Die Sonne schlich um
die Ecke der Holzhütte, schaute in ein kleines Fensterchen über die um die
Hüttenaußenwände herum hoch geschüttete und verdichtete Erde, schnüffelte etwas
über das aufgewühlte Bett, fand das weiße Köpfchen des Kleinen und blieb auf
ihm stehen. Der Kleine wachte mit einem Glücksgefühl auf und ein grundloses
Lächeln regte Sommersprossen auf seinem verschlafenen Gesicht.
Eine Tonmilchkanne
mit frischer Milch erwartete ihn auf
dem Tisch. Der Kleine stürzte aus der Hütte hinaus, pflückte heftig, gleich
hier, auf der Hügellehne, auf der die Hütte stand, eine Handvoll wilder Erdbeeren
und lief wieder in die Hütte zurück. Er schüttete die gepflückten Erdbeeren in
eine Schüssel hinein, gab Milch aus der Tonkanne hinzu und löffelte dann
schnell und schmackhaft sein Frühstück aus. Den Kleinen wirbelte in die Luft
der Wunsch nach Leben und Aktion. Heute musste er unbedingt den Rand der Welt
erforschen.
Der Kleine und seine
ganze Familie lebten auf einem „Landgut“. Kein anderer wusste davon, denn nur
der Vater sagte es so, der dieses Wort aus seiner Kindheit mitgebracht hatte,
die er auf dem Landgut seines Vaters, in einer der deutschen Kolonien in Südrussland
– irgendwo weit weg vom „Gut“ des Kleinen in Sibirien – verbrachte.
Dieses Wort bildete –
unter mehreren anderen – die spezifische Familiensprache. Diese Sprache stellte
ein Kauderwelsch aus dem Russischen dar, mit einzelnen Wörtern und
Redewendungen aus der deutschen, ukrainischen, polnischen gemischt, die der Vater
sprach, und mit Smolensker, von der Mutter herbeigeführtem, volkstümlichem
Dialekt gewürzt.
Das Ganze wurde noch
obendrein durch geflügelte Wörter und Redewendungen bereichert, die aus den
gelesenen Büchern stammten und in der Familie – meistens durch Vaters leichte
Hand – eine Gattungsbedeutung gewannen. Dieses Kauderwelsch saugte die ganze
geographische und ethnische Geschichte der Familie ein und spiegelte sie wider.
Das „Gut“ war einst
eine kleine Siedlung, zwei Kilometer von einem größeren Dorf entfernt, und schrumpfte mit der Zeit bis auf diese letzte
Hütte, in der die siebenköpfige Familie des Kleinen hauste. Das große Dorf
selbst hatte nicht einmal einen vernünftigen Namen. Es hieß „Zentralabteilung
Tschebulinsker sowjetischen Landwirtschafts- und Schweinebetriebs“, während das
„Gut“ mit der mittlerweile ausgedienten Rinderfarm und dieser verlorenen Hütte
als „Abteilung Nr. 2“ dieses Betriebes bezeichnet wurde.
Dieser
Schweinebetrieb mit allen seinen Abteilungen war ein kleines Babylon, von vertriebenen,
verurteilten und diesem Betrieb zugeteilten Deutschen, Tschetschenen, Kalmyken
und sonstigen „Verbrechernationen“ des sowjetischen Staates nebst Russen selbst
besiedelt und bedient.
Die Hütte bestand aus
einem einzelnen Raum mit dem russischen Ofen in der Mitte, auf dessen warmen
Rücken viel Platz zum Spielen und zum Schlafen war. Sie stand auf einer breiten
und offenen, nicht besonders steilen Hügellehne, die durch das starre
Steppengras bewachsen und am oberen Rande durch weißes Federgras umrahmt wurde.
Dieses Grasfeld begann direkt vor der Hüttentür des Kleinen. Eben dieses Feld
lieferte ihm die Erdbeeren zum Frühstück.
