„Wow“, staunte Azrael. „Und was soll das heißen?“
„Ich komme bald wieder. Dann wirst du besser verstehen“, antwortete die Krähe
und glitt ohne einen weiteren Kommentar zum Fenster. Kaum war sie draußen,
drehte sie um und landete wieder auf der Fensterbank. „Erwartest du Besuch?“
„Nein. Äh, doch. Um Acht kommt kurz jemand vorbei. Holt das Zeug hier“,
antwortete Azrael, noch immer nicht ganz bei sich.
„Dann bis halb Neun“, verabschiedete sich die Krähe und entschwand in die
Abendröte.
Azrael saß im Ruhemodus vor dem Fernseher. Die Kälte der
Frühlingsnacht ließ die Fenster beschlagen. Im Zimmer war es auch kalt, denn
Azrael hatte das Fenster wieder geöffnet um die Krähe einzulassen.
So überraschte es ihm umso mehr als plötzlich die Türglocke läutete. Ein kurzer
Blick auf die Uhr bestätigte seinen Verdacht. Genau die verabredete Zeit.
Azrael bereute es plötzlich seinen guten Freund mit den Wasserpfeifen
weggeschickt zu haben. Oder war es vielleicht sein Freund, der etwas vergessen
hatte?
Zaghaft ging er zur Tür und warf einen Blick durch den Spion. Totale Schwärze.
Jemand oder etwas verdeckte den kleinen Glasknopf.
„Hallo? Ist da jemand?“
Keine Antwort. Nur die Glocke wurde erneut betätigt sodass es in seinen Ohren
schellte.
„Nehmen Sie die Hand weg, oder ich rufe die Polizei!“ drohte Azrael. Der Spion
wurde sofort frei gegeben.
„Du bist zäh“, antwortete die bekannte Stimme der Krähe. Azrael sah zwar keine
Gestalt, wusste nun aber, dass es der Besucher war. Er öffnete die Tür langsam
und bereute es erneut, dass er seinen Freund weggeschickt hatte. Oder sich
zumindest eine Waffe bereit gelegt hatte. Ein Küchenmesser, den Baseballschläger
oder den schweren Kerzenhalter aus Silber.
Vor ihm stand eine gebückte Gestalt und schob ihn sofort bei Seite. „Es ist
kalt. Ich bin nicht gerne draußen. Nicht so.“
Die Gestalt hatte einen seltsamen Buckel, soviel erkannte Azrael bevor sie sich
aufrichtete und die dunkle Kapuze, die tief ins Gesicht reichte, zurückschlug.
Darunter war ein eingefallenes Gesicht, das auch schon bessere Zeiten gesehen
hatte. Die Haut spannte sich überall und schien an einigen Stellen sogar
aufgebrochen. In den lichten, grauen Haaren, hing eine einzelne schwarze Feder.
„Bei allen Teufeln. Du bist der Gevatter Tod!“
Die Gestalt blickte nervös herum und streckte eine dürre Hand aus. „Sag seinen
Namen nicht! Sonst kommt der alte Haudegen noch wirklich!“
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Was ist das für ein Spiel?“ knurrte Azrael.
Mit der mickrigen Gestalt konnte er es alle Mal aufnehmen.
„Das ist kein Spiel. Das ist alles ernst. Ich war eine Krähe, erinnerst du
dich?“
„Ich habe es gesehen, ja. Aber ich glaube das nicht. Da steckt bestimmt was
dahinter. Vielleicht versteckte Kamera oder so ein Mist. Die Sender tun ja
alles für Einschaltquoten, da steht die Würde der Leute schnell mal unten an.“
„Wenn du nur wüsstest, Junge, du würdest graue Haare kriegen wie ich“, sagte
die Gestalt und schlurfte in das Wohnzimmer. Sie legte weder Mantel noch Kapuze
ab.
Langsam folgte ihm Azrael, und nahm dabei den leichten Kerzenständer von der
Kommode und verbarg ihn hinter dem Rücken.
Obwohl die Gestalt das nicht mitbekommen haben konnte, schenkte sie Azrael
einen strafenden Blick und schmatzte. „Also das brauchst du wirklich nicht.
