Viktor Prieb

Der Kleine

Ein Kinderbuch
von Viktor Eduard Prieb
www.literatur-viktor-prieb.de
 
geschrieben für meinen Enkelsohn Konsti
und ihm gewidmet
 
Berlin 2004
 
 

Die Sonne schlich um die Ecke der Holzhütte, schaute in ein kleines Fensterchen über die um die Hüttenaußenwände herum hoch geschüttete und verdichtete Erde, schnüffelte etwas über das aufgewühlte Bett, fand das weiße Köpfchen des Kleinen und blieb auf ihm stehen. Der Kleine wachte mit einem Glücksgefühl auf und ein grundloses Lächeln regte Sommersprossen auf seinem verschlafenen Gesicht.
 Eine Tonmilchkanne mit frischer Milch  erwartete ihn auf dem Tisch. Der Kleine stürzte aus der Hütte hinaus, pflückte heftig, gleich hier, auf der Hügellehne, auf der die Hütte stand, eine Handvoll wilder Erdbeeren und lief wieder in die Hütte zurück. Er schüttete die gepflückten Erdbeeren in eine Schüssel hinein, gab Milch aus der Tonkanne hinzu und löffelte dann schnell und schmackhaft sein Frühstück aus. Den Kleinen wirbelte in die Luft der Wunsch nach Leben und Aktion. Heute musste er unbedingt den Rand der Welt erforschen.
Der Kleine und seine ganze Familie lebten auf einem „Landgut“. Kein anderer wusste davon, denn nur der Vater sagte es so, der dieses Wort aus seiner Kindheit mitgebracht hatte, die er auf dem Landgut seines Vaters, in einer der deutschen Kolonien in Südrussland – irgendwo weit weg vom „Gut“ des Kleinen in Sibirien – verbrachte.
Dieses Wort bildete – unter mehreren anderen – die spezifische Familiensprache. Diese Sprache stellte ein Kauderwelsch aus dem Russischen dar, mit einzelnen Wörtern und Redewendungen aus der deutschen, ukrainischen, polnischen gemischt, die der Vater sprach, und mit Smolensker, von der Mutter herbeigeführtem, volkstümlichem Dialekt gewürzt.
Das Ganze wurde noch obendrein durch geflügelte Wörter und Redewendungen bereichert, die aus den gelesenen Büchern stammten und in der Familie – meistens durch Vaters leichte Hand – eine Gattungsbedeutung gewannen. Dieses Kauderwelsch saugte die ganze geographische und ethnische Geschichte der Familie ein und spiegelte sie wider.
Das „Gut“ war einst eine kleine Siedlung, zwei Kilometer von einem größeren Dorf entfernt, und  schrumpfte mit der Zeit bis auf diese letzte Hütte, in der die siebenköpfige Familie des Kleinen hauste. Das große Dorf selbst hatte nicht einmal einen vernünftigen Namen. Es hieß „Zentralabteilung Tschebulinsker sowjetischen Landwirtschafts- und Schweinebetriebs“, während das „Gut“ mit der mittlerweile ausgedienten Rinderfarm und dieser verlorenen Hütte als „Abteilung Nr. 2“ dieses Betriebes bezeichnet wurde.
Dieser Schweinebetrieb mit allen seinen Abteilungen war ein kleines Babylon, von vertriebenen, verurteilten und diesem Betrieb zugeteilten Deutschen, Tschetschenen, Kalmyken und sonstigen „Verbrechernationen“ des sowjetischen Staates nebst Russen selbst besiedelt und bedient.
Die Hütte bestand aus einem einzelnen Raum mit dem russischen Ofen in der Mitte, auf dessen warmen Rücken viel Platz zum Spielen und zum Schlafen war. Sie stand auf einer breiten und offenen, nicht besonders steilen Hügellehne, die durch das starre Steppengras bewachsen und am oberen Rande durch weißes Federgras umrahmt wurde. Dieses Grasfeld begann direkt vor der Hüttentür des Kleinen. Eben dieses Feld lieferte ihm die Erdbeeren zum Frühstück.