Der Hütte gegenüber,
so etwa fünfzig Meter nach oben von ihr, stand eine Gruppe alter, unberührter
Birken, zwischen denen man einen Haufen Kreuze sehen konnte. Das war der
Friedhof. An ihm vorbei und weiter über das Ackerfeld, das in verschiedenen
Jahren mal mit Weizen – mal mit Roggen besät wurde, führte ein Pfad, den der
Vater immer benutzte, wenn er zur Arbeit im großen Dorf ging.
Von der Hütte nach
unten führte der Pfad zu einem Ziehbrunnen und weiter hinunter – schon kaum zu
sehen – zu einem kleinen, im Frühling zum See werdenden und im Sommer völlig
austrocknenden Torfmoor, welches kleine Grashügel, Weiden und Johannisbeersträucher
reichlich bedeckten.
Links vom „Gut“,
einen halben Kilometer von ihm entfernt, – dort, wo die Sonne aufging – öffnete
sich dem Auge ein Stück Landstraße, die auf die gegenüberliegende Lehne hoch
und nach links kletterte. Und rechts von der Hütte ging die Sonne hinter einem
kleinen und hellen Birkenwald unter, der links mit dem Moor und rechts oben mit
dem Ackerfeld zusammenlief. In diesem Wald versteckte sich eine alte, neben dem
Friedhof an der Hütte vorbei laufende und sich an ihr mit dem Pfad kreuzende,
durch Pferdekarren befahrene und mit Wegerich bewachsene Feldstraße.
Dieser ganze Raum
vereinte sich im Bewusstsein und in der Seele des Kleinen sowohl in seinen Hof,
als auch in die ganze Welt. Das war auch sein persönlicher Besitz. Er hatte ihn
gut erforscht und wusste genau, was sich dort – an den Rändern dieser Welt –
befindet.
An einem Rande –
hinter dem Wald, wo der Feldweg hinführte – war der Wochenmarkt, auf den der
Vater und die Mutter eines Sonnabends im Frühling hinter der Sonne her weggingen.
Aber die Sonne hatten sie nie eingeholt, denn – als sie morgens zurückkehrend auf dem Waldrand erschienen – ging
die Sonne bereits ihnen entgegen an dem anderen Rande auf.
Dafür hing aber
hinter Vaters Schultern ein lebendiger und schrecklich quiekender Sack. Zu
Hause wurden aus ihm zwei kleine und rosige Ferkel mit kleinen in Ringe
zusammengerollten Schwänzchen ausgeschüttelt. Das letztere war besonders
wichtig, denn, wenn der Schwanz auseinander rollte und wie ein Schnürchen zum Boden herunter hing, machte sich der
Vater Sorgen. So ein Ferkel aß nichts oder, wenn doch, schlürfte es nur die
Brühe und ließ den Satz auf dem Schüsselboden liegen. Der verärgerte Vater
nannte dieses dann „räudiges Ferkel“ – was übrigens zu Vaters Gattungsbegriffen
in der Familiensprache gehörte und den Kleinen selbst sehr wohl mal treffen konnte.
Und im Herbst gingen
der Vater und die Mutter auf demselben Feldweg wieder fort. Manchmal fuhren sie
auch mit einem kleinen Pferdekarren, wenn dieser aus dem Betrieb zu leihen war.
Sie nahmen Speck oder Kartoffeln, oder sonst noch etwas mit – was eben Gott gab
– und kehrten, ebenso mit dem Sonnenaufgang, mit „Neuanschaffungen“ für alle –
auch für den Kleinen – zurück. Dies war ein Fest für ihn. Wenn der Kleine zum
Beispiel ein neues, nach frischem Maschinenöl riechendes Hemd bekam und es anprobierte,
konnte keiner ihn aus diesem herausholen – er schlief so auch ein in diesem
Hemd in dieser Nacht.
Von demselben Rande
kam manchmal auch ein Trödler mit einem Pferdekastenwagen zum „Gut“. Im Tausch
gegen Knochen, verrostete Eisenstücke, alte Lumpen und sonstiges Gerümpel gab
er dann dem Kleinen so ein wunderbares Spielzeug – in der Regel war dies ein
Tontierchen –, das der Kleine vorher noch nie gesehen hatte. Dann – nach dem er
sein Tauschgeschäft mit dem Kleinen abwickelte – fuhr der Trödler weiter zu dem
anderen Rand hinweg, wo ein Stück Landstrasse zu sehen war.