Sieh mich doch an. Ich kann nicht mal eine Fliege zerquetschen ohne mir die
Hand zu brechen.“ Die Gestalt ließ demonstrativ die Knochen knacken.
Ein guter Spezialeffekt, wie sie das wohl machen, dachte Azrael. Das war
bestimmt eine Show. Und das Mädel von gestern hatte hier wahrscheinlich überall
Kameras versteckt. Und Zuhause vor ihren Fernsehern hielten sich seine Freunde
den Bauch vor Lachen. Und tausende anderer Zuschauer.
„Wer bist du dann, wenn du schon nicht der Gevatter Tod bist?“ fragte Azrael
schließlich.
„Ich habe doch gesagt du sollst seinen Namen nicht sagen!“ kreischte die Gestalt. Azrael hob die Hände und stellte dann
den Kerzenständer ab. „Tut mir leid. Was willst du dann?“
„In gewisser Weise dich“, antwortete die Gestalt. „Fragst du dich nie warum du
Azrael heißt? Benannt nach dem Todesengel?“
„Weil meine Eltern zu viel in der Bibel geblättert haben? Den Namen in einem anderen Buch oder Film hörten und Gefallen daran
fanden? Keine Ahnung. Ist mir auch egal“, gab Azrael zu. „Er hört sich cool an,
und in der Clique kommt er sowieso gut an. Die sind auch alle so wie ich.
Dunkel, etwas abgesondert von den ganzen anderen. Dafür aber die coolsten
Leute. Keine Rangordnungen und so Mist.“
„Ich habe dich nicht nach deiner Lebensgeschichte gefragt“, unterbrach der
Besucher. „Aber ich sage dir warum du diesen Namen trägst.“ Der Besucher lehnte
sich vor, sodass Azrael seine tief eingefallenen Augen genau sehen konnte. Sie
waren grau und ohne Glanz, beinahe als wäre der Mann blind. „Es war
Bestimmung.“
Azrael lachte schallend los. Er konnte es einfach nicht mehr halten. „Das ist
wohl ein Scherz“, prustete er und musste sich bald den Bauch halten. „Oh Mann.
Was werden die Leute vor ihren Fernsehern nur sagen. Das ist echt der Hammer.“
„Junge, sieh es endlich ein. Das hier ist kein Spiel. Einmal alle hundert Jahre
wird ein Azrael geboren. Einer, der so ist wie du. Zuerst ganz normal,
unauffällig. Ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft. Vielleicht in ein
paar Clubs, den Pfadfindern. Und dann ändert die Person sich plötzlich. Sie
wird immer einzelgängerischer, zieht sich zurück. Sucht den Schatten. Eben
genau das, was du gemacht hast.“
„Hey. Ich bin wohl kein Einzelgänger!“ protestierte Azrael.
„So? Du kannst deine Freunde mit zwei Händen abzählen. Also deine guten
Freunde. Nicht die kurzen Bekanntschaften, mit denen du ab und an ein paar
Worte wechselst“, konterte der Besucher und brachte Azrael so zum Schweigen. Bei
genauerer Betrachtung stimmte das wirklich.
„Wo war ich? Ah, richtig. Der Auserwählte..:“
„Jetzt bin ich schon der Auserwählte. Krieg ich gleich Stigmata und ein Lendentuch?“
„Unterbrich mich nicht!“ donnerte der Besucher. „Der Auserwählte bereitet sich also
vor. Bis der alte Auserwählte ihn findet und einweiht. So wie ich es gerade
tue.“
„Geht die Show noch lange? Ich muss mal austreten“, witzelte Azrael und stand.
Der Besucher gab ihm wortlos einen Wink und Azrael ging schnell ins Bad.
Dort stand er vor den Spiegel und sah sich eingehend an.
Dann suchte er den Hals nach Bissen ab. Die Unterarme nach Nadelstichen oder
schnitten. Danach die Schenkel. Schließlich zog er sogar das Oberteil aus und
drehte sich um. Nirgends waren Wunden.
Azrael wusste nicht ganz was er von der Sache halten sollte. Plötzlich sah er
einen Schatten im Spiegel. Das Glas färbte sich schwarz und die Umrisse eines
Gesichts erschienen. Erschrocken wich Azrael bis zur Wand zurück. „Also das ist
jetzt echt heftig“, stammelte er und deutete auf den Spiegel. Das Schwarz
verlor wieder an Schwärze und löste sich wieder auf.
