Petra Virbinskis

Nati

Natalie betrachtete den Brief, den sie gerade aus ihrem Briefkasten geholt hat. "Hmm, ein Brief aus Amerika"? murmelte sie vor sich hin."Ich kenne niemanden in Amerika..."
Nachdenklich schlenderte sie in den ersten Stock des 13 Familien-Hauses und schloß die Tür zu ihrem kleinen zwei Zimmer-Apartment auf."Igitt", entfuhr es ihrem Mund, denn sie trat in einen braunen, kleinen Haufen, den scheinbar ihre Katze direkt vor die Wohnungstür gesetzt hatte. Fluchend zog sie sich die Schuhe aus um gleich darauf barfuß ins Badezimmer zu gehen, damit sie die braune Masse erst einmal grob mit Toilettenpapier beseitigen konnte. Die Badezimmertür war verschlossen, also wunderte sie sich nun nicht mehr über das Katzenglück vor ihrer Tür. Irgendwie mußte sie heute morgen versehentlich die Tür geschlossen haben, als sie , mal wieder recht knapp , das Haus verließ, um es doch noch einigermaßen rechtzeitig zur Arbeit zu schaffen. Nachdem sie nun den Teppich von seiner Dekoration gesäubert hatte, ging sie erst einmal in die Küche, um sich einen starken Espresso zu machen... Den konnte sie heute wirklich gut gebrauchen. Der Chef war mal wieder unausstehlich und ihre, ja ach so nette Kolegin, war heute mal wieder schlecht gelaunt. Doch nun war erst einmal Wochenende und heute Abend wollte sie noch mit ein paar Freunden in die Disco.
Natalie war ein hübsches, 23 Jähriges Mädchen, schlank und groß gewachsen und mit wunderschönen großen, grünen Augen. Ihr apartes Gesicht wurde von einer langen, roten Mähne geziert, die unbändig halb in ihrem Gesicht hing. Lustige Sommersproßen tummelten sich auf ihrer Nase und die Augen blitzten nur so vor Temprament.
Der Espresso war fertig. Langsam ließ sie sich in ihren gemütlichen Sessel fallen und schlug die schlanken Beine übereinander. Genüßlich nippte sie an dem Espresso... "hmm, das tut gut".
"Der Brief"!! schoß es ihr in den Kopf. Wo hatte sie nur den Brief hingelegt? Suchend sah sie sich um und entdeckte ihn gleich auf der Komode neben der Eingangstür. Sie stand auf, um den Brief zu holen. Noch einmal las sie den Absender, doch beim besten Willen, sie konnte sich nicht daran erinnern, den Namen jemals in ihrem Leben gehört zu haben. Nun öffnete sie den Brief und las...

Liebe Nati
Du wirst mich nicht kennen und wenn du diesen Brief in deinen Händen hältst, werde ich nicht mehr am Leben sein. All die Jahre, habe ich aus weiter Ferne an deinem Leben teilhaben dürfen, doch leider war es mir nicht gestattet, dich persönlich zu sehen. Ich weiß, du hattest es sehr gut bei deinen Pflegeeltern und ich bin froh, daß ich damals diese Wahl getroffen habe. Obwohl es mir nicht leicht gefallen ist, dich in eine fremde Familie zu geben. Deine Mutter starb, als du geboren wurdest. Sie war gerade mal 16 Jahre alt und dein Großvater trieb sie aus dem Haus, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Nur heimlich war es mir möglich, mich darum zu kümmern, daß du in eine gute Familie kommst. Da dein Großvater ein einflußreicher Mann war, der viel Geld besaß, war es mir möglich, Menschen zu finden, die sich deiner annahmen. Wie gerne hätte ich dich doch damals selbst in meine Obhut genommen, doch deine Existenz mußte im Verborgenen bleiben.
Dein Großvater starb vor nun mehr als drei Jahren und da wir weiter keine Kinder hatten, habe ich das gesammte Vermögen geerbt. Wieviel es ist, wirst du aus dem anhängenden Brief des Rechtsanwaltes erfahren, aber es sei gesagt, daß es nicht unerheblich ist.
Ich hatte nicht den Mut, nach all den Jahren den Kontakt zu dir aufzunehmen, doch nun diagnostizierten die Ärzte bei mir Lungenkrebs im Endstadium und mir bleibt nicht mehr lange zu leben.
Bevor ich gehe, möchte ich es aber nicht versäumen, dir zu sagen, daß ich dich in all den Jahren geliebt habe und sehr stolz darauf bin, deine Großmutter zu sein, auch wenn ich dich niemals in meine Arme nehmen durfte.
Ich hätte dir noch so viel zu sagen, doch werde ich immer schwächer und das Schreiben fällt mir schwer. So bleibt mir nur noch eines zu sagen. Ich liebe dich, meine kleine Nati.
Deine Großmutter

Tränen rannen ihr übers Gesicht... Sie konnte kaum glauben, was sie dort in den Zeilen des Briefes las. Ihre Eltern waren gar nicht ihre Eltern? Warum hatten sie es ihr nie gesagt? warum nahmen sie dieses Wissen vor 2 Jahren mit ins Grab, als sie bei einem Autounfall ums Leben kamen? Warum wußte sie es nicht? Warum? Warum?
Ein Schwindelgefühl zwang sie dazu sich wieder in den Sessel zu setzen. Was war nur geschehen?

Ihre Kindheit lief vor ihrem geistigen Auge ab, die Szenen, die ihre Mutter machte, wenn sie geschwindelt hatte. Nichts war ihrer Mutter verhasster, als Lügen.... Aber hatte sie nicht auch all die Jahre gelogen?... Ihre Oma, die nicht ihre Oma ist... ihr Bruder, der nicht ihr Bruder ist... Ihre Herkunft, die gar nicht ihre Herkunft ist... Lügen!!! Alles Lügen...
Was war mit den Wertmaßstäben, die ihre Eltern versuchten ihr beizubringen?? War denn alles nur auf einer einzigen Lüge aufgebaut? Ihr gesamtes Leben, eine einzige Lüge???
Ihr wurde übel und ihr Kopf drohte zu zerspringen. Tausend Gedanken und Bilder tanzten durch ihren hübschen Kopf. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und die Tränen wollten nicht aufhören zu rollen. Vom weinen erschöpft, schlief sie im Sessel ein, in den Händen hielt sie immer noch den Brief, der ihr ganzes bisheriges Leben in Frage stellte...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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