Der Hütte gegenüber, so etwa fünfzig Meter nach oben von ihr, stand eine Gruppe alter, unberührter Birken, zwischen denen man einen Haufen Kreuze sehen konnte. Das war der Friedhof. An ihm vorbei und weiter über das Ackerfeld, das in verschiedenen Jahren mal mit Weizen – mal mit Roggen besät wurde, führte ein Pfad, den der Vater immer benutzte, wenn er zur Arbeit im großen Dorf ging.
Von der Hütte nach unten führte der Pfad zu einem Ziehbrunnen und weiter hinunter – schon kaum zu sehen – zu einem kleinen, im Frühling zum See werdenden und im Sommer völlig austrocknenden Torfmoor, welches kleine Grashügel, Weiden und Johannisbeersträucher reichlich bedeckten.
Links vom „Gut“, einen halben Kilometer von ihm entfernt, – dort, wo die Sonne aufging – öffnete sich dem Auge ein Stück Landstraße, die auf die gegenüberliegende Lehne hoch und nach links kletterte. Und rechts von der Hütte ging die Sonne hinter einem kleinen und hellen Birkenwald unter, der links mit dem Moor und rechts oben mit dem Ackerfeld zusammenlief. In diesem Wald versteckte sich eine alte, neben dem Friedhof an der Hütte vorbei laufende und sich an ihr mit dem Pfad kreuzende, durch Pferdekarren befahrene und mit Wegerich bewachsene Feldstraße.
Dieser ganze Raum vereinte sich im Bewusstsein und in der Seele des Kleinen sowohl in seinen Hof, als auch in die ganze Welt. Das war auch sein persönlicher Besitz. Er hatte ihn gut erforscht und wusste genau, was sich dort – an den Rändern dieser Welt – befindet.
An einem Rande – hinter dem Wald, wo der Feldweg hinführte – war der Wochenmarkt, auf den der Vater und die Mutter eines Sonnabends im Frühling hinter der Sonne her weggingen. Aber die Sonne hatten sie nie eingeholt, denn –  als sie morgens zurückkehrend auf dem Waldrand erschienen – ging die Sonne bereits ihnen entgegen an dem anderen Rande auf.
Dafür hing aber hinter Vaters Schultern ein lebendiger und schrecklich quiekender Sack. Zu Hause wurden aus ihm zwei kleine und rosige Ferkel mit kleinen in Ringe zusammengerollten Schwänzchen ausgeschüttelt. Das letztere war besonders wichtig, denn, wenn der Schwanz auseinander rollte und wie ein Schnürchen  zum Boden herunter hing, machte sich der Vater Sorgen. So ein Ferkel aß nichts oder, wenn doch, schlürfte es nur die Brühe und ließ den Satz auf dem Schüsselboden liegen. Der verärgerte Vater nannte dieses dann „räudiges Ferkel“ – was übrigens zu Vaters Gattungsbegriffen in der Familiensprache gehörte und den Kleinen selbst sehr wohl mal treffen konnte.
Und im Herbst gingen der Vater und die Mutter auf demselben Feldweg wieder fort. Manchmal fuhren sie auch mit einem kleinen Pferdekarren, wenn dieser aus dem Betrieb zu leihen war. Sie nahmen Speck oder Kartoffeln, oder sonst noch etwas mit – was eben Gott gab – und kehrten, ebenso mit dem Sonnenaufgang, mit „Neuanschaffungen“ für alle – auch für den Kleinen – zurück. Dies war ein Fest für ihn. Wenn der Kleine zum Beispiel ein neues, nach frischem Maschinenöl riechendes Hemd bekam und es anprobierte, konnte keiner ihn aus diesem herausholen – er schlief so auch ein in diesem Hemd in dieser Nacht.
