Mark R.

Alles in den Wind

Alles in den Wind

 

 

 

Eigentlich wirkte der neben ihm sitzende Typ etwas komisch auf Ben. Sitzt er doch schon seit Stunden auf seinem Barhocker und schüttet ein Bier nach dem anderen in sich hinein.

Ben war nicht der Typ, der auf andere achtete oder gar lästerte, doch dieser Mann neben ihm, schien ihn immer mehr zu interessieren. Er bewegte sich kaum, führte hier und da ein paar Selbstgespräche und machte auch keine Anstalten, eines seiner unzähligen Biere wegzubringen. Ben hatte schon immer eine schwache Blase, schon beim ersten Schluck suchte er im Geiste in fremder Umgebung nach dem kürzesten Weg zur Toilette. Aber war es das, oder etwas anderes, was ihn so sehr an seinem Gegenüber interessierte?

 „Bitte? Ich habe gerade nicht zugehört.“ Etwas beschämt gab er diesen Satz von sich, sich dessen bewusst, das es völlig unhöflich war. Seit ungefähr zweieinhalb Stunden saßen sie jetzt schon hier im „Floyd“, er und seine Bekannten. Sie trafen sich jeden Freitag mit ein paar Freunden in ihrer  Stammkneipe, zum Biertrinken und quatschen. Diesmal hatte er Pech, da er etwas zu spät gekommen war, musste er nun neben Vera sitzen. Sie hatte die Angewohnheit, furchtbar belangloses Zeug gestenreich von sich zu geben. Am Anfang konnte Ben ihr noch folgen, aber je länger die Sätze wurden, desto müder und unaufmerksamer wurde er. Sein Bier war nun auch schon lange leer.

So langsam wurde er wütend auf die immer ausgerechnet an seinem Tisch vorbei huschende Kellnerin Susi.

„Hast Du die ganze Zeit nicht zugehört, oder was?“, fragte Vera. Das konnte sie überhaupt nicht leiden, es machte sie rasend. Sie waren ungefähr schon hundert Mal in diese Kneipe gegangen, es war das erste Mal, dass Ben neben ihr gesessen hatte. „Doch, doch, ich habe gerade nur nach Susi geschaut, damit sie mir ein neues Bier bringt, entschuldige.“

Warum war es eigentlich so langweilig Vera zuzuhören?, dachte er kurz nach. Vera hatte einen Sohn, war seit acht Jahren mit Thomas zusammen und beide hatten schon im Januar Ihre Reise für den Sommer gebucht. Sie gehörte nicht gerade zu den spontanen Leuten. Ihr Themenhorizont reichte von der Kinderkrippe bis hin zu Frühbucherrabatten und mit 28 Jahren hatte sie schon die Sorgen einer 40 jährigen Mutter im Gesicht stehen. Ben war immer froh, wenn Thomas freitags mitging. Das war aber nur leider jede zweite Woche der Fall, da sie sich mit dem Babysitten abwechselten.

 

Endlich kam sein Bier, Susi stellte es auf seinen mit Strichen übersäten Deckel und fügte einen Neuen hinzu. Die Gelegenheit nahm er war,  er stand auf und ging erstmal zur Toilette.

“Das ist eine tolle Erfindung, wer macht so etwas?“, entfuhr es ihm, als er in das Becken urinierte. Sein Strahl traf in vollem Umfang auf ein kleines Männchen im Becken, das daraufhin hin und her wedelte. Das machte ihm Spaß, Uli der Wirt musste es neu installiert haben. Wahrscheinlich haben die meisten vorher über oder unter das Becken gezielt, es sollte wohl ein Anreiz sein, richtig zu treffen.

Er war so damit beschäftigt auf das Männchen zu pinkeln, dass er gar nicht bemerkte, wer das Gleiche neben ihm tat. Der Typ vom Barhocker hatte nun doch den Weg hier her gefunden, stand neben ihm und tat es Ben gleich.

Bens Strahl versiebte, was er schade fand. Der Typ neben ihm pinkelte so lange und mit so einem ungeheuerlichen Druck, das Ben befürchtete, das Männchen könnte dabei kaputt gehen.

„Das tat gut“, sagte der Typ neben ihm. Ben fiel in diesem Moment keine Antwort darauf ein, bis der Typ ihn fragte, ob er öfters hier wäre.

Also möchte er sich mit mir unterhalten, dachte Ben und legte sich seine Antwort zurecht. „Jeden Freitag sind wir hier, ist so was wie eine Stammkneipe geworden. Und DU?“, setzte er noch nach, „Bist Du alleine hier?“  „Ja“, sagte der Typ, „zum ersten Mal. Ich komme nicht von hier, bin quasi auf der Durchreise.“  Das war auch schon alles, mehr sagte er nicht dazu. Ben mochte diese Art von Leuten nicht besonders, denen man jedes Wort aus der Nase ziehen musste. Jetzt gehörte es sich ja nun einmal zu fragen, wohin er denn zu Reisen gedenkt, oder woher er denn eigentlich kommt. Ben entschied sich für das Erste, und fragte:  „Wohin reist Du denn?“

„Ich weiß es nicht“, sagte der Typ und machte sich dabei langsam seine Hose zu. „Weißt Du, ich bin eigentlich immer auf der Durchreise, ich habe kein festgelegtes Ziel.“ Irgendetwas stimmte mit dem Typen nicht, dachte Ben. Redet was von einer nicht aufhörenden Durchreise, quatscht ihn neben den beiden Urinalbecken an und möchte sich jedes Wort mühsam entlocken lassen. Sollte er darauf eingehen, eigentlich unterhielt er sich doch mit Vera, da wusste er was er hat. Sie würde reden, er konnte sein Bier in Ruhe weiter trinken und hin und wieder seinen eigenen Senf dazu tun.

“Woher kommst Du denn?“, entfuhr ihm dann doch plötzlich noch eine Frage, irgendwie hatte der Typ ja schon den ganzen Abend was Interessantes an sich gehabt. Er konnte das Gespräch jetzt nicht so einfach abbrechen und wieder zu Vera zurückkehren, das hatte Zeit.

“Gerade komme ich von der Autobahn, mein Bulli hat sich bei hundert Sachen verabschiedet. Es gab einen lauten Knall und ich konnte nur noch ausrollen. Kolbenfresser, ich habe ihn abschleppen lassen und bin zu Fuß hierher. Weißt Du wo ich hier in der Nähe übernachten kann?“  fragte er noch. „Ich war noch nie in dieser Stadt, kenne mich hier nicht aus“,  fügte er noch hinzu.

„Suchst Du ein Hotel?“, fragte Ben.

“Ich weiß nicht, was hier bezahlbar ist, selbst habe ich hier noch keines gebraucht. Setz Dich doch zu uns, drüben ist es gemütlicher als hier auf der Toilette“, entfuhr es Ben, ohne wirklich darüber nachzudenken.

Am Tisch schauten ihn alle etwas verblüfft an, als Ben mit seiner neuen Bekanntschaft zu seinen Freunden zurückkehrte. „Das ist, äh…wie heißt Du eigentlich?“, fragte Ben seinen neuen Bekannten.

“Franky“, sagte er wie aus der Pistole geschossen und holte einen Rucksack und sein Bier vom Nachbarstisch und setzte sich dazu.

 

Es war schon komisch, wie seine Freunde auf den Neuen reagierten. Ben hatte das Gefühl, Franky sei für die Anderen eine Art Fremdkörper, der die vertraute und schon recht eingefahrene Stammtisch Situation aufzumischen drohte. Sollte Ben nun eine Erklärung über Franky abgeben, den er doch selber noch gar nicht kannte? Alle starrten nun auf die Beiden, als würden sie irgendetwas erwarten.

“Nun“,  sagte Ben. „Wir haben uns gerade auf der Toilette kennen gelernt. Franky ist auf der Suche nach einer Unterkunft für heute Nacht. Sein Bulli hatte einen defekt auf der Autobahn.“ Keiner sagte etwas,  Ben konnte auch nicht mehr sagen, da er ja selbst nicht mehr wusste. 

“Na dann mal Prost“, sagte Ben und alle hoben Ihre Gläser. Das entspannte die Situation ein wenig.

 

Der Abend wurde geselliger, Ben wusste hinterher nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Um 11 Uhr an einem verregneten Samstag morgen wurde er durch ein unglaubliches Schnarchgeräusch mitten aus seinen Träumen gerissen und stand senkrecht in seinem Bett. Jetzt fiel es ihm wieder ein, er hatte Franky mit zu sich nach Hause genommen. Gegen vier Uhr früh haben sie gemeinsam die Wohnung betreten und zusammen noch eine Flasche Rotwein geleert. Franky hatte so viel zu erzählen, Ben hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht.

 

Worüber hatten sie sich eigentlich die ganze Zeit unterhalten? , ging es Ben durch den Kopf. Franky erzählte den ganzen Abend irgendwelche Storys mitten aus seinem Leben. Er war Straßenmusiker und hatte sich vor ein paar Monaten mit seiner Gitarre und seinem alten Westfalia VW Bus von Norddeutschland auf den Weg in die weite Welt gemacht.

“Dort wo mich das Schicksal hintreibt, bleibe ich für ein paar Tage. Um mich und meinen Bulli am Leben zu halten spiele ich in diversen Fußgängerzonen Gitarre und singe dazu.“  - „Das reicht mir zum Leben“, sagte er ständig. „Was brauche ich denn? - ne Matratze und einen Gaskocher sowie ein Dach über den Kopf. Dazu kommen ein paar Liter Sprit jeden Tag, dass ist dann aber auch schon alles“, fügte er noch lächelnd hinzu. Außerdem würde er jeden Tag irgendwelche wilden skurrilen Storys erleben, hier und da nette Leute kennen lernen und sich mindestens einmal im Monat für ein paar Stunden neu verlieben…

 

Einzelne stotternde Schlafgeräusche noch, dann stand Franky auf und machte sich als erstes eine Zigarette an. „Ist der Kaffee schon fertig?“, fragte er direkt und selbstverständlich. Blauer Dunst legte sich in Kopfhöhe in der Wohnung nieder, hier drin hatte noch nie jemand vorher geraucht.

“Cool, dachte Ben, endlich  mal was los in meiner Bude“, ging es ihm durch den Kopf, während der Kaffee Tröpfchenweise durch den Filter lief. Eigentlich hatte er sich immer eine schöne Frau morgens beim Aufwachen vorgestellt, aber das war ihm in dieser und wenn er darüber nachdachte, auch in keiner anderen Wohnung bisher gelungen. Wie auch, vorher hatte er ja noch bei seiner Mutter gewohnt. Viel zu spät ist er dort ausgezogen, war sein zweiter Gedanke. Die 35 Quadratmeter Wohnung im Ikea Stil eingerichtet, hatte er durch einen Zufall durch die Nachbarn seiner Mutter zur Miete beziehen können. Jetzt wohnte er zwei Strassen weiter von seiner Mutter entfernt, in ständiger Aufsicht der Familie Spanger, mit der seine Mutter so gut befreundet war. Frau Spanger hörte jedes Geräusch, das aus seiner Wohnung kam. Bestimmt wusste sie schon jetzt ganz genau, wen er diese Nacht mit zu sich nach Hause genommen hatte.

 

“Wie geht es denn jetzt bei Dir weiter?“,  fragte Ben Franky, nachdem er zwei Tassen dampfenden Kaffee auf den Tisch gestellt hatte.  „Wie kommst Du wieder an Deinen Bulli, wohin fährst Du als nächstes? Kann man denn wirklich davon leben?“,  setzte er noch nach. Vielleicht ein bisschen zu viele Fragen, dachte er sofort, aber da waren sie ja schon alle gestellt. Eventuell hatte Ben auch nur ein wenig Angst, dass sein Gast ihn schon wieder so schnell verlassen würde. Er wollte noch so viele Fragen stellen, ihn faszinierte einfach die Art und Weise, wie Franky mit seinem Leben so klarkommt, wie er so locker auf kleine Probleme reagierte und noch vieles mehr…

 

Franky erzählte und gab sich ganz entspannt. Im laufe des Tages würde er seinen bis dahin hoffentlich reparierten Bulli abholen und dann mal weiter sehen. Vorher gab es einfach nichts zu entscheiden, ohne den Bulli könne er eh nichts machen. Wohin er als nächstes fahren würde, wusste er auch nicht so genau. „Ich habe mir für diesen Trip keine genauen Ziele gesetzt, eventuell möchte ich zum Winter gerne irgendwo in Spanien oder Portugal sein. Da ist es einfach wärmer, zum klampfen mit der Gitarre auch auf jeden Fall angenehmer“, sagte er.

 

Für dieses Leben auf vier Rädern und einer Gitarre unter dem Arm, hatte er all seine Verpflichtungen in Oldenburg aufgegeben. Seine Wohnung weiter vermietet, seine Versicherungen gekündigt, Freunde und Familie verlassen. Das Einzige was ihm noch lieb und teuer war, sei sein VW Bus Herbie, wie er ihn nannte, und seine Instrumente. Er spiele Gitarre und Mundharmonika, habe ein Repertoire von unzähligen Songs im Gepäck, die ihn schon irgendwie sicher durch die Welt verhelfen würden.

Ben gab sich anfangs noch als guter Zuhörer zu erkennen, aber im Laufe von Frankys Erzählungen, schweifte er mit seinen Gedanken immer weiter ab und scannte sein bisheriges Leben Jahr für Jahr kritisch durch.

 

Franky spiegelte genau das Gegenteil von dem wieder, was Ben sich täglich einbildete zu sein oder was seine Familie von ihm erwarten würde. Bei ihm war alles durch strukturiert, bis zum 65 Lebensjahr hatte er keine großen Veränderungen zu erwarten. Das Einzige was seine Lebensplanung noch gewaltig ins wackeln bringen konnte, war die mittlerweile in fast jeder Legislaturperiode einer Bundesregierung  in Mode gekommene Verlängerung der Lebensarbeitszeit um weitere Jahre bis zur Rente.

Davon hatte er schon immer geträumt, einfach mal auszubrechen und nicht das zu tun, was jeder von ihm erwartete.  Wer erwartet eigentlich was von mir, wem bin ich Rechenschaft schuldig, wen interessiert das alles überhaupt?  Solche Gedanken schossen ihm nun durch den Kopf, während Franky sein Lieder Repertoire um ein weiteres pfeifend unter der Dusche erweiterte.

Seine Gedanken trugen ihn ganz weit weg, er stellte auf einmal alles in Frage. Es fing an mit seinen Freunden, seinen Interessen, sofern er überhaupt welche hatte, bis hin zu seiner Wohnungseinrichtung. Bisher hatte er immer geglaubt, alles müsse so sein, Hauptsche abgesichert. Sein Job, seine Familie, Versicherungen, die Stammtischrunde am Freitagabend, Omas Zitronenkuchen und seine völlig ohne erkennbaren Stil zusammengestellte CD Sammlung. „Wer braucht den ganzen Mist, ist das wirklich alles so wichtig für mich?“, sprach er jetzt laut vor sich hin.

 

Das Telefon schellte, wie von einer Tarantel gestochen stand Ben auf und nahm den Hörer in die Hand. Es war noch ein richtig altes Telefon in tief dunkelblau mit Schnur und Wählscheibe. Ben ärgerte sich aber jedes Mal darüber, dass sich die Schnur immer so verkräuselte,  dass sie nicht ihre volle Länge entfachen konnte. So stand er auch jetzt beim Sprechen in gebückter Haltung und zog wie wild an dieser dämlichen Schnur.

“Mutter, schön von Dir zu hören, mir geht es gut, ja, Dir auch? Das tut mir leid, jaja mach ich, ich denke dran, habe aber jetzt keine Zeit.“ Einfache Konversation mit stark reduziertem Wortschatz bestimmte dieses kurze Telefonat. Ben hoffte nur nicht, dass Franky ihn jetzt nach einem Handtuch fragen würde. Das wäre der Gipfel, wenn seine Mutter so etwas in den falschen Hals bekommen würde. Ben versuchte das Gespräch so kurz wie möglich zu halten, erleichtert legte er danach den Hörer auf die Gabel. In diesem Moment kam Franky aus dem Badezimmer, völlig nackt und fragte Ben nach einem Badelaken.

