Volker Winkler

Zurück in eine Zukunft?

Nein, die Überschrift dieses Textes ist nicht zweideutig und hat auch keinen besonders philosophischen Hintergrund. Es geht wirklich nur um simples Zeitreisen.
Simpel? Nunja, betrachtet man die technische Ausführung, so sind Reisen in die Vergangenheit nicht trivial, läßt man dieses nicht ganz unbedeutende Detail jedoch außer acht und bezieht sich ausschließlich auf den theoretischen Teil, ist die Idee des Zeitreisens so simpel, daß man mit etwas Phantasie und ohne jegliche Investition eine solche in Gedanken durchspielen kann.
Man stelle sich also vor, ich reise etwa ins Jahr 1916. Der erste Weltkrieg ist in vollem Gange. Die Schlacht um Verdun verwüstet gerade Quadratkilometer um Quadratkilometer und mit ihm jegliches dort existerendes Leben. Meine Zeitmaschine , die „Historifixwienix“ wirft mich in ein Wäldchen am Rande der Schlacht. Erschrocken, sehe ich eine Dicke Bertha in einiger Entfernung, Gerade ruckt sie nach hinten und spuckt Granaten mit beträchtlichem Kaliber. Es pfeift über mir. Dann kracht es direkt vor dem Wäldchen, in dem ich mich verberge. Tonnen schwarzer, toter Erde spritzt in alle Richtungen und verteilt sich in der Umgebung. Ein tiefer Krater reckt mit seinen kegelförmigen Schlund entgegen. Das Krachen hört nicht auf. Meine Ohren klingeln von dem nahen Einschlag. Doch das hohe Pfeifen der nach ihrem nächsten Opfer suchenden Granaten fährt mir bis ins Mark. Auf einer Anhöhe in einigen Hundert Metern Entfernung beginnt ein Vorstoß. Vier, fünf, .. zehn ... dreißig deutsche Soldaten springen scheinbar aus der Erde, strecken unzählige Franzosen nieder, wahllos, sinnlos.
Der Geschützlärm steigert sich bis ins Unerträgliche. Der Feuersturm zerreißt den Nebel, der den Feind vor meinen Augen verbirgt. Die Wolken wabern auseinander, voller Schrecken erkenne ich ein Dutzend Granatwerfer, die sich auf die Angreifer richten.
Die schiere Hölle schwappt über das kraterüberzogene Schlammfeld!
Mit gewaltigem Stampfen zerreißen die Geschosse Körper und Boden. Steine, Erdhaufen, Pflanzen, Hände und zerrissene Rümpfe fliegen durch die Luft und begraben die Unverletzten unter sich.
Plötzlich brechen aus dem hinter mir liegendem Dickicht mit höllischem Geschrei unzählige französische Soldaten hervor. Ich erschrecke zu Tode und schlottere am ganzen Körper aus Angst, und aus Wut über die Grausamkeiten.
Mein Versteck ist gut gewählt, sodaß sie einfach weiterlaufen, ohne mich zu entdecken. Doch mir ist klar, sie werden die Deutschen einkeilen und vernichten.
In diesem Augenblick wird mir bewußt, daß ich keinen Rucksack auf dem Rücken trage, sondern ein Automatikgewehr einer heute üblichen Baureihe. Halb schluchzend, halb schreiend betätige ich den Abzug, durchlöchere sie, mähe sie nieder. Doch halt. Ich stocke. Was tue ich da? Ich greife ein in einen Kampf der nicht von mir gefochten wird, einem Kampf, der längst schon vorbei ist.
Kann ich demzufolge eigentlich eingreifen? Selbst wenn ich die Reise in die Vergangenheit erfolgreich vollbracht habe, kann ich Menschen töten und im Gegenzug andere retten, deren Schicksal ohne mein Zutun eine ganze andere Wendung genommen hätte? Ist das denkbar? Die meisten Hollywood-Filme, deren Inhalt sich mit dem Thema Zeitreisen befaßt, gehen davon aus, daß es so ist. Demzufolge kann der Filmheld die Vergangenheit verändern, was seine Zukunft natürlich mit einschließt.
Diese recht simple Annahme hat jedoch ein schwerwiegendes Problem: Wie sieht die Welt aus, in die der Protagonist nach getaner Vergangenheitsveränderung zurückkehrt? Er würde in EINE Zukunft zurückkehren, nicht aber in seine. Natürlich muß sich die Zukunft infolge der Einflußnahme ändern. Schließlich könnte sich der Soldat Ernot Le Garnier, einer derer, die eben aus dem Dickicht hinter mir sprangen, bis zum Ende des Krieges vor tödlichen Geschossen retten. Er würde sich vermutlich eine Frau suchen, Kinder groß ziehen, sein Lebenswerk vollbringen und mit 60 Jahren die Geschicke großer Konzerne oder sogar Regierungen leiten. Vielleicht würde er einen erneuten Krieg zwischen Deutschland und Frankreich vom Zaun brechen, als Rache für zwei Weltkriege.
Ein Horror-Szenario.
Doch halt! Habe ich das nicht durch meinen Eingriff in die Vergangenheit verhindert? Dabei stellt sich mir unweigerlich die Frage: Was wäre passiert, hätte ich nicht die „Historifixwienix“ erfunden und wäre stattdessen in meinem Chefsessel vor meinem Rechner eingedöst. Hätte ich überhaupt zu dieser Aktion kommen können? Man stelle sich vor, ein entscheidender Ahn aus meinem Stammbaum wird von eben jenem Ernot Le Garnier erschossen. Ich würde plötzlich aufhören zu existieren. Einfach so. Undenkbar.
Wieso also verändere ich die Vergangenheit, indem ich einfach nichts tue? Eine verwirrende Frage, ja. Und wieso eigentlich, werden sie fragen, komme ich auf die irrige Idee, ich könnte es verpassen, in die Vergangenheit zu fahren und damit mein Leben aufs Spiel setzen? Wieso muß ich sozusagen nach Verdun 1916, um mein bloßes Überleben zu sichern? Hat mein Gedankenexperiment einen entscheidenden Fehler?
Nehmen wir einfach mal an, es ist nicht möglich, den Lauf der Dinge zu verändern. Alle Möglichkeiten, in die Geschichte und ihre Abläufe einzugreifen, müßten von vornherein scheitern, weil die Geschichte, genau das von uns erwartet. Würde das nicht auch bedeuten, daß die Chaostheorie und mit ihr der gesamte Lauf der Dinge, also auch das Auftreten schienbar unvorhersehbarer Ereignisse, in Wahrheit auf einem quasi vorherbestimmten  „Drehbuch der Zeit“ beruht.

Seite 34526346346 im Buch der Zeit, Abschnitt Verdun 1916, Wäldchen am Rande der Schlacht: Unbekannter erschießt Ernot Le Garnier.

Könnte es nicht sein, daß diese Wendung der Geschichte durch unvorhersehbare Ereignisse, nämlich mein Eingreifen, schon passiert, bevor ich die Möglichkeit habe, zu existieren und infolge meiner Existenz die „Historifixwienix“ erfinde und Le Garnier das Leben nehme?
Anders ausgedrückt: Hätte ich vor, zweimal in meinem Leben zurück ins Jahr 1916 zu reisen, müßte ich mich dort selbst treffen - schon bei meinem ersten Besuch! Oder würde ich bei der ersten Zeitreise allein in dem Wäldchen liegen, bei der zweiten jedoch mich dort schon liegen sehen? Bei einer dritten möglichen Reise würde ich mich schon zweimal antreffen und so weiter.
Bei genauerem Hinsehen wirft nur die erste Variante den Lauf der Dinge nicht aus der Bahn. Meine Reisen sind im “Drehbuch der Zeit“ verzeichnet und ändern damit nicht die Geschichte. Sie  baut vielmehr darauf auf, daß ich mich heute aufmache, im Jahr 1916 Änderungen an ihr vorzunehmen, so, als würde diese Tatsache einfach dazugehören und in keiner Weise außergewöhnlich sein.
Natürlich ist es auch denkbar, daß diese Annahme komplett falsch ist. In diesem Fall jedoch kommt es unweigerlich, wie in „Zurück in die Zukunft“ gezeigt, zu schwersten Komplikationen, die sich jedoch wesentlich dramatischer auswirken könnten, was Zeitreisen in höchstem Grad gefährlich und somit fast schon unmöglich macht.
Geht man also davon, daß Zeitreisen möglich sind, ohne die geschichtlichen Abläufe im Nachhinein zu beeinträchtigen, setzt das zwangsläufig vorraus, daß schon 1916 feststeht, daß ich in diese Zeit reise. Habe ich vor, eben diese Reise zweimal in meinem Leben zu unternehmen, muß ich zwangsläufig schon bei der ersten Reise mein eigenes Ich treffen und demzufolge wissen, daß ich eine zweite Reise zukünftig durchführe.
Diese Vorstellung würde den Blick auf Vorhersehung, Schicksal und unsere Möglichkeiten zur Beeinflussung unseres eigenen Lebensweges drastisch verändern.

 

Natürlich sind das meine ganz persönlichen, unwissenschaftlichen Gedanken dazu. Wer weiß, ob man nicht doch die Vergangenheit und damit die Zukunft ändern kann, oder ob es nicht am Ende ganz anders ist, als wir uns das vorstellen können ;-)
Volker Winkler, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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