Nicolai Rosemann

Todesengel

Es ist ein böses Erwachen.
Was es wirklich ausgelöst hatte konnte Azrael nicht sagen. Vielleicht war es eine Ahnung gewesen. Oder ein böser Traum.
Verschlafen drehte er sich zur Seite und sein Blick traf die Beute der letzten Nacht. Mit halb geöffnetem Mund lag sie in die Laken gewickelt da. Die Zähne waren noch immer schwarz vom Wodka, den sie in rauen Mengen zu sich genommen hatten.
Gähnend richtete sich Azrael etwas auf und sah die Kleidung überall im Raum verteilt. Der Wecker warf das Hologramm der Uhrzeit unbarmherzig an die Wand. Noch knapp drei Stunden würden Azrael bleiben, danach der ewig schwere Gang zurück in die Fabrik zur Frühschicht.
Vorsichtig, um die Schlafende, deren Namen Azrael natürlich wieder entfallen war, nicht zu wecken, stieg er aus dem Bett und schlich in die Küche. Dort kramte er etwas lauter als beabsichtigt nach dem Aspirin und nahm gleich drei Stück, die er mit einem Glas kaltem Leitungswasser hinunterspülte. Die Kälte zog an seinen Zähnen und legte sich unangenehm in seinen Magen.
Noch drei Stunden, dachte Azrael schwermütig und sah zum Fenster. Vor Schreck ließ er das Glas fallen, das klirrend zerbrach. Azrael zischte einen Fluch und ging vorsichtig, um nicht in die Scherben zu treten, einen Schritt zurück. Dann fiel ihm ein, dass das Kehrblech in der anderen Richtung lag.
Doch der Grund, warum er sich erschrocken hatte, war die Krähe, die auf der Fensterbank der Küche saß. Mit ihren stechenden, schwarzen Augen, die unendlich tief erschienen, starrte sie Azrael an. Dann öffnete sie halb und Mund und schrie.
Die Scheiben dämpften den Schrei zwar ab, trotzdem fuhr er Azrael in Mark und Bein. Spätestens jetzt hätte er das Glas bestimmt fallen gelassen.
Die Krähe breitete die Schwingen aus und glitt von der Fensterbank. Azrael wusste nicht ganz wo er dieses Erlebnis einordnen sollte. Verwirrt stand er so einige Zeit in der Tür und starrte nur das Fenster an.
„Azrael, Schätzchen, komm ins Bett“, flötete dann die Frau, die wohl aufgewacht war. Wahrscheinlich durch das fallen gelassene Glas.
„Gleich“, antwortete Azrael müde und suchte seine Hausschuhe. Dann nahm er das Kehrblech und fegte die Scherben zusammen. Erst danach ging er zurück ins Bett, fand aber keinen Schlaf mehr.  
 
Als Azrael von der Arbeit zurückkam, war die Frau verschwunden. Ein Zettel hing an der Tür, natürlich.
Das übliche Gewäsch: es sei schön gewesen, vielleicht würden sie es noch einmal wiederholen und so weiter.
Humbug, dachte Azrael, wir sehen uns sowieso nie wieder. Und wenn doch, werden wir nicht einmal miteinander sprechen. Schnell sah Azrael alles durch, die Besucherin hatte die Tür nur verriegelt, jedoch nicht abgeschlossen. Wozu auch, sie wohnte hier ja nicht.
Flüchtig erinnerte sich Azrael ein letztes Mal an sie.
Ihr Tanz war so eindrucksvoll gewesen und hatte alle in den Bann gezogen. Ihre Augen waren schwarz wie Perlen gewesen, und ihr Lachen hätte sogar die Toten wieder aufgeweckt, so hell und wohlklingend war es gewesen. Die Haare, dem Feuer eines Vulkans wohl verwandt, gelockt und glatt wie ein ruhiger See. Der Strahlenzauber der Beleuchtung hatte sich darin verfangen, ihr Lächeln war klar wie das Meer gewesen. Die Zähne, jeder wie ein glänzender Edelstein. Die Haut, glatt und leicht gebräunt, weich wie Seide. Kleine Sommersprossen um die Nase.
Langsam verblasste die Erinnerung wieder. Azrael wandte sich seinem täglichen Geschäft zu. Er holte die Bürsten aus dem Schrank, stellte alles in der richtigen Reihenfolge auf und fing dann an die Wasserpfeifen zu reinigen. Eine nach der anderen, insgesamt ein Dutzend. Schließlich waren sie wieder sauber, besser als neu. Die Kugeln in den Ventilen waren neu und waren noch etwas träge vom Schmierfett. Die Schläuche hingen noch zum Trocknen auf der Leine, die Keramikköpfchen, in denen der Tabak glühte, lagen noch zum Auskühlen neben dem Geschirrspüler.
In der linken Hand die Bürsten, kramte Azrael nach dem Handy und wählte die fünfte der vorgespeicherten Nummern. Es dauerte keine zwei Sekunden, als der Anruf schon beantwortet wurde: „Was?“ Messerscharf wie das Schwert eines Samurai.
„Schlechte Laune?“
„Geht so. Die Kassa war wieder nicht eben. Du weißt ja“, antwortete sein Gesprächpartner. Im Hintergrund beschleunigte ein Motorrad und ließ einen Wagen quietschend bremsen.
„Die Pfeifen sind fertig. Du kannst sie holen wenn du willst“, sagte Azrael. Einen Moment herrschte Stille in der Leitung, nur die Hintergrundgeräusche.
„Ich komm so gegen Acht. Danke, hast was gut bei mir.“
„Dann wären wir bei etwa tausend Gefallen, mein Freund“, witzelte Azrael und legte dann auf. Müde ließ er sich auf das Sofa fallen, landete natürlich haargenau auf der Fernbedienung und kramte sie zwischen den Beinen heraus. Mit etwas anderem. Der Unterwäsche einer Frau.
„Oha“, pfiff Azrael, „na ja, dich vermisst wohl niemand. Noch nicht.“ Er warf das Kleidungsstück hinter sich, verfehlte den Wäschekorb jedoch leicht. Doch er würdigte für einige Zeit nur dem Fernsehbild seine Blicke. Obwohl das Programm am Nachmittag unterirdisch schlecht war.  
 
Irgendwann so gegen fünf öffnete Azrael die Fenster. Die Hitze des Tages hatte sich nun zum Großteil verzogen und die Kühle des Frühlingsabends erfüllte bald den Raum. Azrael fühlte sich zum ersten Mal seit er aufgestanden war wieder wohl in seiner Haut. Er zog den Pullover und die Hose aus, bevor er wieder auf das Sofa sank und durch die Kanäle zappte. Ein Brocken hier, ein Brocken da. Zusammen der Einheitsbrei der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Echt ätzend.  
 
Es musste so gegen halb sieben gewesen sein. Azrael machte sich gerade daran die Fenster wieder zu schließen, weil die Temperatur nun bedenklich gesunken war und gleich die Heizung anspringen würde.
Er arbeitete sich von Zimmer zu Zimmer vor und stieß sich dabei den Fuß an einer Hantel, sodass er zum Wohnzimmer in einem sehr seltsamen Sprunggang vorwärts ging.
Kaum hatte er das Zimmer betreten, erstarrte er. Déjà vu?
Auf der Fensterbank saß eine Krähe. Die Flügel leicht gespreizt, die kleinen Augen starrend auf Azrael gerichtet.
„Du schon wieder!“ fluchte der junge Mann, „du schuldest mir ein Glas!“
„So, tu ich das?“ fragte die Krähe. Azrael schnappte nach Luft. Die Krähe hatte gerade gesprochen. Ein Vogel hatte mit ihm gesprochen. Vorsichtig warf Azrael einen Blick auf die Wasserpfeifen. War da etwas drin gewesen? Nein, das hätte er beim Saubermachen bemerkt. Hatte er selbst eine geraucht? Auch negativ, alle Geräte waren verpackt, transportbereit und vollständig.