 

Ein eigenartiges Gefühl beschlich Ben, als sie am frühen Nachmittag seine Wohnung verließen und er den Haustürschlüssel in seiner Tasche verstaute. Er hatte sich seit langem nicht mehr so glücklich gefühlt, irgendetwas schien von ihm abgefallen zu sein. Sie machten sich auf den Weg zur Werkstatt um Herbie auszulösen, Ben hatte Franky angeboten, ihn dorthin zu fahren. „Heute sind sie aber dran, beim letzten Mal haben sie die Treppe auch schon nicht geputzt“, krächzte Frau Spanger ein Stockwerk höher zu Ben hinunter.  Eine fürchterliche Frau, dachte Ben und ging einfach weiter. Plötzlich fiel ihm nur ein Wort für diese Situation ein, das er so noch nicht benutzt hatte, es aber irgendwie alles auf den Punkt bringen sollte… „Palimpalim“, rief er ihr entgegen und trat mit Franky auf die Strasse hinaus. Ein kühler aber sonniger Nachmittag lag vor ihnen,  die Verkehrsstrasse nahm ihren gewohnt hektischen Gang, während beide grinsend in Bens silbernen Astra stiegen.

 

Franky beglich seine Rechnung, er zahlte alles in bar. Aus einem schwarzen Lederbeutel schüttete er eine ganze Münzsammlung auf die Ladentheke. Trotz des etwas mürrischen Blickes des Mechanikers ließ Franky sich beim Zählen der Ein und Zwei Euromünzen sowie eine Menge Kupfer Cent nicht beirren. 

“Für einen Kaffee wird’s noch reichen“, beendete Franky die gerade aufkommende Funkstille der Beiden.

Benn stieg mit Franky in den Bulli ein und begann ihn genauestens zu inspizieren. „Ne Menge Platz, bist Du manchmal nicht einsam?“, fragte Ben wie aus der Pistole geschossen.  „So einen Trip könnte ich mir alleine nicht vorstellen“, fügte er noch hinzu. Warum er Franky so direkt darauf ansprach, konnte er sich auch nicht erklären. Es war ihm einfach rausgerutscht. „Ich habe den oder die Richtige noch nicht gefunden“,  antwortete Franky.  „Mit Frauen ist es meistens zu kompliziert, mit den Typen musst Du schon genau auf einer Welle liegen. Ich habe ja auch nicht den ganzen Tag eitel Sonnenschein, so eine scheiße wie gestern Abend, gehört eben auch dazu. Da musst Du improvisieren, darfst die Geduld und die Hoffnung nicht verlieren. Irgendwie geht es immer weiter, siehste ja, der Motor läuft wieder, haha“, setzte er mit einem Lächeln nach. „Könntest Du Dir denn so etwas vorstellen, einfach loszufahren?“ , fragte Franky plötzlich.  „Irgendwie gewinne ich den Eindruck, du wärst froh, wenn ich einfach Gas geben würde“, fügte er noch hinzu. Wäre das denn wirklich so einfach, dachte Ben im Stillen, einfach hier sitzen zu bleiben und Franky tritt aufs Gaspedal?

“Warum nicht“, entfuhr es ihm plötzlich. Damit hatte Franky nicht gerechnet, er  verschluckte sich beim Nippen an seiner abgestandenen Colaflasche und spuckte das ganze Armaturenbrett voll. „Scheisse, wie das klebt“, schrie Franky und wischte mit seinem Ärmel einmal kurz drüber. Dann bekamen sie beide einen Lachkick, immer wieder sagten sie: „Warum nicht.“

„Ja, warum eigentlich nicht“, sagte Franky und startete den Motor.

“Wir können es ja mal ne Zeit lang zusammen probieren, lass uns einfach verschwinden. Hast Du alles dabei?“, und wieder begannen sie zu lachen. Nichts hatte Ben dabei, sein silberner Astra stand im Halteverbot, in seiner Wohnung lagen unbezahlte Rechnungen und morgen früh würde er wie schon die letzten zwölf Jahre im Büro seiner Arbeitsstelle, einer Versicherungsagentur erwartet. Mein Gott, ist das alles kompliziert, dachte Ben als ihm all die Verpflichtungen des täglichen Wahnsinns durch den Kopf gingen.

“Ich kann mich ja für die nächsten Tage mal krankschreiben lassen, dann könnte ich ne Zeitlang mitfahren“, sagte Ben ohne wirklich von seinen Worten überzeugt zu sein. „Wenn das geht, klar, von mir aus! Wohin fahren wir, Copilot?“, setzte Franky nach und legte den ersten Gang ein. Er beschleunigte Herbie und sie fuhren mit leicht überhöhter Geschwindigkeit um die nächste Kurve Richtung Autobahn. Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Während sich bei Ben erste Zweifel auftaten,  schaltete Franky den CD Player ein. Als wenn er es inszeniert hätte, aus den Lautsprechern dröhnte ein alter Marius Song „Alles in den Wind“.

 

Eine Zeitlang saß Ben schweigend auf dem Beifahrersitz, während Franky sich eine Zigarette nach der anderen drehte und jeden Song aus dem CD Player mitsang. Ben gingen tausend Sachen durch den Kopf, er konnte sich noch nicht richtig entspannen.

“Auch eine?“, fragte Franky Ben und reichte ihm den Tabakbeutel rüber. „Ich versuchs mal“, sagte Ben und begann seinen ersten Versuch, sich eine Zigarette zu drehen. Beim Zigaretten drehen stellte Ben sich sehr ungeschickt an. Wenn er es erst einmal geschafft hatte, den Tabak richtig zu rollen, riss ihm das sehr dünne Blättchen beim einkleben ein. Beim nächsten Versuch, fiel ihm der ganze Tabak wieder aus der halb gedrehten Zigarette heraus und bröselte auf sein Hosenbein.  Es war zum verrückt werden, nach mehreren Versuchen bekam er endlich so etwas ähnliches wie eine Zigarette zum glühen.  Franky musste sofort lachen und verglich den ersten Versuch Bens Selbstgedrehten mit einem riesigen Joint.

“Auch nicht schlecht, wenn du ein bisschen Dope möchtest, im Handschuhfach.“ – „Ich muss mich erstmal hier dran gewöhnen, sonst kotze ich dir gleich den ganzen Bulli voll“, konterte Ben und nebelte beim ausatmen das ganze Fahrercockpit ein.

 

„Guten Abend Herr Lange, hier ist Ben Taler. Ich möchte mich heute Abend schon mal für morgen krankmelden. Ich habe fürchterliche Rückenschmerzen und denke es ist besser, wenn ich morgen früh direkt mal zum Arzt gehe. Ich melde mich dann wieder, wenn ich genaueres weiß. Bis dann“, sagte Ben und legte den Hörer wieder auf die Gabel. „Gut das wir in der Versicherung immer ein Band laufen haben, so ist es einfacher sich krank zu melden“, fügte Ben jetzt sichtlich erleichtert hinzu. „Dann lass uns mal losdüsen, wir müssen für heute noch ein schönes Plätzchen zum Pennen finden“, sagte Franky und setzte sich wieder ans Steuer.

 

Franky steuerte seinen Bulli durch  ein kleines Waldstück auf eine Anhöhe hinauf, von der aus sie einen grandiosen Blick über das gesamte Moseltal hatten. Es war noch ein schöner Spätfrühlingstag geworden. Den ganzen Nachmittag über hatte die Sonne geschienen, die sich nun aber langsam in Richtung Westen hinter die Weinberge verabschiedete. Sie suchten sich eine schöne Ecke zum sitzen und prosteten sich mit einem Bier aus Frankys Kühlschrank erst einmal zu.

 

Franky nahm jetzt zum ersten Mal seine Gitarre in die Hand und spielte einen Blues. Der klang der Gitarre sowie seine kräftige Stimme dazu,  ließ bei Ben eine Gänsehaut entstehen. Es herrschte eine wundersame Harmonie zwischen Gitarre und Gesang im Einklang der untergehenden Sonne inmitten dieser grandiosen Kulisse. Ben fühlte sich unglaublich gut, zum ersten Mal vergaß er am heutigen Tag  all seine Probleme in Bezug auf diesen kleinen Ausreißer. Er ließ sich zurückfallen, rauchte eine inzwischen akzeptabel gedrehte Zigarette und versuchte jetzt schon, kleine Kringel beim ausatmen des Rauches entstehen zu lassen.

 

Im Dunkeln stolperte Franky mit Brot und einem Stück Käse zurück zu Ben, der aber nach all den Erlebnissen des Tages schon tief und fest eingeschlafen war. 

Ben träumte von einer Stierkampfarena, die mit tausenden von Menschen gefüllt war. Diese riefen in alle Richtungen seinen Namen, er konnte ihn ganz deutlich heraus hören. Alle schienen ihn zu meinen, er sah jetzt auch, wie sie ihn anstarrten und langsam auf ihn zukamen. Die Arena wurde immer enger, er befürchtete Platzangst zu bekommen und wollte einfach nur weglaufen.  Plötzlich sah er den Stier, einsam in der Mitte der Arena stehen. Der Stier sah ihm direkt in die Augen, Ben hatte das Gefühl als wolle er ihm etwas mitteilen. Alles wurde auf einmal ganz still, das Tier kam auf ihn zu und nahm ihn auf seine Hörner. Mit einem unglaublichen Galopp rannte er mit Ben auf den Hörnern durch die Menschenmassen hinaus bis auf die Strasse. Der Stier wurde immer schneller und schneller, in Ben begann sich alles zu drehen. Er hatte keine Chance abzuspringen, bis er nach einer Ewigkeit  mit dem Kopf zuerst tief in einen See eindrang und beim auftauchen feststellte, das er gar nicht schwimmen konnte. Ben wachte auf…

 

 

Er verrieb sich ein wenig den Schlaf aus den Augen, irgendwie fühlte er sich total gerädert. Wie lange hatte er geschlafen, im ersten Moment war ihm gar nicht bewusst, wo er sich überhaupt befand. Ein suchender Blick folgte, wen oder was suchte er eigentlich?

Um ihn herum war es noch dunkel, nur mit zur Hilfenahme einiger Streichhölzer konnte er überhaupt etwas erkennen. Er drehte sich um, nirgends war jemand zu sehen. Jetzt fiel es ihm wieder ein, wo er war, mit wem er hier vorhin noch gesessen hatte. Franky, schoss es ihm durch den Kopf, er konnte ihn aber nicht finden. „Franky, hallo? Bist du hier irgendwo?“,  rief er  in den Wald hinein. Wieder drehte er sich um, auch den Bulli konnte er nicht sehen. Dort hatte er gestanden, gestikulierte er in die Richtung wo eigentlich der Wagen hätte stehen müssen. Er schaute auf die Uhr, es war vier Uhr morgens und jetzt merklich kühl geworden.

Immer wieder schaute er sich um, hatte er das alles nur geträumt, was war hier geschehen? Auf dem Boden sah er bei genauerem Hinsehen tief in den Waldboden eingefahrene Reifenspuren. Zur anderen Seite sah er ein paar leere Dosen Bier liegen, die konnte er unmöglich alle alleine getrunken haben. An einem Ast hing seine Jacke, die musste er gestern Abend auf Grund des wärme spendenden Feuers dort hin gehangen haben. Er nahm sie herunter und bemerkte, dass sich etwas in seiner Innentasche befand. Er zog eine volle Dose Bier und einen Zettel heraus. Hastig öffnete er das zusammengefaltete Papier und las die für ihn bestimmte Botschaft:

“Sorry, ich konnte nicht anders.

Ich musste weg, halt die Ohren steif.

Franky“

 

Ein lautes zischen ertönte und Bier spritzte aus der geöffneten Dose heraus. Ben genehmigte sich erst einmal einen großen Schluck und setzte sich wieder hin. Im Geiste ging er nun seine Situation durch. Er war mitten in einem Wald ungefähr 200 Kilometer von seinem zu Hause entfernt. In drei Stunden hätte er auf seiner Arbeitsstelle erscheinen müssen, oder aber wie gestern seinem Chef auf den Anrufbeantworter gesprochen, wegen akuter Rückenprobleme zu einem Arzt gehen sollen. Der Typ mit dem, oder besser gesagt der ihn in diese Situation hineingebracht hatte, war so plötzlich wie er aufgetaucht war auch schon wieder verschwunden. Das Einzige was er ihm da gelassen hatte, war eine Dose Bier und ein Zettel über den er nun viel nachdenken musste. Was sollte das heißen: Ich konnte nicht anders. Ich musste weg, überlegte Ben und trank dabei den letzten Rest Bier aus der Dose.

 

Ben fühlte sich wie gelähmt, er wusste gar nicht, was er als nächstes tun sollte. Wohin sollte er gehen? Ihm war kalt, er war müde und irgendwie noch immer ein bisschen betrunken. Ein Griff in seine Hosentasche verriet ihm, dass er wenigstens noch seine Papiere bei sich hatte. Ganze 42 Euro zählte er zusammen, mal sehen was er damit anfangen konnte. Langsam kam die Dämmerung, der Wald mit seinen dichten Bäumen um ihn herum ließ erstes Licht  auf den Boden fallen. Schon als Kind war er nicht gerne im Wald bei Dunkelheit gewesen, ihm war ein bisschen unbehaglich zu Mute. Er fühlte sich innerlich total verletzt, völlig ausgebrannt. Hatte er Franky so falsch eingeschätzt? Wie konnte er ihn hier im Stich lassen, was war das überhaupt für eine Situation?

Ben rührte sich nicht von der Stelle, er war total leer im Kopf. Zum ersten Mal hatte er sich gestern als er mit Franky loszog so richtig gut gefühlt. Klar hatte er sich seine Sorgen wegen der Krankmeldung und so weiter gemacht, aber er dachte, dass sich das schon alles irgendwie hätte einrenken lassen. Franky hätte bestimmt gewusst, was man in solchen Situationen machen musste. Er wirkte so selbstbewusst, so stark und doch so unnahbar. Jetzt saß er hier, alleine im Wald, wie ein ausgesetzter Hund und war völlig leer im Kopf. Er war riesig enttäuscht, einfach absolut sprachlos.

Noch einmal sah er sich suchend um, ob er noch irgendwas vergessen haben könnte. Als er nichts mehr finden konnte, machte er sich langsam auf den Weg. Es war jetzt schon fast hell geworden, die Sonne zeigte sich nun ein klein wenig und versuchte langsam über einen Weinberg zu hüpfen. Mit jedem Meter fühlte Ben sich elender, er grübelte jetzt laut vor sich hin. Sein ganzes Leben lang war er immer korrekt, ja auch ein bisschen misstrauisch gewesen. Dieses eine Mal wollte er sich gehen lassen, den ganzen letzten Tag hatte er gegen aufkommende Sorgen gekämpft, bis er schließlich zufrieden mit einem Bier in der Hand am Lagerfeuer eingeschlafen war. Wie eine Luftblase kam ihm das Ganze nun vor, man wacht auf und alles ist vorbei. Aber dieses war irgendwie schlimmer, er fühlte sich total beschissen und allein gelassen.

 

Seine Füße taten ihm weh, er war jetzt mindestens schon eine Stunde unterwegs. Er ging quer über Felder, meistens abseits der Strassen. Er konnte sich nicht erinnern wann er das letzte mal so viel zu Fuß gegangen war. Wahrscheinlich ist er überhaupt noch nie so viel gelaufen, Sport hasste er noch vom Schulunterricht. Zu Hause nahm er jeden Meter mit seinem Astra, in der Firma war ein Fahrstuhl und für die tägliche Kommunikation mit dem Kollegen im Nebenbüro gab es ja ein Telefon. Er war total untrainiert, je mehr er darüber nachdachte, desto mehr schmerzten seine Füße.