Von demselben Rande kam manchmal auch ein Trödler mit einem Pferdekastenwagen zum „Gut“. Im Tausch gegen Knochen, verrostete Eisenstücke, alte Lumpen und sonstiges Gerümpel gab er dann dem Kleinen so ein wunderbares Spielzeug – in der Regel war dies ein Tontierchen –, das der Kleine vorher noch nie gesehen hatte. Dann – nach dem er sein Tauschgeschäft mit dem Kleinen abwickelte – fuhr der Trödler weiter zu dem anderen Rand hinweg, wo ein Stück Landstrasse zu sehen war.
Der Kleine bereitete sich immer auf die Besuche des Trödlers vor. Um die Hütte herum, an den Stellen von anderen ehemaligen Hütten, gab es einige abgerutschte und durch Gras bewachsene Gruben. Sie dienten dem Kleinen als Lagerstellen, an denen er die Tauschwaren sammelte. So eine Grube, in der altes gerostetes Eisen aufbewahrt wurde, nannte er auch so schlicht und einfach „die Schmiede“.
Aber am teuersten wurden Knochen geschätzt. Sie kamen zum Teil vom Esstisch her nach ihrem sorgfältigen „Polieren“: Noch ein Wörtchen vom Vater, durch das er die gierige Sorgfalt bezeichnete, mit der die Kinder – manchmal in der Reihe nacheinander – diese Knochen benagten. Ein Teil davon, die kürzeren, abgerundeten Knöchelchen, ließ der Kleine für sich; denn dies waren Spielknöchel und er spielte eben gerne mit ihnen und bewahrte sie auf.
Mehr als anderswo gab es Knochen gleich hinter dem Torfmoor, auf der gegenüberliegenden Hügellehne, wo einmal die Rinderfarm stand. Dort, zwischen alten Gruben in ausgetrocknetem und durch Unkraut bewachsenem Humus, konnte man sogar einen ganzen Kuhschädel finden.
Manchmal fand der Kleine Knochen, während er auf dem Friedhof spielte. Der Friedhof war alt und manchmal, bei Neubeerdigungen, wurden entweder ein Schädel oder auch andere menschliche Gebeine ausgegraben, die danach einfach so im Gras liegen blieben, vom Regen gespült und vom Winde getrocknet.
 Der Kleine hatte nie Angst vor dem Friedhof. Dies war seinetwegen sogar der interessanteste Ort in seiner Welt. Hier – auf einem alten, kaum noch zu erkennenden Grabhügel – wuchs solch ein riesiger Johannisbeerstrauch, welchen es anderswo nicht mehr gab. Die Beeren auf diesem Strauch waren immer groß und reif.
Auch hier, am Rande dieses Haines, auf einem anderen – alten und ebenfalls kaum noch erkennbaren Grab – stand ein riesiges Kreuz aus zwei grob behauenen Balken. Den umlaufenden Erzählungen nach errichteten irgendeinmal daran vorbei wandernden Kalmyken dieses Kreuz über ihren entschlafenen Mitmenschen. Es gab keine Inschriften auf diesem Kreuz. Dem auf seine Querbalken gekletterten Kleinen diente es mal einfach als Motorrad, mal als der wilde und kecke Pferd „Bukephalos“ – je nach Laune des Kleinen eben.
Und im Frühling bauten Elstern ihre Nester in Birkenkronen des Friedhofs. Der Kleine wusste genau, wann die kleinen getüpfelten Eierchen in diesen Nestern erschienen. Dann kletterte er auf einige Birken hinauf, holte behutsam ein paar Eierchen aus verschiedenen Nestern – man durfte nie ein Nest leer plündern, sonst merkten es die im übrigen dem Zählen nicht mächtigen Vögel und verließen das Nest – und kochte sie gleich hier auf dem Lagerfeuer in einer verrosteten Konservenblechdose, sie mit dem noch herumliegenden Schnee vollgestopft.
Aber die Sachen, die am leckersten waren, fand er auf einem gepflegten Grab hinter dem blaugestrichenen Staketzaun. Auf diesem Grab stand ein kleines Kreuz mit einem daran befestigten und verglasten Schachtelrahmen, in dem ein ausgeblichenes Foto eines Jungen zu sehen war, welches auch mit Wachsblumen eingefasst wurde.