„Willst du mich nicht herein bitten?“ setzte die Krähe schließlich fort.
„Ich glaube nicht wirklich“, stammelte Azrael.
„Ach komm. Sei ein guter Gastgeber“, stichelte die Krähe und sprang ohne weitere Umschweife durch das Fenster herein. Einen Moment blieb sie auf der inneren Fensterbank sitzen und schwenkte schnell den Kopf herum. Dann flog sie zum Sofa, wobei sie eine kleine Feder verlor.
„Tut mir leid wegen der Federn. Und keine Sorge, ich war draußen Pipi.“
„Na das beruhigt mich dann ja“, sagte Azrael unschlüssig. Gab es im Haus vielleicht ein Gasleck und er war schon high? Er kramte in seinen Taschen nach einem Feuerzeug und spielte mit dem Gedanken es zu zünden.
Er sah vor seinem inneren Auge das Haus von außen, wie sich ein riesiger Feuerball durch die Fenster des zweiten Stockwerks frisst und sich über die ganze Fassade ausbreitet. Die dumme Katze der Nachbarin, wie sie schreiend aus dem ersten Stock springt und sich alle Knochen bricht. Und die Besitzerin, wie sie unbeeindruckt in ihrem Fernsehsessel sitzt, eine Praline auspackt und dann auch verschlungen wird.
„Eine schöne Aussicht, nicht?“ rief die Krähe Azrael zurück in die reale Welt. „Leider muss ich dich enttäuschen. Es gibt kein Gasleck, es liegt nicht an Drogen und du bist nicht durchgedreht. Obwohl das mit diesen Mitarbeitern verständlich wäre.“
„Was zur Hölle bist du?“ stieß Azrael schließlich heraus.
„Nicht was. Ich bin nicht irgendein Ding. Du darfst mich.“ Die Krähe stockte. „Wie darfst du mich dann nennen? Krähe? Nein, das ist so unpersönlich. Sagen wir einfach mein Name ist nebensächlich und wir sagen Du. Einverstanden?“
„Äh, klar. Was soll's. Ich mein nur, sieh mich an. Ich rede mit einer Krähe. Also. Was treibt dich denn hier her, in mein bescheidenes Heim? Was willst du?“  
 
Du hast die Tage mit beten verbracht. Du flehtest zu mir jede Nacht. Und jetzt bin ich hier. Du suchtest die Dunkelheit, und hast sie auf deine Art und Weise gefunden. Die Musik gilt nicht gerade als Mainstream, aber man kann sie gut anhören. Die Texte sind bestimmt sinnvoller wie manches andere aus dem Mainstream.
Du hast nicht viele Freunde. Doch die, die du hast, sind wirklich eng mit dir befreundet und schätzen dich wie du bist. Du magst sie natürlich auch, denn eines verbindet euch alle: ihr habt alle auf die eine oder andere Weise ein Rad ab.
Du selber bist eher ein Einzelgänger, der nur beim Weggehen und während der Arbeit Menschen um sich hat. Ansonsten versteckst du dich in deinem Refugium hier, was in gewisser Weise deine Vorstellung von Dunkelheit ist. Am Rande erwähnt, du hast es wirklich gut getroffen.
Und das macht dich einzigartig. Du siehst die Dinge bevor sie geschehen.
 
 
„Wow“, staunte Azrael. „Und was soll das heißen?“
„Ich komme bald wieder. Dann wirst du besser verstehen“, antwortete die Krähe und glitt ohne einen weiteren Kommentar zum Fenster. Kaum war sie draußen, drehte sie um und landete wieder auf der Fensterbank. „Erwartest du Besuch?“
„Nein. Äh, doch. Um Acht kommt kurz jemand vorbei. Holt das Zeug hier“, antwortete Azrael, noch immer nicht ganz bei sich.
„Dann bis halb Neun“, verabschiedete sich die Krähe und entschwand in die Abendröte. Verwirrt schloss Azrael das Fenster und sank auf das Sofa zurück. Zwei schwarze Federn lagen dort. Nachdenklich drehte er sie zwischen seinen Fingern.  
