Hartmut Pollack

Mieze ist verschwunden

 
 
Mieze ist verschwunden
 
Nachts wieder die gewohnte Suche nach unseren Katzen. Herrchen geht auf den Balkon und pfeift leise. Normal ist es, dass nach etwa zwei Minuten beide Katzen an Bord sind, also in der Wohnung.
Heute dauert es länger. Plötzlich ein Poltern auf der Katzentreppe. Aha, Katerchen hat sich eingefunden. Schnurrend streicht er um Herrchens Beine. Sein langer Schwanz wedelt. Er ist zufrieden. Ab geht es ins Wohnzimmer in Richtung Küche zum Fressnapf.
Herrchen pfeift weiter. Nach weiteren fünf Minuten geht er in die Wohnung. Frauchen schaut auf und sagt: „Katzen gehorchen nicht immer gleich auf dein Pfeifen. Reg dich nicht auf. Mieze kommt schon noch.“
„Das ist ungewöhnlich,“ knurrt Herrchen.
Spät geht es ins Bett. Noch einmal ein leises und diesmal kurzes Pfeifen. Keine Mieze in Sicht.
„Vielleicht sitzt sie je morgen früh auf dem Fensterbrett,“ sagt Frauchen. „Komm endlich ins Bett und mach dir keine Sorgen.“
Es wird ein unruhiger Schlaf. Irgendwie fehlt etwas in der Wohnung.
Gleich nach dem Aufwachen geht der Weg zum Balkon. Enttäuschung fliegt in die Augen, Mieze fehlt immer noch.
„Ob sie nachts unter ein Auto gekommen ist?“  Irgendwie eine ängstliche Frage scheint dies zu sein.
Frauchen kommt dazu und beruhigt Herrchen. Katerchen läuft durch die Wohnung und sucht. Er springt auf Herrchens Arm und schaut ihn fragend an.
„Ich weiß nicht, wo Mieze ist,“ antwortet Herrchen.
Katerchen scheint ihn zu verstehen, seine Suche geht weiter. Natürlich findet er Mieze nicht. Frauchen versucht den Kater mit etwas Fressen zu beruhigen. Aber Katerchen verschmäht das Frühstück. Allein scheint es ihm nicht zu schmecken. Herrchen hat dicke Falten auf der Stirn. Seine Erfahrungen mit Katzen sind gering. Immer wieder beruhigt ihn die Frau des Hauses.
„Mieze kommt sicherlich bald zurück. Sie ist vielleicht mit einem Freier unterwegs,“ klingt es aus ihrem Munde.
„Katzen sind wie Frauen, wenn sie sich etwas in den Kopf setzen, machen sie es ohne große Bedenken,“ grummelt es aus Herrchens Mund.
„Ich setze mich ins Auto und fahre mal die Nachbarstraßen ab, ob sie vielleicht verletzt am Straßenrand liegt.“
„Dann hätte uns schon sicherlich ein Tierarzt benachrichtigt. Beide Katzen haben eine Kenn-Nummer ins Ohr tätowiert bekommen.“
„Stimmt auch wieder. Aber ich fahre mal die Straßen ab.“
„Mach das, was du nicht lassen kannst.“
Herrchen geht zum Auto. Langsam fährt er die Nachbarstraßen ab. Zum Glück sieht er nirgends eine tote Katze. Zurück vor dem Wohnhaus grübelt er weiter. Schreckliche Fantasien laufen ab.
Ein Zirkus ist in der Stadt. Mieze als Tierfutter für Raubkatzen. Schreckliche Idee.
Tierfänger könnten die süße Katze eingefangen haben. Mieze als Versuchstier in einem pharmazeutischen Labor. Grässlicher Gedanke.
Eine Vorstellung ist immer schlimmer als die andere. Herrchen ist unruhig.
Er legt sich aufs Sofa. gegen Abend möchte er sich ausruhen. Da springt Katerchen auf seinen Bauch. Auch er hat den ganzen Tag seine Spielgefährtin vermisst. Mit seiner rauen Zunge leckt er über Herrchens Nase. Es ist fast so, als wollte er sein Herrchen trösten. Dann springt er zu Frauchen und tröstet diese auf die gleiche Weise.
Katerchen schnurrt weiter um seine beiden Menschen herum und wird natürlich von zwei Seiten gestreichelt und getröstet. Mit einem andauernden Schnurren bedankt er sich.
Das Fernsehprogramm des Abends trägt nicht viel zur Beruhigung bei.
Spät steht Herrchen erneut auf dem Balkon und sein leises Pfeifen schallt durch die Nacht. Mieze antwortet nicht. Der Platz auf dem Fensterbrett bleibt auch diese Nacht leer. Der Tag ohne Mieze ist vorbei.
Am frühen Morgen der gleiche Versuch wie den Tag vorher. Erster Gang zum Fenster. Trauer kommt in die Augen. Mieze fehlt weiterhin.
Auch ein längeres Pfeifen zeigt keinen Erfolg. Lediglich Katerchen wird unruhig.
Herrchen nimmt Katerchen auf den Arm und schmust mit ihm. Erneut wird seine Nasenspitze zum Kussobjekt der Katzenzunge. Heute schaut Katerchen wirklich sehr traurig drein.
Am Fressnapf lässt er wieder sein Frühstück stehen. Das ist sehr ungewöhnlich. Katerchen trägt Trauer.
Frauchen ergreift mittlerweile die Initiative. Sie ergreift das Telefon und ruft das hiesige Tierheim an. Eventuell ist Mieze ja dort abgegeben worden.
Eine freundliche Frauenstimme beruhigt sie.
„Nein, Mieze ist nicht ins Tierheim gebracht worden. Ich möchte auch aus unserer Erfahrung sagen, dass es erst nach drei Tagen nötig ist, irgendwelche Aktionen zu unternehmen. So lange rate ich Ihnen, ruhig zu bleiben.“
„Danke sehr, meinen Sie nicht, dass es vielleicht gut wäre, bei den Tierärzten anzurufen ?“
„Nein, die Tierärzte setzen sich meistens sehr schnell mit uns in Verbindung, wenn verletzte Katzen zu ihnen gebracht werden.“
„Ich danke Ihnen für die Auskünfte und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
„Danke sehr,“ das Telefonat mit dem Tierheim ist beendet.
Der Tag schleicht durch die Stunden. Die Stimmung bei uns ist gedrückt. Katerchen hat keine Lust, nach draußen zu gehen. Ein Blick in den Fressnapf zeigt, dass er nur geringfügig gefressen hat.
Der zweite Tag neigt sich dem Ende zu.
Eine gewisse Resignation macht sich in der Familie breit. Mieze scheint verschwunden. Sie fehlt.
Mehr schlecht als recht vergeht die Nacht. Katerchen springt schon sehr früh ins Bett. Er schnurrt und möchte seine Streicheleinheiten. Wahrscheinlich sieht er uns als Mieze-Ersatz. Mit seiner Nase stupst er gegen Herrchens Nase.
Man hört ihn fast sagen: „Hallo, wach werden. Wir wollen weiter suchen.“
Mit einem Brummen dreht sich Herrchen um. Er hat noch keine Lust, so früh das Bett zu verlassen.
Doch Katerchen steckt nicht auf. Weiter stupst er Herrchen an.
Endlich erhebt sich ein müder Mann und na klar, der Weg führt zum Fenster.
Erneut das Erlebnis des Misserfolges. Mieze bleibt verschollen. Der Alltag übernimmt das Kommando. Wie geplant verläuft der Tag.
Einkauf am Morgen, nachmittags mehrer Schüler, gegen Abend das Üben im gemischten Chor.
Es ist noch hell, als der Übungsabend zu Ende ist. Katerchen war die letzten zwei Stunden allein in der Wohnung. Ein Blick in den Fressnapf bestätigt sein Verhalten in den letzten beiden Tagen. Er frisst kaum etwas.
„Wie lassen ihn jetzt raus,“ sagt Frauchen.
„Mach das,“ ist die kurze Antwort.
Herrchen geht aber auf den Balkon, reckt sich und beobachtet Katerchen.
Katerchen geht schnurrstracks über die Straße. Ungewöhnlich.
Herrchen schaut genauer hin.
Katerchen setzt sich vor ein Kellerfenster des Nachbarhauses und schaut starr in das Fenster. Er miaut leise, dann etwas lauter.
„Ich geh mal hin und schaue, was der Kater hat,“ sagt Herrchen und nimmt eine Taschenlampe mit.
Herrchen ist zwar etwas müde, aber er geht doch sofort nach draußen. Er pfeift.
Plötzlich hört er ein jammervolles leises Miauen. Die Schritte werden schneller. Er ruft seine Frau und sagt: „Komm schnell, ich vermute Mieze hier in der Nähe.“ 
Frauchen ist sehr schnell auf der Straße.
„Miezi, Miezi,“ hört man sie rufen.
Das Katzengejammer erreicht ungewöhnliche Lautstärke.
Herrchen steht mittlerweile vor einem Kellerfenster.
Katerchen versucht immer wieder, das Fenster zu öffnen. Seine kleinen Zähne zerren am Fenster. Hinter dem Glasfenster sitzt – Mieze und jammert, jammert, jammert.
Herrchen hat mittlerweile in einer der unteren Wohnungen Sturm geklingelt. Er sieht seine Mieze. Nun hält ihn keiner mehr zurück.
Nach einiger Zeit öffnet eine Familie und beantwortet seine Fragen.
„Die Katze war im Fahrradkeller. Wir haben sie nicht eingesperrt.“
„Wem gehört der Keller vorne rechts?“
„Ich komme mit,“ antwortet die Frau.
Vor der Kellertür ruft Herrchen: „Miezi.“
Zwei kleine Katzenpfoten strecken sich Hilfe suchend unter der Kellertür durch.
Ein schweres Türschloss verschließt den Keller. Die Frau aus dem Hause, sie heißt Elena, wie Herrchen erfährt, dreht sich um und kommt kurze Zeit mit dem Schlüssel zurück.
Das jammern im Keller hat sich mittlerweile erneut gesteigert. Miezi hockt jetzt auf der Fensterbank und jammert ihr Frauchen an.
Die Kellertür wird geöffnet. Herrchen geht schnell zum, Fenster. Mieze springt auf seinen ausgestreckten Arm und kriecht ganz eng an seinen Oberkörper. Sie zittert ein wenig.
Herrchen stellt der Frau aus dem Nachbarhaus keine Fragen. Er ist einfach nur glücklich. Mit schnellen Schritten ist er aus der Haustür und – blitzschnell springt Mieze los und sitzt auch schon auf Frauchens Arm.
Katerchen springt bei Herrchen hoch und nun beschnuppern sich beide.
Katzenglück drückt sich in einem ersten Lecken des Felles und der Nase aus. Das Familienglück ist wieder hergestellt.
Mieze ist wieder da.
Der erste Weg von Katerchen in der Wohnung führt zum Fressnapf. Jetzt kann er endlich wieder fressen. Mieze frisst neben ihm. Sie sind glücklich. Bald schon liegen sie dicht neben einander auf dem Sofa und schlafen. Katerchen hat ein Pfote über Mieze gelegt. Er passt auf.
Der erste Weg von Herrchen geht zu Frauchen. Beide küssen sich. Es ist alles gut gegangen. Sie sind glücklich. Die Tage der Aufregung sind vorbei.
© pk 04 / 07
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.04.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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