Svenja Osse

Der Mann im Café


Erneut atmete sie tief durch und sah sich um. Das Café war gut besucht, viele Leute saßen sich gegenüber und plauderten. Sie saß allein.
In einer geschätzten halben Stunde würde ihr Vorstellungsgespräch beginnen. Sie war schon frühzeitig losgefahren, um vorher noch in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken zu können. Aus ihrer Handtasche kramte sie einen weinroten Lippenstift hervor und zog diesen zweimal behutsam über ihren gespitzten Mund.
Nervös streckte sie den Arm von sich und versuchte ihre Armbanduhr aus dem Ärmel zu schütteln, doch sie hatte sie nicht mehr um. Sie war sich ganz sicher, sie noch getragen zu haben, als sie aus dem Haus ging. Na super.
Wieder ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Am besten jemanden fragen. Der, der am sympathischsten erscheint.
Dann entdeckte sie ihn. Ein älterer Mann, der in einer Ecke des Cafés saß. Bekleidet mit einem schwarzen, langen Mantel, einer Wollmütze auf dem Kopf und alten, schmutzigen Lederstiefeln. Dort saß er, wärmte sich die Hände an seiner Tasse und starrte leer und verloren auf den Boden. Sie neigte den Kopf und beobachtete ihn. Wegsehen, wenn er hier herguckt. Doch er guckte nicht. Er hatte irgendetwas fixiert, sah sich nicht um. Und das minutenlang.
Seltsam. Sie strich sich durch ihre langen Haare. Ein paar blonde Strähnen fielen ihr ins Gesicht.
Dann stand sie auf.
Als sie sich langsam auf ihn zu bewegte, regte er sich noch immer nicht.
,,Entschuldigen Sie” , sagte sie und lächelte.
Langsam, sehr langsam hob er den Kopf. Sie blickte in todtraurige, eisblaue Augen. Erstaunt hob er die Augenbrauen, strich sich sofort mit der Hand über den Kopf, um seine Mütze herunterzuziehen. Das graue Haar lag zerzaust auf seinem Kopf. Nun starrte er sie schweigend an, bestaunte ihre Schönheit. ,,Könnten Sie mir sagen, wie spät es ist?”
Nun lächelte er.
,,Ja.. aber ja doch, schönes Kind.”
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, hielt sie dicht vor sein Gesicht, bevor er sich wieder ihr
zuwandte. ,,Es ist gleich halb vier” , sagte er und strich sich übers Gesicht. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Wusste nichts zu sagen. Doch seltsamerweise ging sie nicht. Sie blieb stehen.
,,Ich muss meine Uhr verloren haben” , sagte sie nun und lächelte wieder. ,,Ich muss gleich zu einem Vorstellungsgespräch und..”
Er lachte leise. ,,Wissen Sie, für gewöhnlich werde ich nicht angesprochen. Ich bin etwas überrascht.”
In seiner Stimme hallte eine fürchterliche Trauer nach. Sie empfand plötzlich schreckliches Mitleid. Sie wollte nicht gehen. Doch sie musste. ,,Ich muss leider.. vielen Dank noch mal.”
Lächelnd löste er seine Uhr von seinem Handgelenk und streckte sie ihr entgegen. ,,Hier, nehmen Sie meine, schönes Kind. Falls Sie Ihre nicht wiederfinden.”
,,Nein, nein! Es ist schon..”
,,Und viel Erfolg bei Ihrem Vorstellungsgespräch, schönes Kind.”
,,Hören Sie, das ist wirklich nicht..”
,,Nun gehen Sie, bevor Sie zu spät kommen. Wissen Sie.. für Menschen wie mich spielt die Tageszeit keine Rolle.”
Nachdenklich zog sie die Stirn kraus, ging die ersten Schritte rückwärts. Dann schenkte sie ihm noch ein letztes Lächeln und machte auf dem Absatz kehrt.
Als sie das Café verließ, warf sie noch einmal einen Blick zu dem Tisch, an dem der alte Mann saß. Sie spürte einen leichten Stich in der Brust. Er war wieder unsichtbar geworden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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