte ja gesagt, wie niedlich er sei.


Das kleine Mädchen pflückte noch mehrere Mohnblumen und auch Margeritten und eilte zurück nach Hause. Die Mutter freute sich sehr über ihr Geschenk und stellte den Strauß in eine schöne Vase auf den Wohnzimmertisch.

Am nächsten Morgen aber war Amelie sehr enttäuscht. All die Mohnblumen hatten ihre Blütenblätter abgeworfen und boten ein trauriges, ja, gar hässliches Bild.

„Ihr müsst weg!“, entschied das kleine Mädchen, griff sich resolut diese ehemals hochnäsigen Geschöpfe und warf sie in den Abfall.


Nachmittags aber besuchte es nochmals den kleinen Krokus. Der stand da aufrecht in der Sonne. Seine Blüte leuchtete in einem wunderschönen Blau.

„Du bist die niedlichste Blume hier weit und breit!“, flüsterte Amelie ihm zu.

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.03.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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