Der Kleine bereitete
sich immer auf die Besuche des Trödlers vor. Um die Hütte herum, an den Stellen
von anderen ehemaligen Hütten, gab es einige abgerutschte und durch Gras
bewachsene Gruben. Sie dienten dem Kleinen als Lagerstellen, an denen er die
Tauschwaren sammelte. So eine Grube, in der altes gerostetes Eisen aufbewahrt
wurde, nannte er auch so schlicht und einfach „die Schmiede“.
Aber am teuersten
wurden Knochen geschätzt. Sie kamen zum Teil vom Esstisch her nach ihrem
sorgfältigen „Polieren“: Noch ein Wörtchen vom Vater, durch das er die gierige
Sorgfalt bezeichnete, mit der die Kinder – manchmal in der Reihe nacheinander –
diese Knochen benagten. Ein Teil davon, die kürzeren, abgerundeten Knöchelchen,
ließ der Kleine für sich; denn dies waren Spielknöchel und er spielte eben
gerne mit ihnen und bewahrte sie auf.
Mehr als anderswo gab
es Knochen gleich hinter dem Torfmoor, auf der gegenüberliegenden Hügellehne,
wo einmal die Rinderfarm stand. Dort, zwischen alten Gruben in ausgetrocknetem
und durch Unkraut bewachsenem Humus, konnte man sogar einen ganzen Kuhschädel
finden.
Manchmal fand der
Kleine Knochen, während er auf dem Friedhof spielte. Der Friedhof war alt und
manchmal, bei Neubeerdigungen, wurden entweder ein Schädel oder auch andere
menschliche Gebeine ausgegraben, die danach einfach so im Gras liegen blieben,
vom Regen gespült und vom Winde getrocknet.
Der Kleine hatte nie
Angst vor dem Friedhof. Dies war seinetwegen sogar der interessanteste Ort in
seiner Welt. Hier – auf einem alten, kaum noch zu erkennenden Grabhügel – wuchs
solch ein riesiger Johannisbeerstrauch, welchen es anderswo nicht mehr gab. Die
Beeren auf diesem Strauch waren immer groß und reif.
Auch hier, am Rande
dieses Haines, auf einem anderen – alten und ebenfalls kaum noch erkennbaren
Grab – stand ein riesiges Kreuz aus zwei grob behauenen Balken. Den umlaufenden
Erzählungen nach errichteten irgendeinmal daran vorbei wandernden Kalmyken
dieses Kreuz über ihren entschlafenen Mitmenschen. Es gab keine Inschriften auf
diesem Kreuz. Dem auf seine Querbalken gekletterten Kleinen diente es mal
einfach als Motorrad, mal als der wilde und kecke Pferd „Bukephalos“ – je nach
Laune des Kleinen eben.
Und im Frühling
bauten Elstern ihre Nester in Birkenkronen des Friedhofs. Der Kleine wusste
genau, wann die kleinen getüpfelten Eierchen in diesen Nestern erschienen. Dann
kletterte er auf einige Birken hinauf, holte behutsam ein paar Eierchen aus
verschiedenen Nestern – man durfte nie ein Nest leer plündern, sonst merkten es
die im übrigen dem Zählen nicht mächtigen Vögel und verließen das Nest – und
kochte sie gleich hier auf dem Lagerfeuer in einer verrosteten
Konservenblechdose, sie mit dem noch herumliegenden Schnee vollgestopft.
Aber die Sachen, die
am leckersten waren, fand er auf einem gepflegten Grab hinter dem blaugestrichenen
Staketzaun. Auf diesem Grab stand ein kleines Kreuz mit einem daran befestigten
und verglasten Schachtelrahmen, in dem ein ausgeblichenes Foto eines Jungen zu
sehen war, welches auch mit Wachsblumen eingefasst wurde.