Zu diesem Grab kamen an bestimmten Tagen – die der Kleine natürlich auch gut kannte – zwei hagere Schwester-Alterchen und nach ihrem Weggehen fand der Kleine Bonbons oder Plätzchen auf dem Schachtelrahmen, auf dem Kreuz oder auf den Querlatten des Zauns. Der Kleine verstand es auch so, dass diese eben für ihn hier hingelegt wurden, denn nur er alleine lebte auf diesem Friedhof. Zu diesem Grab hatte der Kleine ein besonders behutsames Verhältnis und bemühte sich es zu pflegen, wenn die Alterchen lange nicht kamen.
Abseits vom Friedhof, hinter dem Ackerfeld, war noch ein Birkenwäldchen zu sehen, zu dem der Pfad führte. Dort befand sich der andere Rand der Welt, wohin der Vater immer frühmorgens wegging. Der Kleine hatte es irgendwie nie hingekriegt, den Moment zu erwischen, wenn der Vater fortging, nur es vielleicht ab und zu im morgigen Schlaf gehört. Dafür holte er ihn abends immer am Friedhof ab, wenn der Vater heimkehrte – sei es im Winter oder im Sommer.
Im Winter wurde alles drum herum durch riesige Schneewehen bedeckt und der Vater musste den Pfad im Schnee durch Birkenäste abstecken. In seinem Beutel, in dem er sein Mittagessen von zu Hause mitnahm, blieb immer etwas Leckeres für den Kleinen – „etwas Kleinerlei vom Häselein“, wie der Vater ihm lächelnd sagte.
Am liebsten mochte der Kleine gelbliche Schwarte von altem Salzspeck, die durch Brotkrümelchen und Vaters Machorka bedeckt worden war. Nichts, was besser als der Geruch und Geschmack dieser Schwarte wäre, kannte der Kleine. Der müde Vater nahm die Hand des diese Schwarte heftig kauenden Kleinen oder setzte ihn auf seine breiten Schultern und sie gingen zusammen nach Hause.
Den dritten Rand der Welt mochte der Kleine nicht und zeigte sogar kein großes Interesse an ihm. Dahin fuhr der Trödler weg, mit seinem „Reichtum“ und mit den umgetauschten Vorräten des Kleinen. Dort, von der Seite der Landstraße, wurden immer wieder Särge mit Leichen auf einer Pferdefuhre oder auf  einem Pferdeschlitten  herangefahren.
Der Friedhof füllte sich dann mit weinenden Menschen, die zuerst den herbeigefahrenen Sarg vergruben und dann sich paarweise oder einzeln durch den Friedhof zerstreuten; auf alten Erdhügelchen niederknieten oder sich auf die Bänke, dort wo es sie gab, niederließen. Der Friedhof wurde dann still und doch lebendig – mit schweigenden, dunklen und gebückten Silhouetten angefüllt.
In solchen Momenten litt der Kleine, dies alles von irgendeinem Rande des Friedhofs aus beobachtend und von keinem bemerkt. Nachdem der Friedhof wieder leer wurde, betrat den der Kleine etwas ängstlich und entfremdet. Und wie eine widersinnige Wunde ragte aus dem grünen Gras oder aus dem weißen Schnee hervor ein braunes Lehmhügelchen mit einem blendend weißen Holzkreuz darauf. Und noch lange danach musste sich der Kleine an den Fremden auf dem Friedhof gewöhnen, bis sich das braune Hügelchen durch Schnee oder Gras bedeckte und das Kreuz grau vom Regen und Winde wurde. Alles vergeht – das Leid des Kleinen verging auch.