So schnell er konnte verließ Azrael das Bad. „Was war das für ein Trick?“ rief
er als er das Zimmer betrat. Der Besucher sah ihn ratlos an.
„Das mit dem Spiegel. Der schwarze Hintergrund, mit dem Gesicht und allem.“
Der Besucher lachte verhalten. „Ich hab dich doch gewarnt ihn zu rufen. Jetzt
hat er mal vorbeigeschaut, gemerkt, dass du noch nicht so weit bist und ist
wieder gegangen.“
„Wer?“
„Na den, den du vorhin zwei Mal angerufen hast. Hättest du es übrigens ein
drittes Mal getan wäre er wirklich in Erscheinung getreten. Aber er mag es
nicht umsonst gerufen zu werden. Merk dir das für die Zukunft“, antwortete der
Besucher und schlug die Beine übereinander.
„Was ist das für ein Spiel?“
„Zum letzten Mal, Junge, das ist kein Spiel. Ich bin Azrael, wie du. Nur meine
Zeit ist vorbei. Mein Jahrhundert ist gegangen und ich bin froh alles an den
Nagel hängen zu können. Denn diese Zeit war wirklich die Hölle, das kannst du
mir glauben. Kriege, Katastrophen, Konflikte. Ich kam kaum nach, so ging es
Schlag auf Schlag.“
„Wovon redest du?“
„Verstehst du noch immer nicht? Ich bin Azrael, der Todesengel. Der Handlanger
von dem, dessen Namen ich jetzt nicht nennen will. Zusammen mit den anderen
Azrael fahren wir die Ernte ein. Suchen die faulen Stängel und markieren sie
zum Abschneiden.“
„Todesengel? Bist du so ein verdammtes Nazi-Schwein oder was? Der sich für
Mengele oder sonst wen hält?“ fluchte Azrael und hob die Hand zum Schlag.
„Unterdrück deine Wut. Deine Arbeit wird nur schwerer wenn du die Finten nicht
kennst!“
Azrael ließ den Arm wieder sinken und ließ sich dann auf den Hocker fallen.
„Das ist zu viel. Welchen Stoff hab ich da nur genommen?“
„Es liegt weder an Drogen, noch an Alkohol. Du bist weder tot noch verrückt.
Verstanden, Junge?“ Azrael nickte langsam.
„Gut. Dann kommen wir zur Sache. Tod!“
Es rauschte und die Lichter wurden schwächer. Azrael nahm wahr, dass plötzlich
jemand neben ihm stand. Langer, schwarzer Mantel mit Kapuze. Tiefe Ärmel, in
der einen Hand ein Buch, in der anderen ein gebogenes Messer, einer Sichel
ähnlich.
„Azrael. Du rufst mich?“ murmelte der neue Besucher.
„Tut mir Leid, aber anders hätte er mir nie geglaubt. Er ist der Neue.“
„Ich habe ihn mir vorhin angesehen. Er sollte ausreichen. Ich denke er wird die
Arbeit zu meiner Zufriedenheit erfüllen“, sagte der Tod und warf dann den Kopf
in den Nacken. „Haltet euch da raus!“ rief er. Dann wandte er sich an Azrael.
„Die anderen sind gar nicht erfreut, dass ich mich so zeige. Durchs Fenster
könnte mich jemand sehen. Also halte ich mich kurz. Entweder du machst mit und
löst den alten Mann hier ab, oder er sucht sich den nächsten Azrael in hundert
Jahren. Dann müsste ich dich aber sofort einsacken, denn du weißt zu viel!“
„Klingt ja so als hätte ich keine große Wahl“, maulte Azrael. Der Tod verzog
seinen Totenschädel zu einem schrägen Grinsen. „Richtig.“ Er wedelte mit der
Hand und sofort sprang der alte Azrael auf. „Kann ich dann gehen?“
„Du hörst die Anderen ja schon rufen. Melde dich oben ab und nimm den dir
vorbehaltenen Platz ein. Danke für deine Dienste. Wir sehen uns nie wieder.“
Azrael hatte den alten Mann noch nie so schnell gehen sehen. Der Alte sprang
auf, streifte den Mantel ab und entfaltete zwei schwarze Schwingen. Die waren
wohl der Ursprung seines seltsamen Buckels gewesen. Die Schwingen hellten sich
langsam auf und bis er auf die Fensterbank geklettert war, hatten sie ein
mattes Grau erreicht. Ein letztes Mal drehte sich der alte Azrael um. „Also,
Junge, das ist der Chef. Mach deine Arbeit gut, dann kriegst du einen guten
Platz da oben. Mach sie schlecht und…“ Der Alte verstummte. „Mach sie einfach
gut, klar? Wir sehen uns, vielleicht, in hundert Jahren.“ Damit entschwand er
in Richtung Himmel.
