Gerhard Haupt

Tinnitus

SF-Kurzgeschichte von Gerhard Haupt
 
 
 
 
 
Es begann, als ich nach der Narkose erwachte. Zuerst dache ich, es läge an den medizinischen Geräten, die um mein Krankenbett herum aufgebaut waren. Doch so viele Geräte waren das gar nicht. Nur zwei Monitore und ein Infusionsständer, von dem ein Schlauch herabhing, der in eine Nadel in meinem Arm mündete.
Das Geräusch musste demnach woanders her kommen. Es klang wie ein leises Flüstern, zu leise, um es zu verstehen, aber doch laut genug, dass es störte.
Ich lag allein in meinem Krankenzimmer. Das Fenster war ebenso geschlossen, wie die Türe.
Ein Radio gab es hier nicht. Das wäre auch sinnlos gewesen, soweit abseits der Zivilisation. Das einzige Gerät, mit dem man Funksignale empfangen konnte, stand in der Quartiersbaracke, die an die kleine Krankenstation anschloss.
War es vielleicht das Meer, das ich hörte? Das Rauschen des Meeres war überall zu hören, es war allgegenwärtig. Die Insel, auf der wir stationiert waren, war so klein, dass sie auf den meisten Seekarten gar nicht verzeichnet war. Aber sie war britisches Territorium und wir hatten ein Recht, hier zu sein. Die Aufgabe meines Teams war es, ein bestimmtes Phänomen in der Stratosphäre zu untersuchen. Wir waren zu fünft. Frank, der Commander, Charlie, der Arzt, Eric, der Meteorologe, Elroy, der Computerfachmann und ich, Sheila McKinnon, die Physikerin.
Ich beschloss, das Geräusch vorerst zu ignorieren und betätigte die Glocke, die über meinem Bett hing.
„Hi“ grinste Charlie, als er hereinkam. „Wie geht`s  unserer Patientin?“
„Durst!“ krächzte ich, überrascht davon, wie eingerostet meine Stimmbänder waren.
„Hier.“ Chrarlie reichte mir ein Glas Wasser, das ich gierig leerte.
„Und das,“ grinste er, als er eine Phiole mit einem merkwürdigen rötlichen Ding aus der Tasche nahm, „ist Dein Blinddarm. Der wird Dir keine Sorgen mehr bereiten.“
Für den Rest des Tages gelang es mir, das Geräusch zu ignorieren.
Erst als ich beschloss, schlafen zu gehen, wurde es wieder lästig.
Ich setzte die Kopfhörer meines iPods auf, regulierte die Lautstärke und schlief schließlich ein.
Zwei Tage später konnte ich die Krankenstation verlassen. Ich trat ins Freie und das Rauschen des Meeres war wieder allgegenwärtig. Der stürmische Südwind war kalt wie immer, aber das war auch kein Wunder, schließlich waren wir nur dreihundert Meilen von der Antarktis entfernt.
Ich nahm meine Arbeit wieder auf und hatte das Geräusch schon beinahe vergessen. Erst als ich abends wieder einzuschlafen versuchte, war es wieder da. Ich hatte nicht die Absicht, immer mit Kopfhörern in den Ohren zu schlafen und fragte unseren Doc, was ich tun sollte.
„Tinnitus!“ war seine Diagnose nach einer kurzen Untersuchung. Er gab mir eine Injektion und bestellte mich für den nächsten Tag wieder.
Das Medikamente hatte keine Wirkung. Charlie überlegte. Dann gab er mir ein mildes Antidepressivum. „Wenn das auch nicht hilft, bin ich mit meiner Weisheit am Ende.“ meinte er. „Du weißt, wir haben hier nur sehr beschränkte Möglichkeiten.“
Ich nickte. Irgendwie würde ich es schon aushalten. Und wenn nicht, konnte ich immer noch einen Funkspruch ans Hauptquartier schicken, damit man mich ablöste.
Das Gewitter kam um Mitternacht und für uns alle völlig überraschend. Eric hatte keinerlei Anzeichen dafür gemeldet und war selbst ganz perplex. Der Sturm tobte in ungewohnter Heftigkeit und aus der Stratosphäre kamen elektromagnetische Entladungen, wie ich sie noch nie zuvor gemessen hatte. Die stärkste davon ließ nicht nur mein Messgerät, sondern auch das Funkgerät durchbrennen.
Am nächsten Abend wurde das Flüstern in meinen Ohren lauter. Beinahe schien es, als könnte ich einzelne Worte unterscheiden, doch eben nur beinahe.
Mein Messgerät ließ sich reparieren, doch das Funkgerät war definitiv hinüber.
Das Bewusstsein, dass wir keinen Kontakt mehr zu Zivilisation hatten und frühestens in drei Monaten mit der Ablösung rechnen konnten, legte sich auf die Gemüter.
Aber wir alle waren stabil genug, um damit fertig werden zu können, dachte ich.
Dann kam der Abend. Wieder versuchte ich, einzuschlafen, doch diesmal war das Flüstern laut genug, dass ich tatsächlich einzelne Worte unterscheiden konnte. Und es waren Worte!
Eine Unmenge an Schwachsinn schoss mir durch den Kopf. Geister, Dämonen und Untote zogen an meinem Inneren Augen vorbei, doch dann hatte ich mich wieder in der Gewalt. Schließlich war ich Wissenschaftlerin. Es musste eine natürliche Erklärung für dieses Phänomen geben, es musste einfach.
So begann ich, mich auf die Worte, die ich hörte, zu konzentrieren. Das war nicht einfach. Mehrere Menschen schienen durcheinander zu sprechen. Schließlich schaffte ich es, einen einzelnen Sprecher herauszufiltern. Er flüsterte von Isothermen, Isobaren, Druckunterschieden und dazwischen immer wieder von Lara, seiner Kleinen.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag. Der Sprecher war Eric, der Meteorologe. Ich sah mich nach ihm um, doch er lag in seiner Koje und schnarchte friedlich. Der nächste, den ich herausfiltern konnte, war Elroy, der Computerfreak. Auch er schlief tief und fest.
Ich konnte mich nicht länger der Erkenntnis verschließen, dass es die Gedanken der Männer waren, die ich hörte.
Irgendwie überstand ich die Nacht.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück schnappte ich Charlie beim Arm und schleppte ihn in die Krankenstation.
Aufgeregt erzählte ich ihm, was ich herausgefunden hatte.
„So, so“ meinte er, nachsichtig lächelnd. „Du kannst also unsere Gedanken lesen.“
„Nicht lesen, sondern hören!“ rief ich.
„Gut, dann sag mir doch einmal, was ich denke“ forderte er mich auf.“
„Du überlegst, ob du genügend Beruhigungsmittel vorrätig hast, um die hysterische Zicke mit dem Knackarsch und den kleinen Titten drei Monate lang ruhigzustellen.“ antwortete ich spontan und ohne zu überlegen.
Charlie wurde blass. „Das hab ich doch nicht so..“ stotterte er.
Wir sahen uns an und begannen zu lachen, bis wir vor Erschöpfung auf dem Boden lagen.
„Charlie“ sagte ich, als ich wieder atmen konnte, „ich halte das nicht aus. Du musst etwas tun, bitte!“
„Ja“ sagte Charlie, „das müsste ich allerdings. Aber was?“
Er überlegte.
„Ok. Wir informieren erst mal Frank. Er ist der Commander. Den anderen sagen wir vorerst nichts, man weiß nie, wie sich so etwas in einer so kleinen Gruppe auswirkt.“
„Nein!“ sagte ich aus einem Gefühl der Panik heraus. „Das will ich nicht!“
„Aber..“
„Nein. Als Arzt unterliegst Du der Schweigepflicht. Ich will nicht, dass mich Frank oder sonst irgendwer als Freak betrachtet. Bitte, Charlie!“
Charlie seufzte. „Was soll ich tun, verdammt nochmal.  Auf so etwas bin ich nicht vorbereitet“ dachte er.
„Ich weiß,“ sagte ich. „Aber ich muss irgendwie selbst damit fertig werden. Vielleicht schaff ich es irgendwie mit dem iPod. Und vielleicht hört es ja von selbst wieder auf.“
„Du musst wissen, was du tust!“ sagte Charlie und dachte: „Wenn sie überschnappt muss ich mit Frank darüber reden, auch wenn ihr das nicht passt!“
 
