Tobias Hachmann

Am Pendel der Vergangenheit



Sein Blick ist starr auf die Pendeluhr gerichtet. In seinem Antiquitätenladen steht der Inhaber Wolfgang Sebeler zwischen den Verkaufs-Waren, deren Nostalgie ihn zum Sinnieren über die Vergangenheit inspiriert. Doch gerade diese Pendeluhr weckt in ihm Erinnerungen an den Zustand, in welchem er zwischen zwei Welten pendelt, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Dem Antiquitätenhändler kommt es vor, als schwinge der Pendel der Uhr nach links in die Richtung der Vergangenheit und nach rechts in die Richtung der Zukunft, während der konstante Ausgleich, in dem sich die beiden entgegengesetzten Bewegungen gegenseitig aufheben, eine Stagnation der Gegenwart darzustellen scheint: ein Zustand, den Wolfgang Sebeler selber in sich trägt und der für ihn zu der Zeit entstanden ist, in der er noch in einem anderen Antiquitätenladen arbeitete, der ursprünglich seinem Vater gehört hatte und nach dessen Tod  von einem Inhaber namens Magnus Minder übernommen wurde. Dort wurde Wolfgang Sebeler in seiner beruflichen Vergangenheit von seinem damals neuen Chef so sehr mit falschen Anschuldigen etikettiert, dass sein Streben, wenigstens seine Zukunft ein bisschen besser zu gestalten, allein schon durch die ihm eingeredete Unzumutbarkeit seiner angeblichen Schlampigkeit keinen Erfolg in der Gegenwart haben kann... -TICK TACK TICK TACK TICK TACK- ... und dazwischen Stagnation: auch Wolfgang Sebeler pendelt somit zwischen Vergangenheit und Zukunft, ohne sich von der Stelle zu bewegen, ähnlich wie der Pendel der Uhr, die er immer noch anstarrt und mit allen negativen Erinnerungen assoziiert, da die Bewegung ihres Pendels mit dem Verlauf seines Lebens doch so sehr über einzustimmen scheint.
Gedankenverloren versucht sich Sebeler zu trösten, sich mit einer inneren Stimme einredend, dass er sich ja mit dem Nachlass seines Vaters ein eigenes Geschäft aufgebaut habe, in dem er den Freiraum hat, über den er selbst bestimmen kann. Doch dann diese andere innere Stimme: „SEBELER!!! Was haben sie sich bei diesem Lieferschein gedacht?... die falsche Bestellung aufgegeben... “
– „Herr Minder, diesen Lieferschein habe ich niemals so...“ – „Keine Ausreden!!! Da steht ihr Kürzel drauf! Sie sollten eher darauf achten, was sie tun, anstatt sich rauszureden!!!“ Wieder so ein innerer Dialog... mit wem kommuniziert er? Mit seinem Unterbewusstsein? Keine Kommunikation mit seinem Unterbewusstsein der Vergangenheit!! BLOSS NICHT!!!.. diese alte hass-erfüllte Stimme... doch bezüglich des Satzes, mit dem er sein Unterbewusstsein der Vergangenheit beschwichtigen wollte, muss er nachträglich etwas richtig stellen: „Okay.. ich korrigiere mich... ich  habe mir ein eigenes Geschäft aufgebaut, in dem ich den Freiraum habe, über den nicht ich selber, sondern du als mein Unterbewusstsein bestimmst.“ – „Bin ich als dein Unterbewusstsein etwa kein Teil deiner selbst?“ – „Als Unterbewusstsein der Gegenwart schon, doch als Unterbewusstsein der Vergangenheit bist du lediglich der eingetrichterte Einfluss eines Mannes, der von mir ausgestellte Lieferscheine manipulierte...“.
-TICK TACK TICK TACK TICK TACK-  Dieser Pendel... ein Bild seines Unterbewusstseins, in dem er wie eine Marionette an einem Faden hin- und herschwingt, ohne sich von der Stelle zu bewegen… ein Bild des Unterbewusstseins seiner Vergangenheit, das nicht Teil seiner selbst ist… von dem er wie eine Marionette fremdgesteuert wird. „ZERREISS DIESEN FADEN!!! NUR DIE GEGENWART ZÄHLT!!!“ – „Rrrring!!! Rrrring!!! Rrrring!!!“ – noch eine weitere innere Stimme, oder zumindest ein Geräusch… Erinnerung an die Telefonate aus dem alten Geschäft „Ihre Lieferung… seit zwei Wochen schon überfällig!!!“ – „Wie? Aber laut Lieferschein…“ – „Faden zerreißen? Ich bin zwar das Unterbewusstsein deiner Gegenwart, doch kann ich nicht Teile deiner Vergangenheit aus deinem Leben löschen!“
– „Rrrring!!! Rrrring!!! Rrrring!!!“ –  wieder eine Erinnerung an ein Telefonat? Nein, diesmal kommt das Geräusch aus der Realität, und es handelt sich nicht um das Klingeln eines Telefons, sondern um die Ladenklingel. Seit nunmehr 45 Minuten steht Wolfgang Sebeler alleine in seinem Geschäft vor dieser antiken Pendeluhr und sinniert beim Anblick des monotonen Schwingens in der Sinnesüberflutung innerer Monologe über alles, was die Sehnsüchte einer heteronom gesteuerten Marionette, die zugleich ihre Freiheit verspürt, ausmachen kann. Kommt nach so langer Zeit jetzt wirklich wieder ein Kunde in den Laden? Das Klingeln der Ladentür ist für den Antiquitätenhändler ein ankonditioniertes Wecksignal. Er schreckt ruckartig aus seinem Tagtraum auf, blickt instinktiv zum Eingang seines Geschäftes... aber nein, das ist kein Kunde, der da durch die Ladentür schreitet, es handelt sich um einen Polizisten. „Schönen guten Tag... sind Sie Wolfgang Sebeler... ehemaliger Angestellter von Magnus Minder und Besitzer dieses Ladens?“ – „Ja in der Tat, das bin ich... Guten Tag“. Der Polizist schreitet näher in den Laden hinein. Nüchtern richtet der Ordnungshüter seinen Blick auf die Pendeluhr, einen Zettel aus seiner Jackentasche holend. Ein paar mal wechselt er den Blick zwischen Pendeluhr und Zettel, als wolle er irgendwelche Daten vergleichen und erkundigt sich kurz und knapp: „Marke Junghans? Baujahr 1908?“ – „Sie sind gut informiert“ nickt Wolfgang Sebeler anerkennend „..geht es um diese Uhr oder warum sind sie hier?“
- „Ja, in der Tat. Ihr ehemaliger Chef, der Herr Minder... hat Sie wegen Diebstahl von Warengut angezeigt. Diese Uhr, die hier in Ihrem Geschäft hängt, soll in einer Woche an einen von Herrn Minders Kunden geliefert werden. Sie haben den Lieferschein selber ausgefüllt, wie sie hier sehen können... vor zwei Wochen, als sie noch im Geschäft von Herrn Minder arbeiteten.“ Wie einen erschlagenden Beweis hält der Polizist dem Antiquitätenhändler den Zettel, bei dem es sich tatsächlich um einen Lieferschein mit der Unterschrift Sebelers handelt, vor die Augen. In sachlicher Manier fährt der Ordnungshüter fort, als hätte er schwerwiegende Fakten gegen Herrn Sebeler zu richten: 
- „Herr Minder hat uns gesagt, dass sie fälschlicherweise diese Uhr mit aus seinem Geschäft genommen haben, als sie dort die alten Familiensachen ihres verstorbenen Vaters zusammenkramten. Die Pendeluhr gehörte zwar ihrem Vater, war jedoch schon immer Warenbestandteil, der von Herrn Minder übernommen wurde...  folglich haben Sie die Pendeluhr zu unrecht entwendet und versuchen nun auch noch, sie in ihrem eigenen Laden zu verkaufen. Das ist nicht nur Diebstahl, das grenzt an Hehlerei.“
Der Antiquitätenhändler verliert nun seine anfängliche Unsicherheit komplett, denn nach dieser Erklärung überblickt er die Situation weit genug, um auf selbe Art und Weise Tatsachen sprechen zu lassen. Er bittet den Polizisten darum, kurz zu warten, geht in ein privates Hinterzimmer und kommt mit einen Zettel wieder, den er dem Polizisten ebenfalls mit faktischer Sicherheit vor die Augen hält. Langsam schwindet der streng nüchterne Blick des Polizisten, der sich nun eher in einen Ausdruck entschuldigender Peinlichkeit wandelte. „Nun scheint wohl festzustehen, dass ich diese Uhr überhaupt nicht gestohlen haben kann...“ konstatiert Sebeler, um die Situation zu beruhigen, „... und was diesen Lieferschein angeht, den habe ich niemals selber ausgestellt und unterschrieben, aber das ist eine andere Geschichte, die ich am besten mit Herrn Minder persönlich klären kann. Geben sie mir den Lieferschein, dann kann ich Herrn Minder am besten auf den Fehler aufmerksam machen.“ Langsam nickend überreicht der Beamte Wolfgang Sebeler den geforderten Zettel, anschließend verlässt der Ordnungshüter mit der Bitte um Verzeihung  das Geschäft.
Es dauert nicht lange, da verlässt auch Wolfgang Sebeler seinen Laden. Mit der Pendeluhr, dem Lieferschein und dem Dokument aus seiner Schublade begibt er sich zu seiner ehemaligen Arbeitsstelle. Für ihn geht es nicht darum, ein Missverständnis auf außergerichtliche Weise klarzustellen, für ihn geht es vielmehr um die Auslebung eines symbolischen Aktes, der aus den beiden Formen seines Unterbewusstseins resultiert... das Unterbewusstsein der Gegenwart gegen das Unterbewusstsein der Vergangenheit... ein Kampf, den Wolfgang Sebeler in einer Symbiose aus Gefühl und Verstand schon oft genug in seinen inneren Monologen, Dialogen und Trialogen zu entscheiden versuchte, doch ein wirklich konkretes Ergebnis erhält man erst, wenn man einen Konsens des Bewusstseins findet in diesem Streitgespräch des Unterbewusstseins. Wolfgang Sebeler ist schon oft genug in sich gegangen, um diesen Konsens zu finden, doch will er dessen Ergebnis nicht weiterhin abstrakt durch die tiefsten Windungen seines Gehirnes pressen, sondern es konkret in der Wirklichkeit erfüllen und als ein Monument statuieren... und dazu sah er nun endlich die Möglichkeit. Mit entschlossenen Schritten nähert er sich dem Antiquitätenladen Magnus Minders. Nach kurzer Zeit ist er schon angekommen, betritt direkt das Geschäft und sieht seinen Ex-Chef beim Waren einsortieren. „Herr Minder... gut dass ich sie hier so schnell antreffe. Ich glaube, wir haben da was zu besprechen“ begrüßt Wolfgang Sebeler den Mann, der ihm in der Vergangenheit das Arbeitsleben schwer gemacht hatte. Abwertend dreht sich der Besitzer des Geschäfts zu ihm um: „Tag Herr Sebeler, wenigstens haben Sie noch genug Anstand, um freiwillig vorbeikommen und die Uhr zurückzugeben. Wie ich sehe, haben sie das gute Stück dabei....“
– „Die Polizei war bereits bei mir... und dieser Lieferschein sollte wohl Beweis dafür sein, dass ich bewussten Diebstahl begangen habe. Also ich habe da noch ein zweites Dokument hinzuzufügen... das Testament meines Vaters, in welchem er diese Pendeluhr zu meinem Vermächtnis gemacht hat. Und nun sagen Sie mir... Kann ich etwas klauen, was mir selber gehört?“ Stutzig betrachtet Magnus Minder das Testament, welches ihm von seinem ehemaligen Sklaven bei diesen Worten fuchtelnd vor Augen gehalten wird. Doch noch stutziger wird sein Blick, als er sich die Pendeluhr genauer anschaut. „Der Pendel... warum ist der Pendel aus der Uhr rausgebrochen?“
 – „Ein antikes kunstvolles Uhrengehäuse, dessen Nostalgie durch ihre Schönheit alle Grenzen der Zeit vergessen lässt... darin ein Pendel, der diese Unendlichkeit der Zeit auflöst, indem er auf monotonste Art und Weise zwischen Vergangenheit und Zukunft schwingt, dabei niemals den Übergang zwischen diesen Grenzen erreicht und somit auch niemals den Wandel erfahren kann, der im Sturm der Zeit eigentlich möglich ist... obwohl das Gehäuse, in dem er sich befindet, zeitlose Sinnlichkeit verkörpert.“
- „Sebeler, was schwadronieren Sie da? Warum ist der Pendel aus der Uhr rausgebrochen?“
- „Weil an diesem Pendel eine Marionette mit ihren Fäden gefesselt war... einerseits fremdgesteuert durch eine Vergangenheit, in der ihr angebliche Schwächen einsuggeriert wurden, andererseits fremdgesteuert durch eine Zukunft, deren Erwartungen mit diesen künstlichen Schwächen nicht erfüllt werden konnten... und diese Marionette entsteht, wenn das Unterbewusstsein eines Menschen so manipuliert wird, wie Sie meine Lieferscheine und Aufträge manipuliert haben. Warum soll ein Mensch nicht mit seinen wirklichen Leistungen sein Unterbewusstsein gestalten können, wenn das Unterbewusstsein mit seiner Vielfalt und Fantasie doch genau so zeitlos und sinnlich ist, wie dieses nostalgische Gehäuse der Pendeluhr? Soll man nicht selber differenzieren können, welche Schwächen in der Vergangenheit künstlich einsuggeriert wurden und welche Fähigkeiten man in der Gegenwart wirklich hat? Warum soll dieser monoton schwingende Pendel nicht aus diesem wunderschönen Gehäuse des Unterbewusstseins herausgebrochen werden?“
- „Und das sollte nun eine Erklärung dafür sein, dass Sie dieses nahezu unbezahlbare Schmuckstück demoliert haben... dafür, dass sie einfach den Pendel aus dieser Uhr rausgebrochen haben?“
- „Einfach rausbrechen? Ich bin kein Mensch, der ohne weiteres seine Vergangenheit verdrängen kann, doch ich kann die Stagnation rausbrechen, die durch die Vergangenheit ausgelöst wurde... und zwar, indem ich aus ihr selbst die Erfahrung ziehe, welche man braucht, um zwischen dem Unterbewusstsein der Vergangenheit und dem Unterbewusstsein der Gegenwart zu unterscheiden... zwischen künstlichen und natürlichen Charaktereigenschaften. Und diese Differenzierung sagt mir, dass Sie, Her Minder, nichts weiter als ein selbst ernannter Beansprucher nazistischer Anerkennung sind, der die Schwächen von Menschen künstlich formt, um sein eigenes Ego künstlich zu formen.“  


- Ende -

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.04.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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