Die kühle Brise des Morgenlandes streichelt sanft über mein Gesicht. Sie katapultiert mich mit einem Mal in die Schauplätze von Tausend und einer Nacht. Eine Welt mit der ich nichts anfangen kann. So gerne ich es auch möchte. Eine Welt, mit der mich nur meine Wurzeln verbinden. Eine Welt, in die man mit dem europäischen Denken nur schwer eintauchen kann. Trotzdem versuche ich zu tauchen. Der türkische Mocca macht mich indes auf Sinne aufmerksam, von deren Existenz ich bis dato nichts wusste. Sinne, die weit entfernt von den Gleichungen des Abendlandes angesiedelt sind. Sinne, die das ganze Fassungsvermögen des Herzens abverlangen. In Ortaköy zu sitzen (auf dem europäischen Teil Istanbuls) und über den Bosporus in die Eingangstore des Morgenlandes zu blicken ist ein unvergleichliches Erlebnis. Spreche zu mir:
„Oh, Du verdammter Türke was ist das bloß für ein Dasein. Du fühlst dich fremd in Deinem eigenen Lande. Bist hoffnungslos überfordert ihre Worte zu verstehen. Deine Geborgenheit ist nur gespielt. Deine Gestiken wirken mehr als nur verspielt. Du bemitleidenswerter, erbärmlicher Halbtürke. Nur Dein Name und Deine Verwandten verbinden Dich noch mit diesem geheimnisvollen Landstrich. Du willst eintauchen in diese Welt? Du willst in ihr ertrinken? Nur zu!“
Ich stehe auf.
„Istanbul Du bist groß! Istanbul Du bist ungerecht und brutal! Istanbul Du bist unermesslich reich und mysteriös! Nimm mein Herz und zeig mir die noch unbekannten Schauplätze meiner Wurzeln. Ich gebe Dir ein paar Gleichungen des Abendlandes und Du gibst mir was von deiner transzendenten Weisheit. Istanbul erhöre meine Worte, und trage mich an Deine schönsten Orte.“
Setze mich wieder hin.
Ich sitze schon seit drei Stunden hier. Ein europäisches Bauwerk im viktorianischem Stil, das in ein Café umgebaut worden ist. Habe schon drei türkische Moccas intus und so langsam beginnt mein Herz zu flattern an.
„Flieg Herz, flieg, weit hinaus in die Geheimnisse des Halbmonds. Kehre erst wieder zurück wenn du vor Leidenschaft überquillst.“
Mein gottverdammtes Handy klingelt. Meine Vernunft schreckt auf und fährt sogleich hoch. Sie überlagert mein Herz. In diesem Moment ist das für mich mehr als ein riesengroßer Schmerz.
Ich bin verabredet mit meinem Cousin und ein paar Studenten aus der Marmara Universität. Sie wollen mit mir in das Nachtleben von Istanbul eintauchen. Ich verlasse mit Schwerwut das Café. Hätte am liebsten den ganzen Tag dort verbracht. Die Dämmerung bricht ein. Der Gesang des Muezzins ist aus allen Himmelrichtungen zu hören. Sehe auf der Straße Menschen die flüsternd Gott beschwören. Setze mich in ein Taxi und lass mich nach Beyoglu chauffieren. Unterwegs sehe ich am Straßenrand Leute die verkleidet sind als Janitscharen. Die Elitetruppe der Osmanen. Sie wirken heute wie einst früher die Schamanen. Das Neue und das Alte. Das ist Istanbuls tiefste und schönste Falte. Ich steige aus dem Taxi. Der Fahrer macht einen Scherz. Ich lache und gebe reichlich Trinkgeld. Er macht noch einen Scherz. Ich sage zu ihm:
„Kauf deiner Frau mit dem Restgeld einen schönen Nerz.“
„Istanbul ist am schönsten im März!“ sind seine letzten Worte.
In Deutschland bin ich für die meisten nur ein Kanake. In Istanbul bin ich auch nur ein Kanake. Ein Euro-Kanake mit kostbaren Devisen in der Tasche.