Mein Blick machte ihm klar, dass ich jedes Wort hörte, das er dachte. Er wurde noch blasser.
„Lass es, Charlie,“ sagte ich eindringlich, „ich krieg das schon hin.“
Charlie resignierte.
„Ja,“ sagte er lahm. „Vielleicht hört es ja wirklich von selbst wieder auf.“
Ab diesem Zeitpunkt hatte ich fast immer die Kopfhörer des iPod in den Ohren. Die anderen nahmen es als harmlose Marotte, nur Charlie sah mich manchmal zweifelnd an.
Dann kam das nächste Gewitter. Die seltsamen elektromagnetischen Entladungen aus der Stratosphäre, die wir zu untersuchen hatten, wurden immer stärker. Frank, der nicht nur unser kommandierender Offizier, sondern auch ausgebildeter Elektroniker war, modifizierte mein Messgerät und baute sicherheitshalber auch noch ein zweites mit Ersatzteilen aus unserem Lager.
Das Gewitter verzog sich, und wir gingen schlafen.
Darauf, dass bald danach ein zweites, noch viel stärkeres losbrechen sollte, waren wir nicht gefasst.
Ich erwachte von einem gewaltigen Dröhnen und einer Flut von Bildern, die durch meinen Kopf schoss. Am ganzen Körper schweißnass versuchte ich, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Es dauerte eine Weile bis ich erkannte, dass ich die Gedanken der Männer nun nicht mehr nur hörte, sondern auch sah, sobald ich die Augen schloss.
Das bedeutet, sagte der rationale Teil meines Gehirnes, dass Du nie wieder schlafen kannst.
In diesem Moment erwachte mein Selbsterhaltungstrieb und übernahm das Kommando.
 
 
Am nächsten Morgen, das Gewitter hatte sich endlich verzogen, warf ich die Leichen der Männer ins Meer. Die Haie würden den Rest besorgen.
Es war ein herrliches Gefühl, endlich einmal ohne Kopfhörer in den Ohren leben zu können.
Nun hatte ich drei Monate Zeit, bis die Ablösung kam.Bis dahin würde mir sicher etwas einfallen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.04.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Wenn erst ein laues Lüftchen weht,
das sich naturgemäß dann dreht
und schnelle ganz geschwind,
aus diesem Lüftchen wird ein Wind,
der schließlich dann zum Sturme wird,
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Dann steht der Mensch als Kreatur,
vor den Gewalten der Natur.
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