Der Tod war währenddessen regungslos neben Azrael gestanden
und hatte ihn nur von oben bis unten gemustert. Azrael drehte sich nun langsam
zu ihm um. „Und jetzt?“
„Als erstes besorgst du dir Arbeitskleidung. Am besten etwas mit Kapuze und
Mantel, um den Schein zu wahren. Ich ruf solange einen der Anderen damit er
dich registriert.“
„Wer sind denn die anderen?“ fragte Azrael, während er in sein Schlafzimmer
ging und im Kleiderschrank zu graben begann.
„Die Anderen eben. Barmherzigkeit, Hoffnung und so weiter. Die Liste ist lang.“
Das Rauschen kündigte bereits die Ankunft eines Anderen an. Azrael schlüpfte in
einen Kapuzenpullover und warf dann seinen Ledermantel über. Neben Tod stand
nun ein gleißend weißer Engel. „Gut, ein neuer Azrael“, sagte er und blickte
den jungen Mann bohrend an. „Na gut, er ist erfasst. Die Arbeit kann beginnen.“
Er drehte sich dem Tod zu. „Falls du was brauchst, weißt du ja wo du mich
findest. Die Anderen haben alle zugestimmt. Er kann sofort beginnen. Noch
Fragen?“
„Eine“, warf Azrael ein. „Wenn ich jetzt das hier mache, was wird dann aus
allem anderen hier? Und wo krieg ich solche Flügel her?“
Der Tod und der Engel zuckten mit den Schultern. „Das ist wohl dein erster
Auftrag. Verwisch die Spuren“, sagte der Engel, „die Flügel kommen von selber
wenn du sie brauchst. Doch tagsüber bist du in die Gestalt einer Krähe gebannt.
Du wirst aber noch alles lernen, keine Sorge. Du hast ja einhundert Jahre
Zeit.“
Der Tod und Engel entschwanden wieder und ließen Azrael allein zurück. Der
junge Mann starrte auf seine Finger und bewegte sie dann etwas. Er konnte das
alles noch nicht glauben. Entweder das war ein verdammt fetter Trip, oder
wirklich real.
Er schwenkte die Hand. „Ene, mene, muh, raus bist du!“ Aus seinem Finger schoss
ein Lichtstrahl und fuhr in das Bücherregal. Sofort schlugen Flammen heraus und
starker Rauch entwickelte sich.
„Cool“, staunte Azrael, „also das mit dem Spuren verwischen ist dann wohl erledigt.
Dann fehlen nur noch die Flügel.
Azrael kletterte auf die Fensterbank und blickte in die Tiefe. Das waren gut
und gerne zehn Meter zum Boden. Er atmete tief ein und stieß sich ab. Wie ein
Stein fiel er runter und schlug auf. Doch statt der Dunkelheit blieb das Licht.
Langsam rappelte er sich hoch und sah sich an. Kein Kratzer, keine Beule, kein
Bruch. „Also keine Flügel?“ murmelte Azrael enttäuscht und wedelte mit den
Armen. Da hörte er Stoff reißen und ehe er es sich versah, hatte er zwei große,
schwarze Schwingen. In seiner Hand war plötzlich ein dünnes Buch, in dem eine
lange Liste von Namen stand.
„Auf, auf, Neuer. Wir haben viel zu tun. Die Ernte muss eingebracht werden!“
hörte er den Tod in seinem Kopf befehlen.
Bin bereits unterwegs, mal sehen ob ich den Flugschein kriege, dachte Azrael
und hob ab. Dieses Mal wirklich.