Ein kleiner Junge zupft an meiner Hose und fleht mich an meine Schuhe putzen zu dürfen. Seine olivengroßen Augen reflektieren das Leben dieser Stadt in seiner ganzen Pracht. Sein Gesicht hat Macken, wie die Straßen dieser Stadt. Er hat mit nur einem flüchtigen Blick bemerkt dass ich ein Euro-Kanake bin. In Deutschland bedarf es aber mehr als nur eines flüchtigen Blickes um mich als Kanaken zu entlarven. Doch die Mühe machen sich nur wenige Europäer. Sie urteilen lieber mit ihrem geschulten Verstand schon im Voraus und lassen somit den Dialog im Keim ersticken.
„Kennst du einen Kanaken, kennst du alle. Ich suche den Dialog lieber auf Malle!“
Scheiß pauschale Verallgemeinerungen. Scheiß Vorurteile. Nimm sie in die Hand und zerhack sie in tausend Teile. Pauschale Verallgemeinerungen kann man sehr schön verpacken und verschicken. Die Realität sieht „leider“ ganz anders aus. Sie kann man nicht so einfach einpacken. Man kann sie nur einpacken, wenn man ihre Auswüchse miteinander verschmilzt und sie zu einem wohlgeformten Klumpen modelliert.
Bin von der Geschichte abgekommen. Ich muss einfach vom Geist des Kanaken entkommen. Gesagt getan, dieser kleine Schuhputzer hat es mir einfach angetan.
Bevor ich etwas unternehmen kann, klebt er schon an meinem linken Fuß und putzt fleißig. Ich knappe dreißig und der Schuhputzer gerade einmal 1/3 von dreißig. Unendlicher Scham bereitet sich in mir aus, als ich diesen ärmlich gekleideten Jungen vor mir unterwürfig zappeln sehe. Er sollte jetzt zuhause sein und seine Hausaufgaben machen. Er sollte mit seinen Freunden im Hinterhof Ball oder Murmeln spielen. Doch dieser kleine Junge muss höchstwahrscheinlich helfen seine Familie zu ernähren.Er muss sich Tag für Tag in dieser ungerechten Welt bewähren. Energisch ziehe ich meinen Fuß weg und schreie ihn mit meinem gebrochenen türkisch an. Der Schuhputzer reagiert gelassen. Zu oft diese Worte schon gehört. So oft, dass er jedes Mal sicher an seinem Gehör zweifelt wenn jemand ihn höflich behandelt.
Er streckt mir seine vernarbte Handinnenfläche entgegen und wartet auf die Entlohnung. Wie er dabei eine Ruhe ausstrahlt, eine Ruhe die ich bis dahin nur bei eingefleischten Buddhisten gesehen habe. Einfach nur erstaunlich.
Ich gebe ihm das Fünfzigfache und zwinge ihn ein Versprechen abzugeben.
„Kauf Dir von einem Teil des Geldes Schulbücher und lass Dir von der Apotheke eine Salbe gegen den Ausschlag in deinem Gesicht und deinen Armen geben. Einen Teil davon gibst Du deiner Mutter. Hast Du mich verstanden?“
Er nickt nur leicht und freut sich über den soeben geknackten Jackpot und verschwindet mit der Kiste am Rücken in der Menschenmenge.
„Diese Euro-Kanaken sind doch so was von naiv!“
glaube ich in diesem Moment eine Stimme zu hören. Dieser kleine Schuhputzer hat mehr Lebensweisheit als ein studierter Philosoph.
Wer bin ich denn überhaupt? Wer gibt mir eigentlich das Recht Istanbuls Kindern Ratschläge zu erteilen. Istanbul Du bist brutal. Der Zustand Deiner Kinder ist fatal. Diese Kinder sind für Deine Zukunft fundamental.