Nichts wusste der Kleine über den vierten Rand der Welt, wo auch kein Weg hinführte, und sich nur ein Pfad von der Hütte bis zum Ziehbrunnen und weiter – schon kaum merklich – bis zum Torfmoor hinunter schlängelte. Hinter dem Torfmoor, wo sich irgendwann die Rinderfarm mit den Knochen befand, weiter links von ihr stiegen bis zum Horizont breite mit etwas Grünem besäte  Ackerfelder auf. Der Kleine wusste aber, dass der echteste Rand der Welt nicht dort, sondern etwas seitlich zwischen diesen Feldern mit der Farm und dem Torfmoor lag.
Dort hinter einer kleinen Schlucht stieg bis zum Himmel empor eine im Gegensatz zur heimischen Hügellehne mit grünem und saftigem Gras bewachsene Weide. Und ganz an ihrem höchsten Rande wuchsen drei Birken – mit Wurzeln in den Horizont, mit Gipfeln gen die hellgrauen Federwolken, mit weißen Stämmen auf dem blauen Himmelhintergrund –: zwei eng beisammen und eine etwas beiseits.
Hinter diesen Birken endete alles und endete auch die Vorstellungskraft des Kleinen! Hinter den Birken rollte bis zu der Hütte hervor – entweder vom Himmel herunter oder von irgendwo unten wie aus der Hölle herauf – das entfernte und dumpfe Dröhnen der Stille. Es dröhnte tags und nachts die ein paar Kilometer entfernt vorbeiverlaufende Transsibirische Eisenbahnmagistrale, die der Kleine nie gesehen hatte und von der er in seiner Welt nichts wissen konnte.
Alles, was der Kleine nicht kannte, aber vom Vater über etwas für ihn Unbegreifliches hörte – über Vaters anderes Leben in der Ukraine, über den Krieg und Deutschland und über vieles mehr – alles war für ihn hinter diesem Rand. Und es schien ihm auszureichen, nur ein einziges Mal hinter diesen Rand zu schauen, und dies alles würde schon gleich sichtbar und begreiflich, stellte sich wie ein umfangreiches, von einer hohen Steilwand hinab beobachtetes Panorama dar.
Dieser Rand machte dem Kleinen zwar tiefe Angst, zog ihn aber auch an. Allein an ihm zu denken, regte seine Seele – irgendwo in der Magengrube und weiter oben in der Brust – auf und überlief ihn kalt. Der Kleine wollte schon lange seinen Mut zusammenkratzen, um den Weg bis zu diesen drei Birken – zwei eng beisammen und eine etwas beiseite – zu bewältigen und über diesen Rand hinaus zu schauen.
Heute wachte er mit dem Gefühl auf, dass der Tag gekommen sei. Für alle Fälle entschied er, natürlich, den treuen Arap mitzunehmen.
*

Der treue Freund und beste Partner – der Hund Arap

Arap – ein schöner und kluger Hofhund, rothaarig wie das Birkenlaub im Herbst – war nicht zum ersten Mal dem Kleinen in seinen allerlei riskanten Unternehmungen behilflich. Arap gab es in der Familie schon immer – solange sich der Kleine zurückerinnern konnte. Arap genoss in der Familie uneingeschränkte Rechte und Freiheiten, und über seine Heldentaten und Verdienste wurden in der Familie hochachtungsvoll Geschichten erzählt.
Die wichtigste war natürlich die über ihn und Dora – die alte, dickwanstige und tollpatschige, aber für die Familie überlebenswichtige Melkkuh. Diese Kuh wurde durch einen glücklichen Zufall angeschafft. Als der Vater nach dem Krieg und dem darauffolgenden Haftarbeitslager zu seiner hungernden Familie zurückkehrte – indem er sich in diesen Schweinebetrieb unter die Kommandanturaufsicht verbannen ließ – erwachte die Hoffnung in der Familie auf ein etwas besseres Leben.
Der Vater musste als Maurer im Betrieb arbeiten und bekam sogar einen kleinen Lohn dafür. Von diesem knappen Geld legte er jeden Monat ein paar Rubel auf die höchste Kante: Die Kinder brauchten dringend Milch, um beim ohnehin knappen Essen und dazu noch sibirischüblichen Vitaminenmangel gesund zu wachsen.
Er nahm sich vor, wenigstens eine Ziege zu kaufen – an eine Kuh war wegen der Preise auf dem Markt nicht zu denken. Als es soweit war und er mit der Mutter auf den Markt ging, erwischten sie die alte Dora zu einem Angebotpreis nur etwas höher als der Preis für eine Ziege. So erschien Dora in der Familie, und so fing die Familie an, einigermaßen zu leben, wie die Mutter es immer erzählte.
Die Kuh hauste jedes Jahr bis zum Winter hinein in einer Umzäunung aus Langnutzholz hinter der Hütte. Für den Winter musste sie dann aber in den Kuhstall; der direkt an der Hüttenwand angebaut war, sodass man bei dem eisigen Winterfrost direkt aus der Hütte in den Kuhstall gelangen konnte. Auf das flache Dach des Kuhstalls wurde im Herbst das duftende Heu für den Winter aufgehäuft. Ein Gang führte aus dem Kuhstall hinunter, in eine für die Schweine in der  Erde ausgegrabene, überdachte und darüber mit Erde zugeschüttete Baracke. Direkt neben diesem mit Erde zugeschütteten und mit Unkraut bewachsenen schiefen Barackendach befand sich unglücklicherweise die Umzäunung der fressgierigen Dora.
Eines nachts im Spätherbst, als das Heu bereits oben auf dem Dach gelagert wurde, jedoch Dora noch in der Umzäunung ausharren musste, brach sie – durch den Duft des frischen Heues verführt – die oberen Umzäunungsstangen durch und kletterte auf das vereiste und schiefe Dach der Erdbaracke, im verzweifelten Versuch, das Heu zu erreichen und zu kosten; rutschte aber – leider Gottes! – aus und kippte in den schiefen und engen Spalt zwischen der Schweinebaracke und ihrer Umzäunung hinein, all ihre vier Paar Hufe zum hellen und frostigen Mond ausgestreckt.
Sie hätte bestimmt bis zum Morgen unter diesen äußerst eingeschränkten Bedingungen nicht überlebt, aber der wachsame Arap schlief nicht. Im nächsten Moment sprang er aufs Dach der Baracke hinauf; schätzte Doras armselige Lage ein, die in ihrer Schwermut nicht einmal zu muhen versuchte, sondern Arap still und flehend mit dem glitzernden Weiß ihrer ausgedrungenen und traurigen Augen anschaute; bellte sie einmal – nicht böse, nur so etwas verachtend – an und schoss um die Hütte zu der Eingangstür.
Er bellte und warf sich an die Tür, bis der Vater aufwachte. Als der verschlafene Vater, schimpfend und nichts verstehend, aus der Tür kam, stürzte sich Arap furchtbar bellend auf ihn, griff ihn an seiner weißen Schlafhose, zog ihn hinter sich her, lief einladend um die Ecke und wieder zurück zum Vater, erreichte doch Vaters Verständnis und führte ihn zu Dora.
Ein anderer Fall war nicht so bedeutend für die Familie, charakterisierte aber Araps Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit ausdrücklich. Arap und Mieze – die schwarzweiße Familienkatze – blieben einmal tagsüber alleine in der Hütte. Auf dem Tisch, wo gegessen wurde, blieb immer etwas Essbares liegen: Milch, Brot, ein Stück Speck, ein Knochen auf dem Teller, der noch seinem „Polieren“ unterlag, sodass jeder für sich etwas zum Imbiss finden konnte, wenn er sich im Tagesverlauf entkräftet fühlte. Erst abends, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und sich zum Abendessen hinsetzte, kam die ganze Familie am Tisch zusammen.