 
Azrael saß im Ruhemodus vor dem Fernseher. Die Kälte der Frühlingsnacht ließ die Fenster beschlagen. Im Zimmer war es auch kalt, denn Azrael hatte das Fenster wieder geöffnet um die Krähe einzulassen.
So überraschte es ihm umso mehr als plötzlich die Türglocke läutete. Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigte seinen Verdacht. Genau die verabredete Zeit.
Azrael bereute es plötzlich seinen guten Freund mit den Wasserpfeifen weggeschickt zu haben. Oder war es vielleicht sein Freund, der etwas vergessen hatte?
Zaghaft ging er zur Tür und warf einen Blick durch den Spion. Totale Schwärze. Jemand oder etwas verdeckte den kleinen Glasknopf.
„Hallo? Ist da jemand?“
Keine Antwort. Nur die Glocke wurde erneut betätigt sodass es in seinen Ohren schellte.
„Nehmen Sie die Hand weg, oder ich rufe die Polizei!“ drohte Azrael. Der Spion wurde sofort frei gegeben.
„Du bist zäh“, antwortete die bekannte Stimme der Krähe. Azrael sah zwar keine Gestalt, wusste nun aber, dass es der Besucher war. Er öffnete die Tür langsam und bereute es erneut, dass er seinen Freund weggeschickt hatte. Oder sich zumindest eine Waffe bereit gelegt hatte. Ein Küchenmesser, den Baseballschläger oder den schweren Kerzenhalter aus Silber.
Vor ihm stand eine gebückte Gestalt und schob ihn sofort bei Seite. „Es ist kalt. Ich bin nicht gerne draußen. Nicht so.“
Die Gestalt hatte einen seltsamen Buckel, soviel erkannte Azrael bevor sie sich aufrichtete und die dunkle Kapuze, die tief ins Gesicht reichte, zurückschlug. Darunter war ein eingefallenes Gesicht, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Haut spannte sich überall und schien an einigen Stellen sogar aufgebrochen. In den lichten, grauen Haaren, hing eine einzelne schwarze Feder.
„Bei allen Teufeln. Du bist der Gevatter Tod!“
Die Gestalt blickte nervös herum und streckte eine dürre Hand aus. „Sag seinen Namen nicht! Sonst kommt der alte Haudegen noch wirklich!“
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Was ist das für ein Spiel?“ knurrte Azrael. Mit der mickrigen Gestalt konnte er es alle Mal aufnehmen.
„Das ist kein Spiel. Das ist alles ernst. Ich war eine Krähe, erinnerst du dich?“
„Ich habe es gesehen, ja. Aber ich glaube das nicht. Da steckt bestimmt was dahinter. Vielleicht versteckte Kamera oder so ein Mist. Die Sender tun ja alles für Einschaltquoten, da steht die Würde der Leute schnell mal unten an.“
„Wenn du nur wüsstest, Junge, du würdest graue Haare kriegen wie ich“, sagte die Gestalt und schlurfte in das Wohnzimmer. Sie legte weder Mantel noch Kapuze ab.
Langsam folgte ihm Azrael, und nahm dabei den leichten Kerzenständer von der Kommode und verbarg ihn hinter dem Rücken.
Obwohl die Gestalt das nicht mitbekommen haben konnte, schenkte sie Azrael einen strafenden Blick und schmatzte. „Also das brauchst du wirklich nicht. Sieh mich doch an. Ich kann nicht mal eine Fliege zerquetschen ohne mir die Hand zu brechen.“ Die Gestalt ließ demonstrativ die Knochen knacken.
Ein guter Spezialeffekt, wie sie das wohl machen, dachte Azrael. Das war bestimmt eine Show. Und das Mädel von gestern hatte hier wahrscheinlich überall Kameras versteckt. Und Zuhause vor ihren Fernsehern hielten sich seine Freunde den Bauch vor Lachen. Und tausende anderer Zuschauer.
„Wer bist du dann, wenn du schon nicht der Gevatter Tod bist?“ fragte Azrael schließlich.
„Ich habe doch gesagt du sollst seinen Namen nicht sagen!“ kreischte die Gestalt. Azrael hob die Hände und stellte dann den Kerzenständer ab. „Tut mir leid. Was willst du dann?“
„In gewisser Weise dich“, antwortete die Gestalt. „Fragst du dich nie warum du Azrael heißt? Benannt nach dem Todesengel?“
„Weil meine Eltern zu viel in der Bibel geblättert haben? Den Namen in einem anderen Buch oder Film hörten und Gefallen daran fanden? Keine Ahnung. Ist mir auch egal“, gab Azrael zu. „Er hört sich cool an, und in der Clique kommt er sowieso gut an. Die sind auch alle so wie ich. Dunkel, etwas abgesondert von den ganzen anderen. Dafür aber die coolsten Leute. Keine Rangordnungen und so Mist.“
„Ich habe dich nicht nach deiner Lebensgeschichte gefragt“, unterbrach der Besucher. „Aber ich sage dir warum du diesen Namen trägst.“ Der Besucher lehnte sich vor, sodass Azrael seine tief eingefallenen Augen genau sehen konnte. Sie waren grau und ohne Glanz, beinahe als wäre der Mann blind. „Es war Bestimmung.“
Azrael lachte schallend los. Er konnte es einfach nicht mehr halten. „Das ist wohl ein Scherz“, prustete er und musste sich bald den Bauch halten. „Oh Mann. Was werden die Leute vor ihren Fernsehern nur sagen. Das ist echt der Hammer.“
„Junge, sieh es endlich ein. Das hier ist kein Spiel. Einmal alle hundert Jahre wird ein Azrael geboren. Einer, der so ist wie du. Zuerst ganz normal, unauffällig. Ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft. Vielleicht in ein paar Clubs, den Pfadfindern. Und dann ändert die Person sich plötzlich. Sie wird immer einzelgängerischer, zieht sich zurück. Sucht den Schatten. Eben genau das, was du gemacht hast.“
„Hey. Ich bin wohl kein Einzelgänger!“ protestierte Azrael.
„So? Du kannst deine Freunde mit zwei Händen abzählen. Also deine guten Freunde. Nicht die kurzen Bekanntschaften, mit denen du ab und an ein paar Worte wechselst“, konterte der Besucher und brachte Azrael so zum Schweigen. Bei genauerer Betrachtung stimmte das wirklich.
„Wo war ich? Ah, richtig. Der Auserwählte..:“
„Jetzt bin ich schon der Auserwählte. Krieg ich gleich Stigmata und ein Lendentuch?“
„Unterbrich mich nicht!“ donnerte der Besucher. „Der Auserwählte bereitet sich also vor. Bis der alte Auserwählte ihn findet und einweiht. So wie ich es gerade tue.“
„Geht die Show noch lange? Ich muss mal austreten“, witzelte Azrael und stand. Der Besucher gab ihm wortlos einen Wink und Azrael ging schnell ins Bad.   Dort stand er vor den Spiegel und sah sich eingehend an. Dann suchte er den Hals nach Bissen ab. Die Unterarme nach Nadelstichen oder schnitten. Danach die Schenkel. Schließlich zog er sogar das Oberteil aus und drehte sich um. Nirgends waren Wunden.
Azrael wusste nicht ganz was er von der Sache halten sollte. Plötzlich sah er einen Schatten im Spiegel. Das Glas färbte sich schwarz und die Umrisse eines Gesichts erschienen. Erschrocken wich Azrael bis zur Wand zurück. „Also das ist jetzt echt heftig“, stammelte er und deutete auf den Spiegel. Das Schwarz verlor wieder an Schwärze und löste sich wieder auf.
So schnell er konnte verließ Azrael das Bad. „Was war das für ein Trick?“ rief er als er das Zimmer betrat. Der Besucher sah ihn ratlos an.
„Das mit dem Spiegel. Der schwarze Hintergrund, mit dem Gesicht und allem.“
Der Besucher lachte verhalten. „Ich hab dich doch gewarnt ihn zu rufen. Jetzt hat er mal vorbeigeschaut, gemerkt, dass du noch nicht so weit bist und ist wieder gegangen.“
„Wer?“
„Na den, den du vorhin zwei Mal angerufen hast. Hättest du es übrigens ein drittes Mal getan wäre er wirklich in Erscheinung getreten. Aber er mag es nicht umsonst gerufen zu werden. Merk dir das für die Zukunft“, antwortete der Besucher und schlug die Beine übereinander.
„Was ist das für ein Spiel?“
„Zum letzten Mal, Junge, das ist kein Spiel. Ich bin Azrael, wie du. Nur meine Zeit ist vorbei. Mein Jahrhundert ist gegangen und ich bin froh alles an den Nagel hängen zu können. Denn diese Zeit war wirklich die Hölle, das kannst du mir glauben. Kriege, Katastrophen, Konflikte. Ich kam kaum nach, so ging es Schlag auf Schlag.“
„Wovon redest du?“
„Verstehst du noch immer nicht? Ich bin Azrael, der Todesengel. Der Handlanger von dem, dessen Namen ich jetzt nicht nennen will. Zusammen mit den anderen Azrael fahren wir die Ernte ein. Suchen die faulen Stängel und markieren sie zum Abschneiden.“
„Todesengel? Bist du so ein verdammtes Nazi-Schwein oder was? Der sich für Mengele oder sonst wen hält?“ fluchte Azrael und hob die Hand zum Schlag.
„Unterdrück deine Wut. Deine Arbeit wird nur schwerer wenn du die Finten nicht kennst!“
Azrael ließ den Arm wieder sinken und ließ sich dann auf den Hocker fallen. „Das ist zu viel. Welchen Stoff hab ich da nur genommen?“
„Es liegt weder an Drogen, noch an Alkohol. Du bist weder tot noch verrückt. Verstanden, Junge?“ Azrael nickte langsam.
„Gut. Dann kommen wir zur Sache. Tod!“
Es rauschte und die Lichter wurden schwächer. Azrael nahm wahr, dass plötzlich jemand neben ihm stand. Langer, schwarzer Mantel mit Kapuze. Tiefe Ärmel, in der einen Hand ein Buch, in der anderen ein gebogenes Messer, einer Sichel ähnlich.
„Azrael. Du rufst mich?“ murmelte der neue Besucher.
„Tut mir Leid, aber anders hätte er mir nie geglaubt. Er ist der Neue.“
„Ich habe ihn mir vorhin angesehen. Er sollte ausreichen. Ich denke er wird die Arbeit zu meiner Zufriedenheit erfüllen“, sagte der Tod und warf dann den Kopf in den Nacken. „Haltet euch da raus!“ rief er. Dann wandte er sich an Azrael. „Die anderen sind gar nicht erfreut, dass ich mich so zeige. Durchs Fenster könnte mich jemand sehen. Also halte ich mich kurz. Entweder du machst mit und löst den alten Mann hier ab, oder er sucht sich den nächsten Azrael in hundert Jahren. Dann müsste ich dich aber sofort einsacken, denn du weißt zu viel!“
„Klingt ja so als hätte ich keine große Wahl“, maulte Azrael. Der Tod verzog seinen Totenschädel zu einem schrägen Grinsen. „Richtig.“ Er wedelte mit der Hand und sofort sprang der alte Azrael auf. „Kann ich dann gehen?“
„Du hörst die Anderen ja schon rufen. Melde dich oben ab und nimm den dir vorbehaltenen Platz ein. Danke für deine Dienste. Wir sehen uns nie wieder.“
Azrael hatte den alten Mann noch nie so schnell gehen sehen. Der Alte sprang auf, streifte den Mantel ab und entfaltete zwei schwarze Schwingen. Die waren wohl der Ursprung seines seltsamen Buckels gewesen. Die Schwingen hellten sich langsam auf und bis er auf die Fensterbank geklettert war, hatten sie ein mattes Grau erreicht. Ein letztes Mal drehte sich der alte Azrael um. „Also, Junge, das ist der Chef. Mach deine Arbeit gut, dann kriegst du einen guten Platz da oben. Mach sie schlecht und…“ Der Alte verstummte. „Mach sie einfach gut, klar? Wir sehen uns, vielleicht, in hundert Jahren.“ Damit entschwand er in Richtung Himmel.   Der Tod war währenddessen regungslos neben Azrael gestanden und hatte ihn nur von oben bis unten gemustert. Azrael drehte sich nun langsam zu ihm um. „Und jetzt?“
„Als erstes besorgst du dir Arbeitskleidung. Am besten etwas mit Kapuze und Mantel, um den Schein zu wahren. Ich ruf solange einen der Anderen damit er dich registriert.“
„Wer sind denn die anderen?“ fragte Azrael, während er in sein Schlafzimmer ging und im Kleiderschrank zu graben begann.
„Die Anderen eben. Barmherzigkeit, Hoffnung und so weiter. Die Liste ist lang.“
Das Rauschen kündigte bereits die Ankunft eines Anderen an. Azrael schlüpfte in einen Kapuzenpullover und warf dann seinen Ledermantel über. Neben Tod stand nun ein gleißend weißer Engel. „Gut, ein neuer Azrael“, sagte er und blickte den jungen Mann bohrend an. „Na gut, er ist erfasst. Die Arbeit kann beginnen.“ Er drehte sich dem Tod zu. „Falls du was brauchst, weißt du ja wo du mich findest. Die Anderen haben alle zugestimmt. Er kann sofort beginnen. Noch Fragen?“
„Eine“, warf Azrael ein. „Wenn ich jetzt das hier mache, was wird dann aus allem anderen hier? Und wo krieg ich solche Flügel her?“
Der Tod und der Engel zuckten mit den Schultern. „Das ist wohl dein erster Auftrag. Verwisch die Spuren“, sagte der Engel, „die Flügel kommen von selber wenn du sie brauchst. Doch tagsüber bist du in die Gestalt einer Krähe gebannt. Du wirst aber noch alles lernen, keine Sorge. Du hast ja einhundert Jahre Zeit.“
Der Tod und Engel entschwanden wieder und ließen Azrael allein zurück. Der junge Mann starrte auf seine Finger und bewegte sie dann etwas. Er konnte das alles noch nicht glauben. Entweder das war ein verdammt fetter Trip, oder wirklich real.
Er schwenkte die Hand. „Ene, mene, muh, raus bist du!“ Aus seinem Finger schoss ein Lichtstrahl und fuhr in das Bücherregal. Sofort schlugen Flammen heraus und starker Rauch entwickelte sich.
„Cool“, staunte Azrael, „also das mit dem Spuren verwischen ist dann wohl erledigt. Dann fehlen nur noch die Flügel.
Azrael kletterte auf die Fensterbank und blickte in die Tiefe. Das waren gut und gerne zehn Meter zum Boden. Er atmete tief ein und stieß sich ab. Wie ein Stein fiel er runter und schlug auf. Doch statt der Dunkelheit blieb das Licht. Langsam rappelte er sich hoch und sah sich an. Kein Kratzer, keine Beule, kein Bruch. „Also keine Flügel?“ murmelte Azrael enttäuscht und wedelte mit den Armen. Da hörte er Stoff reißen und ehe er es sich versah, hatte er zwei große, schwarze Schwingen. In seiner Hand war plötzlich ein dünnes Buch, in dem eine lange Liste von Namen stand.
„Auf, auf, Neuer. Wir haben viel zu tun. Die Ernte muss eingebracht werden!“ hörte er den Tod in seinem Kopf befehlen.
Bin bereits unterwegs, mal sehen ob ich den Flugschein kriege, dachte Azrael und hob ab. Dieses Mal wirklich.

Der Todesengel ist eine wirkliche Stammtischgeschichte. Ich habe sie aus den Impressionen einiger Freunde zusammengeschmiedet. Besonderen Dank dabei Azrael (original Stefan), der irgendwie zum Hauptcharakter erhoben wurde.Nicolai Rosemann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.03.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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