Als ich endlich am vereinbarten Treffpunkt ankomme, bin ich schon total erschöpft von der eigenen Gravitation dieser Stadt. Sogleich gehen wir in das Café der Engel (Melekler Kahvesi). Wir wollen unsere Zukunft wissen. Auch wenn sie sein sollte total beschissen. Die WahrsagerInnen wirken schon beim ersten Anblick sehr gerissen. Trinke den vierten Mocca innerhalb von wenigen Stunden. Mein Magen beschwert sich über die vielen Wunden. Stelle die Tasse auf den Kopf und warte bis der sandige Kaffeesatz mein Schicksal zeichnet. Endlich bin ich an der Reihe. Meine Zukunft ist voll gestopft mit Vernunft. So die Wahrsagerin. Würde lieber anderes hören. Würde mir lieber wünschen, mein Leben in Zukunft nur in Leidenschaft zu tünchen. Alles nur Hokus Pokus. Wechsle sofort mein Modus.
Die Zukunft lassen wir hinter uns. Gelassen betreten wir eine heruntergekommene Bar. Die Leute sind hier sehr sonderbar. Die Stimmung hingegen ist wunderbar. Die Band „Mor ve Ötesi“ rockt ein tolles Lied nach dem anderen. Damals waren sie noch unbekannt. Jetzt ist ihre Musik in alle Ecken des Landes entbrannt.
Trinke drei Gläser Gin-Tonic. Die Bude wirkt immer mehr wie ein nostalgischer Comic. Danach drei Gläser Wodka. Mein Kopf dreht sich – hoppla! Zum Schluss noch drei Tequilas. Vor mir tanzen drei schöne Manitas. Wir amüsieren uns köstlich. Wusste gar nicht, dass so viele Türken Piercings und Tattoos tragen. Dieser Anblick erweckt in mir kein bisschen Unbehagen. Irgendwann flüchten wir nach draußen. Die Luft, vielmehr der Rauch in der Kneipe wurde unerträglich. Versuche mich jetzt schon an die vergangenen Stunden zu erinnern kläglich.
Schwankend biegen wir in eine finstere Seitengasse ein. Ich spiele mit meinem Ring. Der Ring fällt zu Boden. Zu viel gespielt! Mühevoll beuge ich mich vor und suche nach ihm. Die Jungs sind bereits einige Meter entfernt. Irgendwann höre ich nur noch das Echo ihres Lachens. Sie gelangen wie abprallende Ping Pong Bälle von den schrägen Hauswänden zu mir. Der Ring scheint verschwunden. Ich drehe um meine eigene Achse mehrere Runden. Dann plötzlich sehe ich löchrige, schwarze Gummischuhe vor mir. Ich schrecke auf. Stehe nun Kerzengerade. Eine junge Frau, eine Zigeunerin, hält meinen verloren geglaubten Ring vor meine Nase. Ich atme tief und laut. Schaue ihr in die Augen. Sie leuchten grün wie Katzenaugen. Ich glaube ich träume. Sie sind so geheimnisvoll und grenzenlos tief. Ich gerate in einen Strudel und verliere mich in ihren Augen. Bin wie hypnotisiert. Bin bis in die Fingerspitzen elektrisiert.
„Schau weg, schau weg!“
höre ich lautstark meinen Cousin hinter mir brüllen. Es ist zu spät. Ich kann nicht, ich kann nicht ... ich kann einfach nicht.
Er reist mich zu Boden. Ich komme wieder zu mir.
„Was ist nur geschehen?“
Die anderen Jungs sind mittlerweile auch eingetroffen. Ich sehe nur besorgniserregende Gesichter um mich herum.
„Wo ist Sie hin? Wo ist Sie nur hin?“
Mein Cousin sagt nur:
„Scheiße, scheiße, scheiße! Er hat ihr länger als drei Sekunden in die Augen geschaut. Verdammt noch mal! Wie konnte das nur passieren?“
Ich wusste in diesem Moment nicht genau was er meinte.
.........
Doch jetzt weiß ich es!
Ich danke Dir von ganzem Herzen ISTANBUL!
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Der Beitrag wurde von Murad Durmus auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2007.
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