 

In einem kleinen Lebensmittelladen erkundigte Ben sich nach dem Weg zum Bahnhof und kaufte sich erstmal eine Cola und ein Päckchen Tabak. Das war genau das was er jetzt brauchte, einen kräftigen Zug von einer Selbstgedrehten. Zum Bahnhof war es zu Fuß noch sehr weit, die Frau sprach was von ungefähr rund zehn Kilometern. Ben sah an sich herab und jetzt wurde ihm auch klar, warum die Frau an der Kasse ein bisschen unfreundlich zu ihm war. Seine Schuhe waren total voll Schlamm, seine Hose verdreckt und selbst sah er wohl auch nicht besser aus. Was soll ich eigentlich zu Hause, eigentlich wartet bis auf meine Arbeit nichts und niemand auf mich, dachte er und ging langsam in Richtung Bahnhof. Wieder ging er die Gespräche mit Franky durch. Dann lass er noch mal den Zettel von ihm und grübelte darüber nach, warum Franky ihn einfach so hatte liegen lassen. Er konnte sich das alles nicht erklären, immer wieder kam eine Wut in ihm hoch, die kurz danach in Traurigkeit wechselte. Er schlenderte durch die Strassen und hatte das Gefühl nicht richtig voran zu kommen. Die Angst vor dem nach Hause kommen wurde mit jedem Meter stärker, allein der Gedanke an die Lüge auf dem Anrufbeantworter seines Chefs machte alles noch viel schlimmer. Ben hatte in seinem ganzen Leben noch nicht einen Tag krankgefeiert. Nur einmal war er nicht zur Arbeit erschienen, es war die Beerdigung von seiner Tante Clara.

 

Am Nachmittag mitten zur Rush Hour erreichte er den Bahnhof, die Bahnsteige waren Menschen überfüllt. Ben fühlte sich irgendwie beobachtet, überall glaubte er die Blicke auf sich zu ziehen. Eine Fahrkarte nach Hause kostete ihn achtunddreißig Euro, soviel Geld hatte er jetzt gar nicht mehr dabei. Verzweifelt suchte er nach seiner Checkkarte, er konnte sie nirgends finden. Hatte Franky sie ihm gestohlen?,  dachte er sofort. Krampfhaft überlegte er, ob dem denn so sein kann, oder ob er die Karte eventuell in seinem Auto zu Hause vergessen hatte. Nun überlegte er auch, ob Franky ihm Geld gestohlen haben könnte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie viel Geld er denn bei sich gehabt hatte. Was hatte er sich denn dabei gedacht, so ohne Geld und ohne Checkkarte, einfach ohne alles mit Franky abzuhauen? War er wirklich so naiv gewesen?

Als erstes ging er in die Bahnhofskneipe und bestellte sich ein großes Bier und drehte sich wieder eine Zigarette. Mittlerweile war er schon ganz gut darin, sie sahen jetzt beinahe wie richtig amtliche Selbstgedrehte aus. Als er den Qualm ausblies, kam ihm die Situation in der er sich befand, irgendwie bekannt vor. Vor nicht ganz achtunddreißig Stunden saß Franky allein in einer Kneipe, rauchte eine Zigarette nach der anderen und trank unermüdlich sein Bier. Er selbst saß mit seinen Freunden an einem anderen Tisch und war noch Nichtraucher, hatte einen Job und die Welt um ihn herum schien in Ordnung zu sein. Was war mit ihm geschehen, irgendetwas war heute kaputt gegangen. Er fühlte sich innerlich verletzt und ausgebrannt und schüttete ein Bier nach dem anderen in sich hinein.

 

Gut angetrunken verließ Ben gegen Abend die Kneipe und stieg in den nächsten Zug. Er setzte sich direkt ins Raucherabteil und legte die Füße gegenüber auf seinen Sitz. Kaum war er eingeschlafen, weckte ihn auch schon eine tiefe Männerstimme und holte ihn wieder in die brutale Realität zurück.

“Fahrkarten bitte“, sagte ein Typ, der so um die 25 Jahre alt war zu ihm. „Warum?“ erwiderte Ben automatisch, bis ihm die Situation klar wurde.  Das war eine Fahrkartenkontrolle, er hatte ganz vergessen sich um ein Ticket zu kümmern. Schlagartig wurde Ben nüchtern und setzte sich aufrecht hin. „Das ist jetzt aber ganz schlecht, warten sie bitte einen Moment“, sagte Ben. Plötzlich und ohne zu überlegen sprang er mit einem Ruck auf und durchquerte im Lauftempo das gesamte Zugabteil. Während er so durch den engen Gang raste, versuchte er sich seine Situation klar zu machen. Er stieß die einzelnen Wagontüren auf und rannte bis ganz nach vorne zum Lockführerhaus. Er saß in der Falle, das wurde ihm schnell klar. Hier gab es keinen Ausweg mehr, weder vor noch zurück. In diesem Moment fällte Ben eine fatale Entscheidung. Er sah den roten Griff der Notbremse noch etwa zwei Meter von ihm an der Wand entfernt einsam und allein hängen und sprang direkt darauf zu. Ein lautes dröhnen und quietschen nahm Ben war, er konnte sein Gleichgewicht nicht mehr halten und knallte mit dem Kopf nach vorne gegen die Wand.

Der Fahrkartenkontrolleur wurde durch die daraus resultierende Fliehkraft enorm in seiner Verfolgung  nach Ben bestärkt und kam ihm mit dem Kopf zuerst entgegen. Beide prallten zusammen, ein furchtbarer Schmerz durchzuckte Ben als der Zug endlich zum stehen kam. Ein bisschen orientierungslos versuchte er wieder auf die Beine zu kommen, doch der Kontrolleur hielt ihn an seiner Hose fest. „Bleib stehen, das wird dich teuer zu stehen kommen“, sagte der Kontrolleur und riss dabei unentwegt an Bens Hosenbein. Die Situation wurde immer diffuser. Ben wusste sich kaum noch zu helfen. Dann aber, mit einem unheimlichen Schlag holte Ben aus, und traf dabei den Kontrolleur mit der geballten Handoberfläche direkt am Kopf. Der Kontrolleur ließ Ben  daraufhin los und sackte widerstandslos in sich zusammen.

Sofort gingen Ben tausend Sachen durch den Kopf, bisher hatte er noch nie jemanden geschlagen. Die Wucht, die hinter seinem Schlag steckte, hätte er selbst nicht für möglich gehalten. Was war nur mit ihm geschehen, dieses ganze Szenario lief ab wie in einem schlechten Film. Der Kontrolleur rührte sich nicht mehr, um ihn herum waren Schreie zu hören und er selbst hatte Blut an der Hand. „Ich muss hier raus“ sagte er zu sich und rappelte sich auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief er durch das gesamte Abteil hindurch und stieß dabei eine vor ihm stehende Frau um. Diese fiel schreiend zur Seite und rief ihm alle erdenklichen Schimpfwörter nach. „Ich muss einfach nur hier

raus“, sagte Ben sich immer wieder. An der Ausstiegstür angekommen, betätigte Ben den Türöffner und sprang hinaus ins Freie.

 

Es war merklich kühl geworden, Ben rappelte sich auf und lief quer über die Gleise. Immer wieder lief in seinem Kopf das soeben Geschehene vor ihm am, während er höllisch darauf bedacht war, nicht zu stolpern. War er jetzt ein Krimineller, gar ein Mörder?  dachte er angestrengt nach. Er hatte den Kontrolleur ins Gesicht geschlagen. Dieser fiel in sich zusammen und regte sich nicht mehr. Blut war noch an seiner Hand, das während er lief langsam zu trocknen begann. Niemand schien ihm zu folgen, er drehte sich um und sah, dass er sich allein in einem grenzenden Waldstück abseits der Gleise befand.

 

Wo er war, wusste er nicht. Er sah auf seine Armbanduhr und stellte erschrocken fest, dass sie nicht mehr da war. Einfach weg. Nur die etwas erbleichte Stelle an seinem Handgelenk, dort wo noch nie ein Sonnenstrahl zuvor hingekommen war, zeigte die Umrisse seiner nun nicht mehr vorhandenen silbernen Citizen Titanium Uhr.

Die Uhr war ein Geschenk seines Vaters zu Bens achtzehntem Geburtstag. Sie war sein ein und alles. Sie war das letzte Geschenk, das er von seinem Vater bekommen hatte.

