Elfie Nadolny

Die Brücke

Miriam hatte vor noch nicht allzu langer Zeit eine Stelle an einer Schule für junge Erwachsene bekommen und bekam sofort die Klassenleitung in einer Klasse, in der sich nur junge Männer im Alter von 18 bis 21 Jahren befanden. Diese Klasse hatte ein älterer Lehrer abgegeben, weil er ihr Verhalten eine Zumutung fand, die er sich nicht antun wollte.
Miriam aber kam mit den Jugendlichen gut zurecht, diese fanden ihren Unterrichtsstil flott, es war alles harmonisch und über ihre noch kindlichen Albernheiten konnte sie lachen.
Als sie angefangen hatte, war noch der alte Schulleiter da gewesen und hatte sie anfangs zu einem Gespräch gebeten. Er hatte ihr gesagt: „Wenn Sie mich brauchen, bin ich da und sonst mische ich mich nicht ein.“ Diese Worte hatten ihr sehr gut getan, sie hatte Vertrauen und bat ihn ab und zu um Rat.
Bald wurde er in den Ruhestand entlassen und sagte ihr zum Abschied: „Entwickeln Sie sich ruhig immer mehr vom Zauberlehrling zum Hexenmeister“ und sie hatten beide gelacht.
Der neue Schulleiter war forsch und bestimmend, vor ihm mochte sie keine Schwäche eingestehen, machte einen Bogen um ihn, wo immer sie konnte und löste alles in Alleinregie.
Eines Tages stand ein Ausflug auf dem Programm und die Klasse wünschte sich einen Fahrradausflug zum alten Fabrikgelände. Gegen einen Fahrradausflug war ja nichts einzuwenden, sie fand die Idee gut. Gesagt, getan, sie schwenkten sich auf ihre Räder und los ging es über Stock und Stein. Es war schon recht schwer, mit den jungen Männern mitzuhalten, aber es ging. Sie fuhren durch einen Wald.
Dann kamen sie bei dem alten Fabrikgelände an, es war eingezäunt und Schilder standen davor: „Betreten verboten.“ Drumherum war alles verwildert.
„Oh, hier können wir nicht hin, das ist verboten“, sagte Miriam. „Unsinn“, lachte der Klassensprecher, „hier bekommen wir eine Menge Spaß.“ Miriam bat kleinlaut: „Nein, bitte fahren wir wo anders hin, hier ist es unheimlich.“ Aber die Jugendlichen waren nicht mehr zu halten. Sie kletterten überall herum. Die alte Fabrik war total kaputt, Steine lagen herum, es gab einen Turm, der war völlig unbefestigt und die Jugendlichen sprangen voller Übermut überall herum. Miriam wusste nicht mehr, wie ihr geschah, das Ganze wuchs ihr über den Kopf. Einer sagte anerkennend zu ihr: „Diesen Gefallen hätte uns keiner Ihrer Kollegen getan, die haben alle Schiss. Und der neue Schulleiter fackelt nicht, wenn er merkt, jemand macht einen Fehler. Aber nun sind wir frei, können machen, was wir wollen. Klasse sind Sie!“

Ihr blieb die Antwort im Halse stecken, sie hatte Angst, panische Angst und versuchte immer wieder, die Klasse in Schach zu halten, aber ohne Erfolg. „Seien Sie doch jetzt kein Angsthase, sind Sie doch sonst auch nicht“, sagte einer, „wir sind doch erwachsen.“ „Bitte....“, versuchte sie noch mal. Aber es war wohl zu zaghaft. Einer nach dem anderen kletterte in einen alten zerstörten Turm und sie sah schon vor ihrem geistigen Auge, dass er zusammenkrachen würde, doch sie war vor Angst wie gelähmt. Nach einiger Zeit verloren die jungen Männer den Spaß daran. Zum Glück war nichts passiert, noch nichts. Wie lange?
„Kinders, jetzt grillen wir“, rief einer und Zack, wurde ein Feuerchen gemacht und Miriam wusste, sie konnte das Geschehen nicht stoppen. „Was sollen wir denn grillen?“, fragte einer. „Och, egal, unsere Brote oder was wir grad haben, das wird eine Gaudi“, rief einer begeistert aus.

„Wenn nun ein Waldbrand passiert....“, dachte sie. „Lasst das bitte! Das ist gefährlich!“, versuchte sie anzuordnen, aber ihre Stimme brach und es kam sehr leise heraus. „Ach was“, entgegneten ihr die jungen Leute „es macht doch Spaß“. „Ich bin nur ein Zauberlehrling“, sagte sie leise vor sich hin und der Jüngste aus der Klasse, den sie Benjamin nannten, vernahm diese Worte. Er raunte ihr zu: „Das regeln wir schon. Wir kriegen das in den Griff.“
Wie wollte denn dieses kleine Kerlchen für Abhilfe sorgen? Miriam war den Tränen nahe. „Ich werde kündigen“, dachte sie, „ich beherrsche das nicht. Sie hören ja nicht auf mich. Sie begeben uns alle in Gefahr und ich stehe da machtlos. Und kein Hexenmeister kommt, um mir Zauberlehrling aus meiner Not zu helfen.“

Auf einmal kam ein Auto aus dem der ehemalige Schulleiter entstieg, würdevoll, langsam, wortlos. Er stellte sich nur vor die jungen Leute hin und sofort löschten sie das Feuer.
Er begrüßte Miriam freundlich mit der Hand und sagte deutlich und vernehmlich: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie eine ausgezeichnete Lehrerin sind“ und zu den Jugendlichen „und ich habe gehört, dass ihr so gute Fortschritte macht, das zeigt eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Weiter so. Ach und noch etwas, wie ihr ja wisst, wohne ich hier ganz in der Nähe. Seitdem ich aus der Schule heraus bin, bin ich manchmal etwas einsam, mir fehlt junges Blut um mich herum. Ich hab so einen alten Schwenkgrill und kann den alleine nicht bedienen. Heft ihr mir? Ihr habt ja heute frei.“ Alle nickten. Er gab dem Klassensprecher einen Geldschein und sagte: „Fahrt schon mal vor zum Metzger und holt Würstchen und Brötchen.“
Alle sausten los, nur Benjamin blieb zurück. Der alte und der junge Mann schauten sich in die Augen, der alte Herr lachte wie ein kleiner Junge und sie flüsterten gleichzeitig: „Immer eine Brücke bauen.“ Sie klatschten einander gegenseitig in die Hände und sagten: „Give 5!“ „Gehen wir?“ fragt der ältere Herr und schaute Benjamin und Miriam an. Miriams Gesicht erhellte sich und es wurde ein schöner Tag.
In der Schülerzeitung war wenige Tage später ein Bild zu sehen, wie alle einvernehmlich um den Schwenkgrill herumsaßen.
Der neue Schulleiter holte Miriam in sein Dienstzimmer und verkündete ihr, er habe ihre Verbeamtung auf Lebenszeit beantragt.

© Elfie Nadolny

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.04.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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