Svenja Osse
Die Frau und ihr Künstler
Die Leute riefen ihn Poet. Die Leute riefen ihn Musiker. Die Leute riefen ihn Rhetoriker. Die Leute riefen ihn Künstler.
Mich riefen sie beim Namen.
Der Mann an meiner Seite war scheinbar ein kleines Wunder Gottes. Er war in der Lage, Hass in dunklen, schattigen, einschüchternden Farben und Liebe mit dem Zupfen an den Saiten seiner Gitarre auszudrücken.
Ich war in der Lage, ihm zuzuhören.
Manchmal saß er vor dem Kamin. Er spielte. Er sang. Ich saß schräg hinter ihm und hörte ihm zu. Das leise Knistern des Feuers verschmolz mit dem rauen Klang seiner Stimme. Spielerisch warf die hektisch tanzende Flamme einen goldenen Schein auf seine Stirn. Mit jedem Griff auf dem Hals seiner Gitarre sah ich wie sich die feinen Muskeln seines Unterarms abzeichneten.
Am liebsten wäre ich nun aufgestanden, zu ihm herübergegangen und hätte ihn sanft geküsst. Doch die Gitarre war im Weg. Ein simples Saiteninstrument, für so manchen nichts weiter als Holz, Stahl und Nylon.
Manchmal saß er am Schreibtisch. Er zeichnete. Oder er schrieb. Ich saß hinter ihm auf dem Bett und betrachtete ihn. Das gelbe, zarte Licht warf neben ihm einen geschmeidig geschwungenen Schatten an die Wand. Ich beobachtete die Bewegungen seines rechten Armes und konnte die feinen und behutsam gezogenen Linien, die er mit dem Bleistift zog, nur erahnen.
Am liebsten wäre ich nun aufgestanden, zu ihm herübergegangen, hätte seine Hand genommen und sie langsam und vorsichtig auf meinem Gesicht abgelegt.
Doch der Bleistift war im Weg. Ein simples Utensil zum Zeichnen, für so manchen nichts weiter als eine Graphitmine und ein Holzschaft.
Meine Liebe zu seinen wundervollen Kreationen wuchs stetig in mir und wurde fast so groß wie die Liebe zu ihm selbst. Doch Hass, Hass ist das perfekte Gegenstück - und dieses kroch durch mich hindurch. Ich empfand Hass, wenn ich in den Spiegel sah. Er fraß mich auf. Langsam und quälend; manchmal leise flüsternd, manchmal kreischend wie ein wildes Tier.
Er liebte mich innig, ließ so viele kleine Risse in meiner Seele verheilen. Innerlich schwor ich ihm ewige Dankbarkeit. Weil er ein kleines Wunder Gottes und weil er mein Mann war.
Ich war nie eine Kämpfernatur...
Die Leute rufen mich autoaggressiv. Die Leute rufen mich ,,von Komplexen durchzogen“. Die Leute rufen mich labil. Die Leute rufen mich Suizidopfer.
Die Leute rufen ihn Witwer.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2007.
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