Carrie Winter

Für einen Freund

Lieber Robin,
ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber ich werde gehen. Ich habe mit allem hier Schluss gemacht. Als Liz Selbstmord beging, war das für mich ein zu großer Schlag.
Ich schluckte eine Überdosis Morphium und verlor mich in einem Meer aus Dunkelheit und Hass. Und ich konnte wieder lächeln. Meine Gefühle waren nicht länger betäubt, sondern endlich wieder wach. In einer einzigen Sekunde stürzte soviel Liebe und Trauer gleichzeitig auf mich ein, das ich glaubte, durchzudrehen. Es tat so unbeschreiblich weh nur an dich denken zu müssen. Mein Kopf war mit Bildern der Vergangenheit gefühlt, die auf mich einhämmerten. Ich gab den Kampf auf, löste die Ketten und stürzte mich in die Welt der Realität. Das einzige, was mir noch blieb, war mein Glaube an meine Träume.
Träume, die in vielen schlaflosen, dunklen Nächten entstanden. Sich ihren Weg in meinen Verstand bahnten und mit den Regeln und Gesetzen spielten, bis sie zerbrachen.
Ein blutiger Thron, ein totes Mädchen, ein Schrei, ein Wunsch...
Ich verstand nicht, was da in meiner Fantasie entstand. Und ich verstand am allerwenigsten, das es nicht meine Fantasie war sondern Liz`s. Sie führte mich in ihr schwarzes Wunderland, zeigte mir die Abgründe der menschlichen Seele und verwandelte meine Tränen in Blut.
Ich trank jede einzelne, wurde von Schluck zu Schluck verdorbener. Ich hatte keine Angst vor der Hölle oder dem Himmel, weil ich wusste, das sie mir gehörten. Das Satans jüngste Tochter alles machen dürfte. Ich war unbesiegbar, dein schlimmster Alptraum. Und ich liebte es. Ich wusste zwar nicht, wer dieses aufgepeitschte, sadistische Miststück war, aber ich verehrte sie. Immer öfter ließ ich sie raus und irgendwann kriegte ich die Tür nicht mehr zu.
Konnte nur noch stumm und hilflos zusehen, wie sie dir das Herz rausriss und zerstückelte.
Wie sie über die Leute stolzierte, die sich vor ihr in den Dreck geworfen hatten.
Oder wie sie ihrer besten Freundin Drogen verabreichte und sie entjungfern ließ.
Ich hatte darauf keinen Einfluss mehr und an diesem Punkt verlor ich schließlich meine Gefühle. Vergrub sie unter einem Haufen Make up, Alkohol und Sex. Es hatte seine Vorteile nichts mehr empfinden zu können, auf keinen mehr Rücksicht nehmen zu müssen.
Aber ich war nicht mal mehr in der Lage das zu genießen. Meine Welt zerfiel in Stücke, ohne das ich es merkte. Nicht mal als du es mir sagtest, kapierte ich es. Ich lachte dich aus, sah diesen Riss in deinen Augen - und es war mir egal. Meine Seele schien schon lange verkauft, doch für welchen Preis? Bis heute weiß ich nicht, was man mir wirklich dafür zahlte. Nur eins, es war das nicht wert. Denn nichts kann den Schaden aufwiegen, denn sie nahm, während sie weg war. So viele Narben sind in mir, deren Herkunft ich nicht kenne.
Erinnerungen an Dinge, die ich nie erlebt habe. Schmerzen wegen Sachen, die ich noch nie gesehen habe. Ich habe eine Vergangenheit, die mich fast umbringt an manchen Tagen.
Und ich muss lernen, sie als meine eigene zu akzeptieren. Nichts mehr zu verdrängen und endlich der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Ich werde ein komplett neues Leben anfangen.
Ich will nicht so enden wie Liz. Eines Morgens mit einer Spritze im Arm in der Toilette des Hauptbahnhofs gefunden zu werden...Allein die Vorstellung bringt mich zum weinen.
Etwas, was ich bei ihrer Beerdigung nicht tun konnte, wollte. Es machte mir zuviel Angst.
Ich sah nur diesen Sarg und dieses Mädchen, das so blass war und dürr. Und überhaupt nicht so aussah wie die Liz, die ich in Erinnerung hatte. Ich sagte mir einfach, das es eine Verwechslung war. Das Liz noch am Leben war und jemand anders gestorben war.
Ich schaffte es 2 Wochen lang mit dieser Lüge zu leben. Dann brach ich zusammen.
Alle dachten, ich wäre wegen einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus. Aber in Wirklichkeit musste mir der Magen ausgepumpt werden. Und nach dem Versuch mein Ende selbst zu setzen? Marc wurde wegen Drogenhandel zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt, Michael heiratete und zog weg und du begannst zu studieren. Die drei einzigen Männer, denen ich jemals vertraute, wandten sich von mir ab. Vielleicht nicht absichtlich.
Mir blieb nichts mehr und ich musste mich entscheiden. Entweder ich würde noch mal mein Glück im Freitod suchen oder von vorn anfangen. Ich entschließe mich hiermit für die zweite Möglichkeit. Ich fange einen Job als Verkäuferin an. Zwar verdiene ich nicht sehr viel, aber für eine kleine Wohnung reicht es. Diese kleine Wohnung ist allerdings in Kalifornien.
Und das bedeutet, das ich über 5 Stunden Autofahrt von dir getrennt bin.
Es tut weh, trotzdem weiß ich, das es das richtige ist. Wir müssen beide unsere eigenen Leben leben. Unsere Wege trennen sich hier, und wenn wir ehrlich sind, sie hätten es schon viel früher tun sollen. Wir wollten nur nicht los lassen, haben uns an eine Abhängigkeit geklammert. Nur aus der Angst heraus, allein zu sein. Denn das ist das einzige was uns verbindet, wir wollen niemals einsam sein. Nur, jeder Mensch muss diese Erfahrung mal machen. Deswegen sage ich dir meine neue Adresse auch nicht. Auch wenn du es jetzt vielleicht nicht verstehst, irgendwann wirst du`s.
Trotz allem werde ich dich und die Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, niemals vergessen.
Immer wenn ich Don`t Cry von Guns `n`Roses höre, werde ich fühlen, was es heißt, in Zehnmillionen Wegen geliebt zu werden.

Deine Carrie

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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