Zu diesem Grab kamen
an bestimmten Tagen – die der Kleine natürlich auch gut kannte – zwei hagere
Schwester-Alterchen und nach ihrem Weggehen fand der Kleine Bonbons oder
Plätzchen auf dem Schachtelrahmen, auf dem Kreuz oder auf den Querlatten des
Zauns. Der Kleine verstand es auch so, dass diese eben für ihn hier hingelegt
wurden, denn nur er alleine lebte auf diesem Friedhof. Zu diesem Grab
hatte der Kleine ein besonders behutsames Verhältnis und bemühte sich es zu
pflegen, wenn die Alterchen lange nicht kamen.
Abseits vom Friedhof,
hinter dem Ackerfeld, war noch ein Birkenwäldchen zu sehen, zu dem der Pfad
führte. Dort befand sich der andere Rand der Welt, wohin der Vater immer
frühmorgens wegging. Der Kleine hatte es irgendwie nie hingekriegt, den Moment
zu erwischen, wenn der Vater fortging, nur es vielleicht ab und zu im morgigen
Schlaf gehört. Dafür holte er ihn abends immer am Friedhof ab, wenn der Vater heimkehrte
– sei es im Winter oder im Sommer.
Im Winter wurde alles
drum herum durch riesige Schneewehen bedeckt und der Vater musste den Pfad im
Schnee durch Birkenäste abstecken. In seinem Beutel, in dem er sein Mittagessen
von zu Hause mitnahm, blieb immer etwas Leckeres für den Kleinen – „etwas
Kleinerlei vom Häselein“, wie der Vater ihm lächelnd sagte.
Am liebsten mochte
der Kleine gelbliche Schwarte von altem Salzspeck, die durch Brotkrümelchen und
Vaters Machorka bedeckt worden war. Nichts, was besser als der Geruch und
Geschmack dieser Schwarte wäre, kannte der Kleine. Der müde Vater nahm die Hand
des diese Schwarte heftig kauenden Kleinen oder setzte ihn auf seine breiten
Schultern und sie gingen zusammen nach Hause.
Den dritten Rand der
Welt mochte der Kleine nicht und zeigte sogar kein großes Interesse an ihm.
Dahin fuhr der Trödler weg, mit seinem „Reichtum“ und mit den umgetauschten
Vorräten des Kleinen. Dort, von der Seite der Landstraße, wurden immer wieder
Särge mit Leichen auf einer Pferdefuhre oder auf einem Pferdeschlitten
herangefahren.
Der Friedhof füllte
sich dann mit weinenden Menschen, die zuerst den herbeigefahrenen Sarg
vergruben und dann sich paarweise oder einzeln durch den Friedhof zerstreuten;
auf alten Erdhügelchen niederknieten oder sich auf die Bänke, dort wo es sie
gab, niederließen. Der Friedhof wurde dann still und doch lebendig – mit
schweigenden, dunklen und gebückten Silhouetten angefüllt.
In solchen Momenten
litt der Kleine, dies alles von irgendeinem Rande des Friedhofs aus beobachtend
und von keinem bemerkt. Nachdem der Friedhof wieder leer wurde, betrat den der
Kleine etwas ängstlich und entfremdet. Und wie eine widersinnige Wunde ragte
aus dem grünen Gras oder aus dem weißen Schnee hervor ein braunes Lehmhügelchen
mit einem blendend weißen Holzkreuz darauf. Und noch lange danach musste sich
der Kleine an den Fremden auf dem Friedhof gewöhnen, bis sich das braune
Hügelchen durch Schnee oder Gras bedeckte und das Kreuz grau vom Regen und
Winde wurde. Alles vergeht – das Leid des Kleinen verging auch.
Nichts wusste der
Kleine über den vierten Rand der Welt, wo auch kein Weg hinführte, und sich nur
ein Pfad von der Hütte bis zum Ziehbrunnen und weiter – schon kaum merklich –
bis zum Torfmoor hinunter schlängelte. Hinter dem Torfmoor, wo sich irgendwann
die Rinderfarm mit den Knochen befand, weiter links von ihr stiegen bis zum
Horizont breite mit etwas Grünem besäte
Ackerfelder auf. Der Kleine wusste aber, dass der echteste Rand der Welt
nicht dort, sondern etwas seitlich zwischen diesen Feldern mit der Farm und dem
Torfmoor lag.
Dort hinter einer
kleinen Schlucht stieg bis zum Himmel empor eine im Gegensatz zur heimischen
Hügellehne mit grünem und saftigem Gras bewachsene Weide. Und ganz an ihrem
höchsten Rande wuchsen drei Birken – mit Wurzeln in den Horizont, mit Gipfeln
gen die hellgrauen Federwolken, mit weißen Stämmen auf dem blauen
Himmelhintergrund –: zwei eng beisammen und eine etwas beiseits.
Hinter diesen Birken
endete alles und endete auch die Vorstellungskraft des Kleinen! Hinter den
Birken rollte bis zu der Hütte hervor – entweder vom Himmel herunter oder von
irgendwo unten wie aus der Hölle herauf – das entfernte und dumpfe Dröhnen der
Stille. Es dröhnte tags und nachts die ein paar Kilometer entfernt vorbeiverlaufende
Transsibirische Eisenbahnmagistrale, die der Kleine nie gesehen hatte und von
der er in seiner Welt nichts wissen konnte.
Alles, was der Kleine
nicht kannte, aber vom Vater über etwas für ihn Unbegreifliches hörte – über Vaters
anderes Leben in der Ukraine, über den Krieg und Deutschland und über vieles
mehr – alles war für ihn hinter diesem Rand. Und es schien ihm auszureichen,
nur ein einziges Mal hinter diesen Rand zu schauen, und dies alles würde schon
gleich sichtbar und begreiflich, stellte sich wie ein umfangreiches, von einer
hohen Steilwand hinab beobachtetes Panorama dar.
Dieser Rand machte
dem Kleinen zwar tiefe Angst, zog ihn aber auch an. Allein an ihm zu denken,
regte seine Seele – irgendwo in der Magengrube und weiter oben in der Brust –
auf und überlief ihn kalt. Der Kleine wollte schon lange seinen Mut
zusammenkratzen, um den Weg bis zu diesen drei Birken – zwei eng beisammen und
eine etwas beiseite – zu bewältigen und über diesen Rand hinaus zu schauen.
Heute wachte er mit
dem Gefühl auf, dass der Tag gekommen sei. Für alle Fälle entschied er,
natürlich, den treuen Arap mitzunehmen.
Arap – ein schöner
und kluger Hofhund, rothaarig wie das Birkenlaub im Herbst – war nicht zum
ersten Mal dem Kleinen in seinen allerlei riskanten Unternehmungen behilflich.
Arap gab es in der Familie schon immer – solange sich der Kleine zurückerinnern
konnte. Arap genoss in der Familie uneingeschränkte Rechte und Freiheiten, und
über seine Heldentaten und Verdienste wurden in der Familie hochachtungsvoll Geschichten
erzählt.
Die wichtigste war
natürlich die über ihn und Dora – die alte, dickwanstige und tollpatschige,
aber für die Familie überlebenswichtige Melkkuh. Diese Kuh wurde durch einen
glücklichen Zufall angeschafft. Als der Vater nach dem Krieg und dem
darauffolgenden Haftarbeitslager zu seiner hungernden Familie zurückkehrte –
indem er sich in diesen Schweinebetrieb unter die Kommandanturaufsicht
verbannen ließ – erwachte die Hoffnung in der Familie auf ein etwas besseres
Leben.
Der Vater musste als
Maurer im Betrieb arbeiten und bekam sogar einen kleinen Lohn dafür. Von diesem
knappen Geld legte er jeden Monat ein paar Rubel auf die höchste Kante: Die
Kinder brauchten dringend Milch, um beim ohnehin knappen Essen und dazu noch
sibirischüblichen Vitaminenmangel gesund zu wachsen.
Er nahm sich vor,
wenigstens eine Ziege zu kaufen – an eine Kuh war wegen der Preise auf dem
Markt nicht zu denken. Als es soweit war und er mit der Mutter auf den Markt ging,
erwischten sie die alte Dora zu einem Angebotpreis nur etwas höher als der
Preis für eine Ziege. So erschien Dora in der Familie, und so fing die Familie
an, einigermaßen zu leben, wie die Mutter es immer erzählte.
Die Kuh hauste jedes
Jahr bis zum Winter hinein in einer Umzäunung aus Langnutzholz hinter der
Hütte. Für den Winter musste sie dann aber in den Kuhstall; der direkt an der
Hüttenwand angebaut war, sodass man bei dem eisigen Winterfrost direkt aus der
Hütte in den Kuhstall gelangen konnte. Auf das flache Dach des Kuhstalls wurde
im Herbst das duftende Heu für den Winter aufgehäuft. Ein Gang führte aus dem
Kuhstall hinunter, in eine für die Schweine in der Erde ausgegrabene, überdachte und darüber mit Erde zugeschüttete
Baracke. Direkt neben diesem mit Erde zugeschütteten und mit Unkraut
bewachsenen schiefen Barackendach befand sich unglücklicherweise die Umzäunung
der fressgierigen Dora.
Eines nachts im
Spätherbst, als das Heu bereits oben auf dem Dach gelagert wurde, jedoch Dora
noch in der Umzäunung ausharren musste, brach sie – durch den Duft des frischen
Heues verführt – die oberen Umzäunungsstangen durch und kletterte auf das vereiste
und schiefe Dach der Erdbaracke, im verzweifelten Versuch, das Heu zu erreichen
und zu kosten; rutschte aber – leider Gottes! – aus und kippte in den schiefen
und engen Spalt zwischen der Schweinebaracke und ihrer Umzäunung hinein, all
ihre vier Paar Hufe zum hellen und frostigen Mond ausgestreckt.
Sie hätte bestimmt
bis zum Morgen unter diesen äußerst eingeschränkten Bedingungen nicht überlebt,
aber der wachsame Arap schlief nicht. Im nächsten Moment sprang er aufs Dach
der Baracke hinauf; schätzte Doras armselige Lage ein, die in ihrer Schwermut
nicht einmal zu muhen versuchte, sondern Arap still und flehend mit dem
glitzernden Weiß ihrer ausgedrungenen und traurigen Augen anschaute; bellte sie
einmal – nicht böse, nur so etwas verachtend – an und schoss um die Hütte zu
der Eingangstür.
Er bellte und warf
sich an die Tür, bis der Vater aufwachte. Als der verschlafene Vater,
schimpfend und nichts verstehend, aus der Tür kam, stürzte sich Arap furchtbar
bellend auf ihn, griff ihn an seiner weißen Schlafhose, zog ihn hinter sich
her, lief einladend um die Ecke und wieder zurück zum Vater, erreichte doch
Vaters Verständnis und führte ihn zu Dora.
Ein anderer Fall war
nicht so bedeutend für die Familie, charakterisierte aber Araps Ehrlichkeit und
Selbstlosigkeit ausdrücklich. Arap und Mieze – die schwarzweiße Familienkatze –
blieben einmal tagsüber alleine in der Hütte. Auf dem Tisch, wo gegessen wurde,
blieb immer etwas Essbares liegen: Milch, Brot, ein Stück Speck, ein Knochen
auf dem Teller, der noch seinem „Polieren“ unterlag, sodass jeder für sich
etwas zum Imbiss finden konnte, wenn er sich im Tagesverlauf entkräftet fühlte.
Erst abends, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und sich zum
Abendessen hinsetzte, kam die ganze Familie am Tisch zusammen.
Arap schlief, durch
die sommerliche Hitze ermüdet, auf einer Fußmatte an der Eingangsschwelle und
Mieze saß oben auf dem Ofen, kniff ihre grünen und schlauen Katzenaugen
zusammen und lauschte – immer wieder nach den schmackhaften und sie seit langem
verführenden Esstisch schielend – dem unruhigen Schlaf des ab und zu zusammenzuckenden
und sich an seinen Flanken mit
Zähnen klatschenden Arap. Schließlich
überwältigten die Versuchung und Gier all ihre anderen Überlegungen: Mieze
stieg weich vom Ofen auf den Fußboden herab und sprang auf den Tisch hinauf.
Arap nahm sie ins
Visier gleich, als sie auf dem Fußboden landete, kam aber erst dann an den
Tisch heran, als sie sich in ihrem hinterhältigen Vorhaben vollkommen und endgültig
entlarvte, und bellte ihr mal im Bass seine ehrliche und unbestechliche Meinung
über ihre Tat.
Mieze verstand
sofort, dass sie von Arap erwischt wurde, vergaß das Essen und wollte nun nur
noch eins – sich aus dem Staub machen. Vergeblich! Arap vermied mit seinem
strengen Bellen all ihre Versuche, vom Tisch abzuhauen und der gerechten Strafe
zu entkommen. Als die Mutter nach Hause kam, saß die Arme immer noch auf dem
Tisch, ohne etwas vom Essen zu berühren, während Arap unter dem Tisch lag,
darauf wartend, die am Tatort erwischte Mieze von Hand zu Hand dem Herren
Willen zu übergeben.
Arap selbst erlaubte
sich nie in der Hütte das zu berühren, was nicht ausdrücklich für ihn bestimmt
war. Er hielt es allerdings nicht für
nötig, sich mit Mieze ebenso ehrlich und anständig zu verhalten. Mieze, wenn
sie ihre Kätzchen hatte, schaffte normalerweise Futter für sie durch die Jagd
in umliegenden Feldern und Wäldern heran und kehrte nie ohne Beute zurück. Sie
brachte immer Feldmäuse, aber manchmal gerieten auch Vögel und sogar kleine
Häschen oder Murmeltiere ihr in die Krallen.
Arap erlegte ihr aus
ungewissen Gründen einen unerträglichen Tribut auf, den sie ihm abzureichen
hatte. Falls er zu Hause war, kam er ihr immer bei ihrer Rückkehr von der Jagd
entgegen und versperrte mit seinem Körper den Weg nach Hause, indem er sich
herausfordernd quer über ihren Weg stellte. Mieze – gemerkt, dass es ihr
diesmal nicht gelingt, an Arap vorbeizuschleichen – legte ihre Beute vor seine
Pfoten und entfernte sich unweigerlich, aber würdevoll.
Nur eines rettete
Mieze und ihre Kätzchen vor dem Verhungern – Arap war selbst tagsüber selten zu
Hause, und keiner wusste, wo er sich herumtrieb. Manchmal humpelte er danach
auf drei Pfoten zurück – manchmal kroch er, überhaupt kaum noch lebend, nach
Hause und leckte noch lange danach seine Schusswunden zu, winselnd und sich
über die Menschen beklagend.
Einen üblen Dienst
erwies ihm sein Fell von Birkenlaubfarbe im Herbst – alle, einschließlich der
in der Umgebung passierenden Jäger, hielten ihn im Freien für einen Fuchs. Aber
nichts konnte diesen klugen Hund zur Vernunft bringen – die leidenschaftliche
Sucht nach Freiheit und nach freier Weite verfolgte ihn bis zu seinem Ende.
Alle Versuche, ihn
durch Anketten zu retten, scheiterten und waren zwecklos: Er schaffte es immer
wieder, das Halsband mit Pfoten runterzukratzen, und lief weg. Wenn er es mit
dem Halsband nicht schaffen konnte, schlug er sich so lange, bis er die Kette
durchriss, und lief sowieso weg.
So lief er einst weg
und kehrte nie mehr zurück. Er kam am nächsten Tag nicht und am übernächsten
auch nicht. So etwas kam auch früher vor, aber dann kroch er schon in einem ganz
schlechten Befinden heim. Als er auch am dritten Tag nicht heimkehrte, wusste
die Familie bereits, dass er nie wieder zurück sein wird.
Dies war der erste
schwere Verlust in der Familie und der erste schwere Verlust im Leben des
Kleinen. Noch lange danach forschte der Kleine sein Landreich durch, aber er
fand nirgendwo irgendwelche Spuren von Arap. Und dann begriff der Kleine die
Kühle und Bosheit der weiten und fremden Außenwelt, und seitdem fühlte er sich
oft einsam auf dieser Welt
Jetzt rief der Kleine
auch vergeblich nach Arap, aber als er bis zum Torfmoor kam, holte ihn der aus
seinem ungewissen Irgendwo außer Atem hierher angestürmte Arap ein – genauso
frei, wie der Kleine auch – und wischte in seiner freudigen Begeisterung alle
Sprossenfelder im Gesicht des Kleinen mit seiner heißen und rauen Zunge ab.
Er lief dem Kleinen
voraus; kam wieder zurück; schaute ihm in die Augen, bemüht, das Vorhaben des
Kleinen zu erraten. Als sie hinter dem Torfmoor waren und Arap zu verstehen
schien, was sich der Kleine vorgenommen hatte, trabte er gleich ohne Hektik
wenige Meter vorne vor dem Kleinen. Die Schlucht überwand er in einem Schwung.
Der Kleine blieb aber am Boden der Schlucht mit steilen Wänden von seiner
eigenen Höhe stecken.
Der Kleine wusste
nicht, dass die Schlucht so tief und steil war, denn er schaffte es noch nie
alleine bis dorthin. Die ganze Familie kam nur manchmal im Frühling zur
Schlucht, wenn die ganze Gegend von so einem Tosen gefüllt wurde, dass man es
schwer hatte, in der Nacht zu schlafen. – Es lärmte und schäumte die Schlucht,
in der die Tauwässer von der ganzen Hügellehne, die Schlucht überflutend, ins
Torfmoor sausten.
Zu Hilfe kam der
treue Arap – den Kleinen entweder am Kragen oder an einem Hosenträger mit Zähnen
gepackt, zog er ihn, jaulend und an den Hinterpfoten kauernd, herauf; bis der
Kleine oben ankam. Der Zwischenfall erschütterte das Selbstvertrauen des Kleinen
und er ginge wahrscheinlich nicht mehr weiter, sondern kehrte lieber zurück,
wäre der zuverlässige Arap nicht hier bei ihm. Arap schaute dem Kleinen ins
Gesicht und stellte sich neben ihn unter seine linke Hand.
Je näher die drei
Birken rückten, desto klarer spürte der Kleine reine Leere des Himmels hinter
ihnen, desto größere Aufregung packte ihn. Und als bis zum Horizont, aus dem
die Birken wuchsen, schon ganz wenig blieb, – riss sich hinter ihm los – aus
der irgendwo brüllenden Stille her, dem Kleinen und dem stillwerdenden Arap
entgegen – ein heißer Windstoß, der heftiger war als der Knall einer
geschüttelten Decke.
Der durch die
Erwartung hinter den Rand zu schauen äußerst angespannte Kleine hielt es nicht
mehr aus und rannte panisch Hals über Kopf hinunter, Kopf eingezogen und nur
die Blitze seiner während des Sommers bis zum Blut geplatzten Füße sehend.
Um ihn herum kreiste in wilder Begeisterung Arap, ins
laute Gebell verfallen und sich über das vom Kleinen ausgedachte Spiel freuend.
Dabei versuchte er spielend noch, den Kleinen immer wieder mit Zähnen an den Fersen
zu erwischen, wodurch der Kleine in seinem Lauf noch mehr drauflegte. Der
Kleine kam erst zu sich, als er auf den Boden der Schlucht hinunterrollte und
mit seinem Rücken ihren steilen und sicheren Abhang spürte...
So gelang es damals
dem Kleinen nicht, hinter den ihn so faszinierenden Rand seiner Welt zu
schauen, und so blieb seit damals in ihm eine leidenschaftliche und über alles
gehende Sucht nach der dröhnenden, tosenden und anziehenden Stille der
unbekannten und unerforschten Ferne.