 Arap schlief, durch die sommerliche Hitze ermüdet, auf einer Fußmatte an der Eingangsschwelle und Mieze saß oben auf dem Ofen, kniff ihre grünen und schlauen Katzenaugen zusammen und lauschte – immer wieder nach den schmackhaften und sie seit langem verführenden Esstisch schielend – dem unruhigen Schlaf des ab und zu zusammenzuckenden und sich an seinen  Flanken mit Zähnen  klatschenden Arap. Schließlich überwältigten die Versuchung und Gier all ihre anderen Überlegungen: Mieze stieg weich vom Ofen auf den Fußboden herab und sprang auf den Tisch hinauf.
Arap nahm sie ins Visier gleich, als sie auf dem Fußboden landete, kam aber erst dann an den Tisch heran, als sie sich in ihrem hinterhältigen Vorhaben vollkommen und endgültig entlarvte, und bellte ihr mal im Bass seine ehrliche und unbestechliche Meinung über ihre Tat.
Mieze verstand sofort, dass sie von Arap erwischt wurde, vergaß das Essen und wollte nun nur noch eins – sich aus dem Staub machen. Vergeblich! Arap vermied mit seinem strengen Bellen all ihre Versuche, vom Tisch abzuhauen und der gerechten Strafe zu entkommen. Als die Mutter nach Hause kam, saß die Arme immer noch auf dem Tisch, ohne etwas vom Essen zu berühren, während Arap unter dem Tisch lag, darauf wartend, die am Tatort erwischte Mieze von Hand zu Hand dem Herren Willen zu übergeben.
Arap selbst erlaubte sich nie in der Hütte das zu berühren, was nicht ausdrücklich für ihn bestimmt war. Er hielt es  allerdings nicht für nötig, sich mit Mieze ebenso ehrlich und anständig zu verhalten. Mieze, wenn sie ihre Kätzchen hatte, schaffte normalerweise Futter für sie durch die Jagd in umliegenden Feldern und Wäldern heran und kehrte nie ohne Beute zurück. Sie brachte immer Feldmäuse, aber manchmal gerieten auch Vögel und sogar kleine Häschen oder Murmeltiere ihr in die Krallen.
Arap erlegte ihr aus ungewissen Gründen einen unerträglichen Tribut auf, den sie ihm abzureichen hatte. Falls er zu Hause war, kam er ihr immer bei ihrer Rückkehr von der Jagd entgegen und versperrte mit seinem Körper den Weg nach Hause, indem er sich herausfordernd quer über ihren Weg stellte. Mieze – gemerkt, dass es ihr diesmal nicht gelingt, an Arap vorbeizuschleichen – legte ihre Beute vor seine Pfoten und entfernte sich unweigerlich, aber würdevoll.
Nur eines rettete Mieze und ihre Kätzchen vor dem Verhungern – Arap war selbst tagsüber selten zu Hause, und keiner wusste, wo er sich herumtrieb. Manchmal humpelte er danach auf drei Pfoten zurück – manchmal kroch er, überhaupt kaum noch lebend, nach Hause und leckte noch lange danach seine Schusswunden zu, winselnd und sich über die Menschen beklagend.
Einen üblen Dienst erwies ihm sein Fell von Birkenlaubfarbe im Herbst – alle, einschließlich der in der Umgebung passierenden Jäger, hielten ihn im Freien für einen Fuchs. Aber nichts konnte diesen klugen Hund zur Vernunft bringen – die leidenschaftliche Sucht nach Freiheit und nach freier Weite verfolgte ihn bis zu seinem Ende.
Alle Versuche, ihn durch Anketten zu retten, scheiterten und waren zwecklos: Er schaffte es immer wieder, das Halsband mit Pfoten runterzukratzen, und lief weg. Wenn er es mit dem Halsband nicht schaffen konnte, schlug er sich so lange, bis er die Kette durchriss, und lief sowieso weg.
So lief er einst weg und kehrte nie mehr zurück. Er kam am nächsten Tag nicht und am übernächsten auch nicht. So etwas kam auch früher vor, aber dann kroch er schon in einem ganz schlechten Befinden heim. Als er auch am dritten Tag nicht heimkehrte, wusste die Familie bereits, dass er nie wieder zurück sein wird.
 Dies war der erste schwere Verlust in der Familie und der erste schwere Verlust im Leben des Kleinen. Noch lange danach forschte der Kleine sein Landreich durch, aber er fand nirgendwo irgendwelche Spuren von Arap. Und dann begriff der Kleine die Kühle und Bosheit der weiten und fremden Außenwelt, und seitdem fühlte er sich oft einsam auf dieser Welt
*

Dröhnende Stille der Ferne

Jetzt rief der Kleine auch vergeblich nach Arap, aber als er bis zum Torfmoor kam, holte ihn der aus seinem ungewissen Irgendwo außer Atem hierher angestürmte Arap ein – genauso frei, wie der Kleine auch – und wischte in seiner freudigen Begeisterung alle Sprossenfelder im Gesicht des Kleinen mit seiner heißen und rauen Zunge ab.
Er lief dem Kleinen voraus; kam wieder zurück; schaute ihm in die Augen, bemüht, das Vorhaben des Kleinen zu erraten. Als sie hinter dem Torfmoor waren und Arap zu verstehen schien, was sich der Kleine vorgenommen hatte, trabte er gleich ohne Hektik wenige Meter vorne vor dem Kleinen. Die Schlucht überwand er in einem Schwung. Der Kleine blieb aber am Boden der Schlucht mit steilen Wänden von seiner eigenen Höhe stecken.
Der Kleine wusste nicht, dass die Schlucht so tief und steil war, denn er schaffte es noch nie alleine bis dorthin. Die ganze Familie kam nur manchmal im Frühling zur Schlucht, wenn die ganze Gegend von so einem Tosen gefüllt wurde, dass man es schwer hatte, in der Nacht zu schlafen. – Es lärmte und schäumte die Schlucht, in der die Tauwässer von der ganzen Hügellehne, die Schlucht überflutend, ins Torfmoor sausten.
 Zu Hilfe kam der treue Arap – den Kleinen entweder am Kragen oder an einem Hosenträger mit Zähnen gepackt, zog er ihn, jaulend und an den Hinterpfoten kauernd, herauf; bis der Kleine oben ankam. Der Zwischenfall erschütterte das Selbstvertrauen des Kleinen und er ginge wahrscheinlich nicht mehr weiter, sondern kehrte lieber zurück, wäre der zuverlässige Arap nicht hier bei ihm. Arap schaute dem Kleinen ins Gesicht und stellte sich neben ihn unter seine linke Hand.
Je näher die drei Birken rückten, desto klarer spürte der Kleine reine Leere des Himmels hinter ihnen, desto größere Aufregung packte ihn. Und als bis zum Horizont, aus dem die Birken wuchsen, schon ganz wenig blieb, – riss sich hinter ihm los – aus der irgendwo brüllenden Stille her, dem Kleinen und dem stillwerdenden Arap entgegen – ein heißer Windstoß, der heftiger war als der Knall einer geschüttelten Decke.
Der durch die Erwartung hinter den Rand zu schauen äußerst angespannte Kleine hielt es nicht mehr aus und rannte panisch Hals über Kopf hinunter, Kopf eingezogen und nur die Blitze seiner während des Sommers bis zum Blut geplatzten Füße sehend.
Um ihn herum  kreiste in wilder  Begeisterung  Arap, ins laute Gebell verfallen und sich über das vom Kleinen ausgedachte Spiel freuend. Dabei versuchte er spielend noch, den Kleinen immer wieder mit Zähnen an den Fersen zu erwischen, wodurch der Kleine in seinem Lauf noch mehr drauflegte. Der Kleine kam erst zu sich, als er auf den Boden der Schlucht hinunterrollte und mit seinem Rücken ihren steilen und sicheren Abhang spürte...
So gelang es damals dem Kleinen nicht, hinter den ihn so faszinierenden Rand seiner Welt zu schauen, und so blieb seit damals in ihm eine leidenschaftliche und über alles gehende Sucht nach der dröhnenden, tosenden und anziehenden Stille der unbekannten und unerforschten Ferne.
  ***  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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