 

Sein Vater hatte die Familie schon früh verlassen. Als Ben ungefähr zehn Jahre alt war, hatte er sich aus dem Staub gemacht. Eines Abends sagte sein Vater, er gehe noch auf ein Bier raus. Dies war eigentlich nichts außergewöhnliches, das tat er mindestens alle zwei bis drei Tage schon mal. Dem Bier stand er stets offen gegenüber, wenn er des Nachts spät nach Hause kam, sang er fröhliche Lieder. Er hatte sich eigentlich bis zu dieser Zeit ganz gut mit seinem Vater verstanden, auf einmal war er nicht mehr da. Später als sie die Suche nach ihm aufgegeben hatten, meldete er sich aus heiterem Himmel an einem sonnigen Mittwochnachmittag bei Ben. Ben war jetzt um die zwölf Jahre alt, er war gerade dabei mit seinen Freunden zum Fußball zu gehen. Ein Auto näherte sich und sein Vater stand plötzlich in seiner ganzen Größe vor ihm. „Mensch bist Du groß geworden, lass dich mal richtig anschauen“, sagte Bens Vater und roch dabei stark nach Alkohol. Sein Vater nahm Ben in den Arm und fragte ihn nach seiner Mutter aus. Wie es ihnen denn so gehe, ob sie denn gut zu recht kommen würden. „Hat Mutter schon wieder einen Neuen?“, wollte er danach noch wissen. Auf die ersten Fragen von Ben, wo er denn die ganze Zeit gewesen sei, wich sein Vater ihm gekonnt aus. Es entwickelte sich ein Small Talk in seiner wirklich schlechtesten Art. Ben erinnerte sich, wie seine Freunde langsam weiter zogen und ihre Nasen rümpften, da auch sie Vaters Alkoholfahne war nahmen. Sein Vater kam in einem verbeulten Opel Ascona angebraust, hatte einen schlechten Nadelstreifen Anzug aus den siebziger Jahren an und trug schwarze Stiefeletten. Er roch stark nach Alkohol und wirkte sehr ungepflegt. Wie lange hatte er sich danach gesehnt, ihn einmal wieder zusehen. Aber das was an diesem Mittwochnachmittag ihm gegenüber stand, war nur eine peinliche Kreatur dessen,  was sein Vater einmal für ihn gewesen war. Erst später wurde ihm klar, dass er in großen Schwierigkeiten gesteckt haben musste.

Sein Vater versank immer mehr im Alkohol, hinzu kam eine ausgeprägte Leidenschaft dem Pokerspiel gegenüber. Er versetzte sein letztes Geld, flog aus seiner damaligen Wohnung raus und landete irgendwann wegen Raub und Diebstahls im Knast. Danach brach der Kontakt wieder völlig ab. Seine Mutter verbat Ben jegliche Kontaktaufnahme. Auf Bens achtzehntem Geburtstag traf ein kleines Päckchen ein, es beinhaltete die Uhr und eine kurze Nachricht seines Vaters.  „Herzlichen Glückwunsch, mein nun erwachsener Sohn. Macht Euch keine Sorgen um mich, mir geht es wieder gut. Bitte sucht nicht nach mir, es ist besser so.

Dein Vater Hardy.“ 

Aber eines hatte er nie vergessen, Bens Affinität Uhren gegenüber. Dafür hatte Ben sich immer schon begeistern können.

Nun aber war sie nicht mehr da, entweder hatte der Schaffner sie ihm bei der Rauferei von eben entwendet, oder er hatte sie verloren.  

 

Wenn er über seine jetzige Situation nachdachte, wurde ihm auf einmal etwas bewusst. Alles das, was ihm lieb und teuer war, was ihm je etwas bedeutete, konnte genauso schnell auch wieder verschwinden. Erst sein Vater, die Erinnerung an ihn waren eine Uhr und ein kurzer letzter Brief. Dann war es jetzt Franky, der aus heiterem Himmel so wie er kam auch wieder verschwand. Übrig gelassen hatte er ein paar unerklärliche Zeilen des Abschieds auf einem Stück Papier und eine Dose Bier. Und jetzt auch noch seine Uhr, die ihm doch so viel bedeutete und jetzt nur noch einen weißen Abdruck hinterließ. Das war einfach zuviel für Ben, er setzte sich hin und drehte sich wieder eine Zigarette. Während er den Rauch ausblies, liefen erste Tränen über Bens Gesicht. Alles kam ihm jetzt wieder hoch, er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nicht so beschissen allein gefühlt.

 

Ben dachte wieder über den Zug nach, an den Schaffner, den er eventuell sogar getötet hatte. Konnte das denn wirklich sein? Das hatte er nicht gewollt, wie konnte es nur so weit kommen, dachte er und ging durch den langsam immer dunkler werdenden Wald in Richtung einer Lichtung voran.

 

Auf einer Anhöhe ungefähr noch zwei – drei Hundert Meter entfernt, entdeckte Ben eine Holzhütte. Es brannte zwar kein Licht, aber je näher er ihr kam, desto einladender wirkte sie auf ihn. Dort angekommen, drehte er am Türknauf der sehr massiv aussehenden Holztür, aber öffnen ließ sie sich natürlich nicht. Er klopfte vorsichtshalber noch einmal an, auch wenn er gleich wusste, hier bestimmt keine Antwort zu bekommen. Er ging einmal ganz um die Hütte herum und blieb vor einem der Fenster stehen. Beim durch spähen konnte er nicht viel erkennen, nur soviel, als das die Hütte voll eingerichtet und mit einer Küche versehen war. Ben verspürte plötzlich ein starkes Hungergefühl und stellte sich einen dampfenden Kessel Suppe darin vor. Das alles schien auf einmal ganz nah zu sein, irgendwie musste er jetzt nur noch in diese Hütte hineinkommen.

Ein lautes Scheppern erklang, Glassplitter fielen zu Boden und verteilten sich im Inneren auf einer kleinen Anrichte. Ben hatte den erst besten Stein genommen und ihn einfach in das noch geschlossene Fenster geworfen. Jetzt brauchte er nur noch den Griff umzulegen und schon konnte er hinein klettern. Im Innern angekommen sah er sich gründlich um und fand noch frische Lebensmittel vor. Der Kühlschrank war angeschlossen und mit Milch, Wurst und Käse gefüllt.  Ben schaute sich die kleine Hütte genauer an. An den Wänden hingen gerahmte Bilder mit naiver Landschaftsmalerei, eine kleine runde Lampe baumelte von der Decke fast bis auf den Esstisch herab. Der Boden war auch aus Holz und schon lange nicht mehr sauber gemacht worden. Essensreste lagen unter dem massiven Tisch, in einer Ecke stand eine Vase mit einer schon lange nicht mehr bewässerten grünen Pflanze.

Ben öffnete eine weitere Tür und befand sich auf einmal in einem Schlafzimmer. Das Bett war nicht gemacht, und auch sonst sah alles sehr unordentlich aus. Er öffnete einen Kleiderschrank, an einem Bügel hing eine Bluse und eine schwarze Jeans lag lieblos zusammengeknüllt auf einem Zwischenbrett.

Ben musste kurz auflachen, es hätte auch sein eigener Schrank sein können.

Beim genaueren Hinsehen fiel Ben auf, das die Lebensmittel im Kühlschrank schon seit einer Woche das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hatten. Nur einige Konserven im Mittelschrank einer Küchenzeile zeigten noch mehrere Jahre Laufzeit an. „Also Eintopf“, gab er laut von sich und entleerte eine Dose passierte Tomaten in einem weißen Kochtopf.

Der Duft von einer Art Chili con Carne nur ohne Hackfleisch durchzog die kleine Holzhütte. Draußen war es jetzt schon fast ganz dunkel geworden. Schwere Regen bringende Wolken zogen auf und ein kleiner Blitz machte die Küche für einen Bruchteil von Sekunden taghell. Ben versuchte nicht an draußen zu denken, er rührte in aller Ruhe mit einem Holzlöffel in seiner Suppe und versank in seinen Gedanken.

“Ein bisschen Salz fehlt noch“, bemerkte er und gab eine Priese hinzu. Ein leises aber immer lauter werdendes Schellen unterbrach Bens Gedankenwelt und riss ihn aus seinen Träumen. Ein Telefon, hier in dieser Hütte? ging es ihm durch den Kopf. „Wo bist du denn, hier, nein, ah hier also“, sagte er und sprach laut vor sich hin. Wie versteinert blieb er vor dem schellenden Telefon stehen, es lag unter dem großen Doppelbett. Sollte er drangehen, sollte er nicht längst verschwunden sein? -  Was soll ich jetzt tun, draußen gewittert es, das Essen ist so gut wie fertig und hier am Arsch der Welt mitten im Wald  läutet einfach  ein Telefon, dachte er angestrengt nach. Es schellte und schellte, ungefähr noch zwanzig Mal bis es von selbst verstummte. Das war kein gutes Zeichen, in dieser Hütte wurde irgendwer erwartet. Ben beschloss trotz der Dunkelheit und des Wetters nach dem Essen von hier abzuhauen. Ihm wurde ein bisschen mulmig zumute, es war ihm etwas unheimlich. Dennoch hätte er gerne gewusst, wer da wen hier am Apparat im Haus vermutet hatte.

 

Das Essen war heiß und lecker. Ben wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Er löffelte die Suppe direkt aus dem Topf, dass Telefon begann wieder zu schellen. Ben ließ den Löffel in den großen Topf gleiten und ging zum Telefon. Wieder überlegte er, ob er einfach dran gehen sollte. Derjenige der anrief, würde ja bestimmt nicht sofort hier auf der Matte stehen. Vielleicht konnte er sich irgendwie rausreden und etwas über den Eigentümer dieser Hütte erfahren. Ben nahm den Hörer in seine nun etwas zittrige Hand und sagte, „Hallo? Wer ist denn da?“  -  „Na endlich, wo warst Du denn den ganzen Tag? Ich habe schon tausend Mal angerufen, lass uns die Sache jetzt zu Ende bringen. Wie vereinbart liegt alles in der Tonne, nimm es und verschwinde“, sagte eine ältere aber bestimmt klingende Männerstimme am anderen Ende der Leitung. Ben wusste gar nichts darauf zu antworten, das einzige was ihm einfiel war die Frage:

“Wo?“

“In der Tonne, man, bist du bekloppt? Das haben wir doch alles besprochen. Beweg deinen Arsch vor die Tür, nimm es und haue ab. Alles klar?“ Danach war die Verbindung beendet.

Ben ging zurück zu seinem Suppentopf und fischte mit Hilfe einer Gabel seinen bereits abgetauchten Suppenlöffel wieder nach oben. Was meinte der Typ, in einer Tonne, danach verschwinde. Was sollte das, ging es Ben durch den Kopf und er merkte, wie er langsam immer unruhiger wurde. Ben stellte den Topf beiseite, öffnete die Hüttentür und spähte nach draußen in die Dunkelheit.  Es regnete, ab und zu erhellte ein Blitz dicht gefolgt von lautem Donnergrollen die unmittelbare Umgebung. Das war kein Wetter, um von hier zu verschwinden. Was sollte er jetzt tun?, dachte Ben angestrengt nach. Nach einem weiteren Donnerschlag wurde es für den Hauch einer Sekunde wieder taghell. Bens Blick fiel nun direkt auf eine große blaue Tonne, die links neben einer sich tapfer gegen den  Wind stemmenden Kiefer stand. Meinte der Mann diese Tonne? Was sollte da schon drin sein? überlegte Ben und ging im Geiste noch einmal dieses kurze Telefonat durch. „Lauf“ schrie er sich selbst zu und raste über den glitschigen Waldboden bis hin zur blauen Tonne. Der Deckel ließ sich leicht abnehmen, beim hineingreifen  bekam er etwas Schweres, Kofferähnliches zu fassen. Ben zog den Gegenstand heraus und ohne ihn zu betrachten lief er zurück zur Hütte. Mit schlammigen Schuhen, nassen Haaren und einem durchnässten Sweatshirt legte er den Koffer auf den Küchentisch und setzte sich auf den Stuhl. „Was haben wir denn da?“, sagte Ben und öffnete das kleine goldene Koffer Scharnier.

Ben stockte der Atem, der Anblick der vielen kleinen und großen Geldscheine übersteigerten seine Sehkraft. Schnell drückte er den Deckel des Koffers wieder runter, um ihn im gleichen  Moment wieder zu öffnen. „Was ist das denn?“, entfuhr es ihm und er nahm einen dicken Bündel fünfzig Euro Scheine in seine Hände.

 

“Das ändert natürlich einiges“, sagte er zu sich selbst und fing fast schon ein bisschen hysterisch zu lachen an. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu grölen, fast schon ein wenig wahnsinnig begann er den Inhalt im Koffer umzuwühlen. Alles Geld, lauter zehner, zwanziger, fünfziger und auch hunderter Scheine kamen zum Vorschein. Blitzartig jedoch schlug seine ausgelassene Stimmung schnell wieder ins Gegenteil um, denn seine jetzige Situation, in dieser fremden Hütte mit dem mysteriösen Geldkoffer, kam ihm doch etwas befremdlich vor.  Wieder schaute er reflexartig auf sein Handgelenk, doch immer noch war nichts als ein weißer Fleck zu sehen. „Scheiße, wie spät wird es wohl sein?“ entfuhr es ihm. Ein prüfender, suchender Blick durch die Küche gab ihm keinen Aufschluss über die genaue Uhrzeit. „Du bist  voll Uhrabhängig“, schimpfte er mit sich selbst. „Ist doch egal wie spät es ist, hau einfach ab“, sagte er schon fast vorwurfsvoll.

 

Ben packte seine sieben Sachen, machte den Geldkoffer zu und stellte den Teller auf die Spüle. Er drehte sich noch einmal im Kreis, um wirklich sicher zu gehen, dass er nichts vergessen hatte.  Was wusste er auch nicht so genau, schließlich war er mit nichts gekommen und stand nun mit einem prall gefüllten Aktenkoffer und einer wärmenden Suppe im Bauch im Rahmen der geöffneten Holztür.

 

Zwei graue Gestalten, ein dumpfer Schlag und ein verschwommenes Stimmgewirr, dass war alles, an was er sich erinnern konnte.  Seit ungefähr einer viertel Stunde quälte ihn ein Polizeibeamter mit immer den selben Fragen. Ben hatte noch den Schlaf in den Augen. Irgendwie schien alles in der tiefen Dunkelheit aus der er gerade erwacht war, zurückgeblieben zu sein. Ben hatte das Gefühl, als würde der Beamte an seinem Bett in einer fremden Sprache auf ihn einreden.

Zuerst hatte er gar nicht verstanden, wo er sich überhaupt befand, welcher Tag heute war, oder auch nur den Kontinent auf dem er lebte erraten. Ganz langsam und behutsam versuchte eine nette Schwester, sie mag um die dreißig gewesen sein, ihm auf die Sprünge zu helfen. Erst nachdem Ben seinen vollständigen Namen, sein Alter und sogar seine Adresse laut aufsagen konnte, ließ sie den etwas dicklichen nach kaltem Zigarettenrauch riechenden Polizeibeamten in grüner Uniform und Pistole am Halfter in sein Zimmer an sein Bett heran.

“Was hatten Sie in dieser Hütte mitten im Wald nähe Bitburg zu suchen? Wie lange waren Sie schon dort, bevor sie bewusstlos wurden? Können Sie uns irgendeinen Hinweis auf Fremdeinwirkung, Täterprofil oder Tathergang geben?“

Für Ben waren es eindeutig zu viele Fragen. Das Erste was ihm einfiel, war die Frage nach der Uhrzeit und wie lange er schon hier im Bett liegen würde. Daraus ließe sich eventuell schließen, was wie wann und wo geschehen ist. „Heute ist Mittwoch, der achtundzwanzigste April und es ist jetzt genau zehn nach zwölf“, sagte der nun mittlerweile wohl ziemlich genervte Polizeibeamte. Demnach musste er mindestens schon zwei Tage hier liegen, zählte Ben die Tage schnell nach. „Außerdem würden wir gerne von ihnen wissen, ob sie vor zwei Tagen mit dem ICE aus Trier kommend Richtung Köln unterwegs waren. Mehrere Zeugenaussagen sowie genaue Täter Beschreibungen die auf sie zutreffen könnten, ich sage das extra betont im Konjunktiv, legen die Vermutung nahe, das sie im Zug die Notbremse gezogen und später einen Schaffner bewusstlos geschlagen haben sollen“, fügte der Polizist nicht ganz ohne Häme hinzu.

