Claudia Lichtenwald

Mensch-Ärgere-Dich-Nicht

Einmal saßen vier Menschen um einen Tisch, der in der Mitte einer kleinen Holzhütte am Rande eines Sees stand. Es war ein alter, runder Tisch aus massivem Eichenholz, durch das die Fraßspuren der Holzwürmer im Laufe der Jahre ihre höhlenförmigen Gänge gezogen hatten. In der Mitte des Tischs stand eine längliche Pappschachtel mit der Aufschrift „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht". Auch sie trug Spuren der Zeit, ihr Karton war vergilbt, ihre Ecken abgewetzt. Die vier Leute dagegen waren jung, in ihren runden Gesichtern spiegelte sich ein Lächeln, es leuchtete durch den ganzen Raum. Ihr Lachen, vermischt vom Knistern des Feuers im Kamin war noch weit außerhalb der Hütte zu hören. Es war ein schöner Abend.

Irgendwann im Laufe dieses Abends, dessen Heiterkeit schwer in der Luft hing und kaum zerstörbar schien, streckte einer der Menschen seine Hände nach der Schachtel aus und öffnete sie. Seine Freunde juchzten erfreut. Das Lächeln in ihren Augen und auf ihrem Mund erschien noch stärker. Der Eine nahm eine viereckige Platte aus dem Karton, auf der allerlei Verzweigungen und bunte Punkte aufgedruckt waren und legte sie auf den Tisch. Er schüttelte die Kiste und einige farbige Holzmännchen kullerten heraus. Dann brachte er ein kleines Heftchen zum Vorschein. „Spielregeln" stand darauf fettgedruckt. Vier neugierige Augen richteten sich darauf. Der Mensch begann zu lesen, sah auf, lächelte, die anderen nickten verstehend. Es dauerte nicht lange, da hatte jeder verstanden um was es ging: Gewinnen. Es war so simpel wie in jedem anderen Spiel auch.

„Rot", schrie der Eine. „Ich bin grün" der andere. Der dritte verzog das Gesicht, weil auch er gerne mit den grünen Männchen gespielt hätte, war grün doch die Farbe der Hoffnung. Schließlich entschied er sich für gelb. Dem letzten Spieler blieben nur die blauen Männchen, die er abzählte und auf seine Seite schob. Jeder brachte seine Spielfiguren in die richtige Position, rückte seine Stuhl zurecht und fixierte das Spielfeld. Plötzlich war es ganz still im Raum.

„Die höchste Zahl gewinnt" verkündete der Spieler mit den gelben Figuren und schon flogen die Würfel durch die Luft, und ein erfreuter Mitspieler schrie auf, triumphierend seinen Würfel mit der Nummer 6 in die Luft haltend.

Draußen vor der Hütte änderten sich bald sie Geräusche, die man hören konnte. Man hörte wie drinnen gespielt, gefiebert und geflucht wurde. Manchmal war es auch ganz leise. Und sehr selten wurde auch noch gelacht. Jeder war jetzt auf seinen Sieg konzentriert und die anderen waren Gegner, so schrieb es zumindest das kleine Heftchen mit den Regeln vor. Wer hatte es eigentlich verfaßt ? Die Spieler wußten es nicht. Aber das war für sie nicht von Bedeutung, der Ehrgeiz hatte sie gepackt, Sieg oder Niederlage, es gab kein Zwischending.

Spieler eins begann zu schwitzen, er wurde ganz rot im Gesicht. Als Spieler zwei seine Chance ergriff und ihn aus dem Feld warf, schlug er mit der Hand auf den Tisch. Spieler drei hatte eine dreistere Methode entwickelt, er warf die Würfel so, daß sie nur eine fünf oder sechs anzeigen konnten, er legte sie förmlich, wenn die anderen gerade mit einer Diskussion um die Spielregeln beschäftigt waren. Freilich war das nicht ganz fair, aber es brachte ihm immerhin einen Platz an der Spitze, Freundschaft hin oder her. Spieler vier hatte Pech, er saß ganz still und ärgerte sich und fühlte sich gedemütigt, weil die anderen so an ihm vorbeizogen.

Mit der Zeit wurde das Spiel zur Realität, weil jeder mit Todesernst mitspielte. Alle vier vergaßen, daß irgendwann irgendwer die Spielregeln aufgestellt hatte, wie es ihm gerade paßte, wie es ihm gerade einfiel.

Spieler vier erschlug Spieler drei, als er sah wie dieser betrog. Der Spieler mit den roten Spielfiguren jagte Spieler zwei aus dem Haus, bevor er sich mit Spieler vier zusammentat und sie sich davonmachten, um ihre Ehre zu retten.

Es saßen einmal fünf Leute an einem Tisch, oder in der U-Bahn, oder in der Schule, oder im Büro...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Claudia Lichtenwald).
Der Beitrag wurde von Claudia Lichtenwald auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.07.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Claudia Lichtenwald als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sommerzeit - Rosenzeit: Hommage an die Königin der Blüten von Eveline Dächer



Mit einer Hymne auf die Rose überrascht uns die Autorin Eveline Dächer in ihrem neuen Lyrikbändchen. In zarten und feurigen Bildern dichtet sie über eine dunkelrote Rose, die einen bisher unbekannten Duft ausströmt, oder von gelben Rosen, die wie Sonnenschein erstrahlen. Sie erzählt von Rosen, die auf Terrassen, Balkonen und in Gärten blühen, und von einem besonders schönen Rosenstrauß, einem Geschenk des Liebsten, der auf ihrem Lieblingstisch sie täglich erfreut und Sehnsucht schürt. Und da die Rose das Symbol der Liebe schlechthin ist, lässt sie aus deren Blätter eine Liebesstatt entstehen, die duftend weich und zart Zeit und Raum vergessen lässt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Claudia Lichtenwald

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Verwandlung von Claudia Lichtenwald (Humor)
Es wird Zeit zu gehen... von Rüdiger Nazar (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Meine Bergmannsjahre (dreizehnter Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen