Der Regen treibt die Seelen voran. Das Land wälzt sich in Schweigen unter dem Druck der tiefschwarzen Unwetterwolken. Seelen , die vor langer Zeit in Körpern steckten, stossen den Schmerz des Erwachens von sich. Jener Schmerz; jenes Erwachen, das auf tausend Jahre Einsamkeit und Nachdenken folgt. Im Regen versuchen die Seelen zu fliehen. Es ist eine Flucht vor der Erkenntnis, dass kein Weg jemals in die reale Welt der Körper zurückführen wird. Dieser Weg wurde in dem Moment, in dem der Körper dem Verfall ausgesetzt und die Seele somit freigelassen wurde, versperrt. Und so sind sie zur ewigen Existenz verdammt. Als eine dieser Seelen beobachte ich das Treiben im Regen. Ich selbst habe die Flucht vor Jahrhunderten aufgegeben, um mich dem Willen der Erkenntnis zu fügen. Doch die, die erst kurze Zeit in meiner Welt sind, haben einen ungebrochenen Willen.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf die Regentropfen starre; ich habe jedes Gefühl der Zeit verloren. Irgendwann aber fügen sich die Regentropfen zu einem Gebilde, das sich langsam zu einer wohlvertrauten Gestalt entwickelt - der einzige Körper in dieser körperlosen Welt. Ich sehe, wie sich die großen Hände mir nähern, und spüre, wie sie mich aufnehmen und festhalten. Die Gestalt ist die Verbindung zwischen meiner Welt und der realen Welt. Sie strahlt Lebensenergie und Hoffnung aus; zwei Gefühle, die meiner Erfahrung nun hinzugefügt werden. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt, aber die Seelen, die sie vorher mit sich genommen hat, tauchten nach weniger als elf Dekaden wieder auf und berichteten von ihrem Aufenthalt in der realen Welt. Ich selbst war nie wieder dort.
Doch in den Händen der geliebten Gestalt werde ich jetzt als Lebensfunken in die andere Welt zurückkehren und dort einen Körper ausfüllen. Vielleicht nur eine oder zwei Dekaden, aber allein die Erfahrung ist es wert.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.07.2001.
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