 

„Er ist nicht tot?“, schrie Ben und saß nun fast senkrecht in seinem Bett. Ohne zu überlegen ist ihm dieses Schuldeingeständnis wohl etwas zu schnell über die Lippen gekommen. Sich dessen bewusst, lief Ben rot im Gesicht an und schaute sich reflexartig im Krankenzimmer nach einer Auswegmöglichkeit um. „Da haben wir es ja, ich darf das doch als ein klares JA auf meine Frage hin interpretieren?“, insistierte der Polizeibeamte und drückte Bens Arm jetzt ein wenig, so als wolle er ihn an einer möglichen Flucht hindern. „Ich denke, sie haben uns jetzt einiges zu erklären, Herr Taler. Schwarzfahren, das Ziehen der Notbremse eines Intercitiy Zuges sowie der körperliche Übergriff, der als versuchter Totschlag ausgelegt werden kann, können sie einige Jahre im Bau kosten. Dazu kommt noch die Menge an Kokain, die bei weitem jeden Eigenbedarf eines Abhängigen übersteigen würde. Man hat ungefähr zweihundert Gramm bei ihnen gefunden. Außerdem ist uns in der Zwischenzeit bekannt, dass man in Ihrer Wohnung in Ohligs eingebrochen und ebenfalls Kokain in noch nicht gemessenem Ausmaß gefunden hat. Eigentlich war zunächst gar nicht von einem Einbruch die Rede gewesen, aber eine Nachbarin hat verdächtige Geräusche in Ihrer Wohnung gehört und die Polizei alarmiert. Der oder die Täter sind mit einem Wohnungsschlüssel in ihre Wohnung gekommen, haben diese ein bisschen verwüstet, ein paar Schubladen aufgerissen und wahrscheinlich auch was mitgehen lassen. Was können wir aber nicht sagen, wir haben nur auch dort wieder Spuren von Kokain gefunden“, beendete der Polizist seinen Monolog.

Ben blieb die Spucke im Halse stecken, er bekam einen fürchterlich trockenen Mund und griff nach dem Wasserglas, welches in armesweite auf dem Tisch rechts neben ihm stand. Die Zeit des Trinkens nutze er, um sich seiner Situation bewusst zu werden. Was war da passiert, wie passt das alles zusammen? dachte er angestrengt nach und nahm in diesen kurzen Sekunden des Grübelns das Glas nicht von seinen Lippen. „Eingebrochen mit einem Wohnungsschlüssel?“, fragte Ben fast schon ein wenig erstarrt nach.

“Wo ist denn mein Schlüssel?“, fügte er noch hinzu.

„Wir haben nichts dergleichen bei ihnen gefunden, sie hatten ein Portemonnaie mit noch zwölf Euro achtzig und einem Personalausweis bei sich. Ein Schlüssel war nicht dabei“, ergriff die Krankenschwester das Wort. Ben war froh über diese kleine Einmischung der Schwester, er fühlte sich schon ein bisschen in die Enge getrieben von dem Beamten in grün. Die hübsche Schwester lockerte die Situation ein wenig auf, Ben bemerkte wie der Polizist der Krankenschwester einen bösen Blick zu warf. „Sie sollten jetzt wirklich gehen, der Patient braucht Ruhe und sollte jetzt etwas schlafen“, setzte sie noch nach. „Fünf Minuten habe ich ihnen Zeit gegeben, bitte kommen sie morgen wieder“, schimpfte sie den Beamten jetzt sogar an. Ben witterte seine Chance und stellte sich etwas kränklicher als er in Wirklichkeit war. Er ließ seine Augen zufallen und blinzelte hin und wieder einen von beiden mit müdem Ausdruck an.

“Ich komme morgen wieder, eventuell schicke ich gleich noch einen Kollegen vorbei. Wir sollten darauf achten, dass unser kleiner Gauner nicht das Weite sucht“, sagte der Polizist und verließ ohne tschüß zu sagen den Raum.

“Da hast Du aber ganz schön was am Bein. Ich bin die Birte, also wenn ich dir irgendwie helfen kann?“, sagte die Schwester und setzte sich fast schon ein wenig zu vertraut auf Bens Bettkante. Ben wusste gar nichts mehr, die kleine Birte schien ihm jetzt schon den Kopf zu verdrehen. Was wollte sie von ihm, von einem kriminellen der unter Fluchtgefahr stand. So ein hübsches Mädel setzt sich doch nicht einfach auf die Kante eines Krankenbettes in dem ein Verbrecher liegt?, dachte Ben.

Auf flüchtige Bekanntschaften hatte er keine Lust mehr, sein Bedarf daran war seit Frankys Verschwinden vorläufig gedeckt. Dennoch erregte ihn diese Birte, wie sie so da saß mit ihren langen blonden Haaren und ihrer sehr femininen Figur. In ihrem weißen Kittel saß sie wie ein Engel vor ihm, angeflogen, ja angeschwebt von einem anderen Stern, der genau zum richtigen Zeitpunkt  bei ihm gelandet war. Ben starrte sie an, er konnte seinen Kopf gar nicht mehr von ihr wenden. Mit seinen Augen begann er ihren Körper abzuscannen, jede einzelne Facette von Kopf bis Fuß. Birte bemerkte dies natürlich und wurde leicht rot im Gesicht. Das gefiel ihm noch mehr, wie sie so unschuldig vor ihm saß und ihr die Röte zu Kopfe stieg. „Ich kann mich an nichts erinnern“, brachte er schließlich hervor und bemerkte, wie Birte seine Hand berührte. Zuerst nahm er nur ein kitzeliges Zittern wahr, kleine etwas feuchte Finger berührten langsam seinen Handrücken und schließlich seine ganze Hand. Birte saß nun mit dem Ellbogen aufgestützt auf Bens Bett und ließ ihre Hand unter seine Decke gleiten. Alle Müdigkeit, die Vorgetäuschte sowie die Echte waren aus Ben verschwunden. Er war sehr erregt, ließ Birtes Hände  über seinen Körper gleiten. Ihm wurde heiß unter der Decke, und er merkte wie ihm der Schweiß von seiner Brust bis hinunter in den Bauchnabel lief und eine Gänsehaut sich über seinen ganzen Körper vollzog. Ben kannte solche Szenen bisher nur aus dem Fernsehen, etwas hilflos ließ er sich zurückfallen und gab sich widerstandslos Birtes Verführungskünsten hin. Sie begannen sich zu küssen, ihre Zungen berührten sich und schienen ineinander zu verschmelzen. Ben zog Birte ganz auf das Bett, sie wälzten sich küssend von links nach rechts ohne auch nur einmal voneinander abzulassen.

Plötzlich aber zog Birte ihren Kopf beiseite und gebot ihrer wilden Liebelei ein Ende. 

In einem bestimmt klingenden aber auch entschlossenen Ton flüsterte sie Ben ins Ohr: „Du kannst mich haben, alles was du willst. Aber als erstes, lass uns von hier verschwinden…“

 

 

ENDE

 

Ein bisschen Werbung in eigener Sache...
DER ROTWEINFLECK
Bei Interesse, hier bitte nachsehen :-)
http://www.lulu.de/content/985771

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Mark R.).
Der Beitrag wurde von Mark R. auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.03.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Mark R. als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die goldene Bahre der Inkas von Peter Splitt



Eigentlich beabsichtigte Roger Peters, Inhaber einer Reiseagentur für Abenteuerreisen, ein paar ruhige Tage in Lima mit seiner peruanischen Freundin Liliana zu verbringen, bevor er zu abgelegenen Andenregionen zwecks Erkundigung neuer Reiserouten aufbrechen wollte. Das Auftauchen wertvoller antiker Kulturobjekte und das gleichzeitige mysteriöse Verschwinden eines befreundeten Kunsthändlers aus der Antikszene, stürzen Roger Peters jedoch in unvorhergesehene Abenteuer. Er begibt sich mit seinen Freunden auf die Suche nach alten Inkaschätzen und sieht sich schon bald mit einer international operierenden Hehlerbande für antike Kulturgüter konfrontiert

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Mark R.

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Heimspiel von Mark R. (Wie das Leben so spielt)
Die Natur und ihre Launen von Helmut Wendelken (Wie das Leben so spielt)
So ändern sich die Zeiten von Norbert Wittke (Alltag)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen