„Ich komme morgen zu
Besuch“, hatte er gesagt.
Sie konnte sich an niemanden
erinnern. Ihre ganzen Erinnerungen waren weg. Sie kannte nicht mal sich selbst,
und was man ihr erzählte, vergaß sie meistens wieder.
‚Um drei mache ich doch
immer meine Wäsche’, erinnerte sie sich kurz.
Tee musste sie kochen, sie
musste die Tür aufmachen, wenn es klingelt.
Sie musste ruhig bleiben,
wenn der Besuch in der Tür stand und vor allem, sie durfte keine Angst vor ihm
bekommen.
Die Angst war es, die ihr
die meisten Sorgen bereitete. Sie hatte
oft Angst vor fremden Gesichtern, egal ob sie angelächelt oder angestarrt
wurde.
In ihrem Angstzustand konnte sie gefährlich werden. Jedem. Das wusste sie, das hat man
ihr oft genug gesagt,
dass sie keine Angst haben darf.
Sie war unberechenbar in ihren Angstzuständen. Sie konnte, ohne es zu wissen,
jemandem einen Gegenstand über den Kopf schlagen. Ein paar Sekunden danach
würde sie da stehen und alles nicht begreifen können.
Die Zeit war ihr bester
Freund und Ratgeber, gab ihr Sicherheit. Die Zeit führte sie durch ihr
zerwühltes Leben.
Sie holte zwei Tassen aus
dem Schrank und stellte sie zusammen mit dem Zucker und den kleinen Löffeln auf
ein Tablett. Einen kurzen Blick warf sie durch die Küche und war mit sich
zufrieden. Alles war an seinem Platz.
Sie strich noch einmal mit
den Händen über ihr Kleid, versuchte sich zu konzentrieren und ging auf die Tür
zu.
Für einen Augenblick
verharrte sie noch.
‚Bloß keine Angst haben’,
dachte sie.
Sie drückte die Türklinke
herunter, machte die Tür auf und sah einem Mann in die Augen. Ein Mann mit
grauem Haar
lächelte sie freundlich an,
weiße Rosen in der einen Hand und in der anderen eine Tasche. Mehr sah sie
nicht.
„Guten Tag, Alice. Ich habe
angerufen, dass ich Dich heute Nachmittag besuchen komme“, sagte er freundlich.
„Kannst du dich erinnern?“
„Guten Tag“, sagte sie,
machte einen Schritt zurück und lud ihn mit einer Handbewegung ein,
hereinzukommen.
‚Wer ist dieser Mann? Was
will er von mir?’ fragte sie sich während sie die Tür schloss
Was stimmt mit diesen
Tassen nicht?’ versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Vergaß ganz, dass sie nicht
alleine war, dass er, den sie nicht kannte neben ihr saß. Sie traute sich nicht
ihn zu fragen. Sie hatte Angst vor Antworten.
Sie sah sie alle und kannte
keinen einzigen.
Er erzählte ihr zu vielen
Bildern eine kleine Geschichte über die Zeit, in der das Bild entstanden war. Über die Gegend, über die Menschen auf
dem Bild.
Als er das Album schloss und
es wieder in seine Tasche steckte, sah sie in seinem Gesicht viel Traurigkeit.
Es war nicht mehr das
fröhliche Gesicht, das sie in der Tür sah, als er kam.
Das Gesicht war müde und
traurig geworden, die Augen waren leer.
Sie machte sich keine
Gedanken, sie kannte diesen Blick aus ihrem Spiegel.
Er nahm seine Sachen und ging
genauso sicher den Weg zur Tür zurück, wie er hereingekommen war.
Sie hörte seine Schritte im
Flur, wie er die Treppe hinunter ging, sie hörte noch wie die Haustür ins
Schloss fiel.
Um 17 Uhr trank sie jeden
Tag ihren Tee und aß dazu ein Stück Marzipanschokolade.
Sie liebte Marzipanschokolade.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2007.
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Freitag Nacht
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