Jannek Likus

Die Verteidigung des Styles

Er rannte.Sein langer, zerschlissener Mantel wehte hinter ihm her, als er durch die engen Straßen der Stadt hetzte, seine Stiefel trommelten in einem unaufhörlichen Stakkato auf den Boden, der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Immer lauter wurden die Fußtritte seines Verfolgers, der ihm in raubtierhafter Beharrlichkeit hinterhereilte. Das gestohlene Handtäschchen schlug immer wieder schmerzhaft gegen seinen Oberschenkel, nachdem er noch einmal beschleunigt hatte, von seiner Umgebung nahm er nur noch Schemen wahr, die schnell auftauchten und genauso schnell wieder verschwanden.
Plötzlich wurde einer dieser Schemen zu einer Autotür, die jemand aufgerissen hatte, es war zu spät zum Ausweichen und so beobachtete er sich hilflos dabei, gegen das Hindernis zu laufen.
Als er wieder zu sich kam, beugten sich zwei Männer, sein Verfolger und ein Unbekannter, über ihn. Er versuchte, sich zu bewegen, doch musste feststellen, dass er an Händen und Füßen gefesselt war. Sogar geknebelt hatte man ihn.
Inzwischen schienen die beiden Männer gemerkt zu haben, dass er wach war. Sein Verfolger spuckte ihm zwischen die Augen. Speichel spritzte ihm über das Gesicht, er versuchte nicht daran zu denken. „So etwas von erbärmlich... was für ein stilloser Mord!“
Der andere nickte dazu und murmelte: „Einer wehrlosen Frau die Geldtasche wegzunehmen, sie dann zu verfolgen und umzubringen, damit sie einen nicht verrät, das ist arm.“
-„Diese Stadt ist nahe dem Untergang, unsere Kampagne kommt keinen Moment zu früh.“
-„Gegen den stillosen Einsatz von Gewalt.“
Beide hatten feuchte Augen bekommen. „Du sagst es, mein Lieber, gegen alles, was hier so kriecht und kraucht ohne einen Funken Anstand und Ehre im Leib.“

Für Polizeichef Nolan war dieser Morgen ein grausamer. Wieder wanderte sein Blick über die grässliche Szenerie. Ein Mann war an der Wand ‚gekreuzigt’ worden. Sein Oberkörper war entblößt bis auf die Arme, die in den Ärmeln eines Wollmantels steckten, von dem ansonsten nichts mehr vorhanden war. Haushaltsgegenstände jeder Art, hauptsächlich jedoch Besteck hielten sie an der Wand, und den Körper mit. Wie in einem Comic...
Seine Brust und sein Bauch waren übersäht mit Wörtern, die dort hineingeritzt worden waren. „this world is rotten“, las Nolan und: „style is everything”. Das Messer, das vermutlich dafür verantwortlich war, steckte jetzt in seinem Hals und war die augenscheinliche Todesursache.
Nolan blinzelte im plötzlichen Blitzlicht der Polizeiphotographen und drehte sich augenreibend um.
„Okay, ich will alles über diesen Mann wissen, zuerst seinen Namen!“ Sprudelte er in seiner üblichen schnellen Art heraus.
„Jonathan Renns“, kam ihm eine Polizistin zu Hilfe. „Er hat seinen Ausweis im Mund.“
Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte sich Nolan davon. Es gab also Leute, die sich von diesem Anblick nicht ablenken ließen. „Also gut, ich möchte, dass Ihr für mich alles über ihn herausfindet. Wann er zum ersten Mal Sex hatte, mit wem, wie lange, aber vor allem...“
Hier wurde seine Stimme so scharf, dass sich fast jeder auf der Straße kurz zu ihm umdrehte. „Dass ihn jemand nicht mochte, ist wohl ersichtlich. Jetzt will ich wissen, wer alles Gründe dafür hatte. Hat er seine Rechnungen unregelmäßig bezahlt? War er ein Säufer, ein Spieler oder ein Schläger? Ich gebe euch Zeit bis zur Mittagspause, bis dahin habe ich einen vollständigen Bericht auf meinem Schreibtisch, ist das klar?!“

Doris saß alleine auf ihrem Platz in der Bahn. Neben sich hatte die alte Frau ihre Handtasche abgestellt. Schon sonderbar. Je älter sie wurde, desto mehr musste sie darin mitnehmen. Sie erinnerte sich noch daran, dass sie als kleines Mädchen noch ein winzig kleines Täschchen gehabt hatte, das sie stets um den Hals getragen hatte.
Plötzlich schob sich ein Mann neben sie und holte sie damit zurück in die Gegenwart. Mit einem fast traurigen Blick sondierte er sie. Eingeschüchtert ließ sie ihrerseits ihre Augen kurz über ihn wandern, während ihr Mund wie automatisch die Worte formte: „Was erlauben Sie sich! Sie Flegel Sie.“
Er trug enge schwarze Klamotten aus Leder, die im Schein der in den Fenstern vorüberrasenden Lichter glänzten. Seine langen Haare endeten hinten in einem Zopf, gleich neben einem asiatischen Schwert.
Sie schluckte.
„Ich möchte mich Ihnen offenbaren.“
Ein schneller Blick zeigte ihr, dass sie beide allein in diesem Abteil waren.
„Helden gibt es viele, in jedem Film sieht man welche“, setzte er an, offensichtlich nicht gewohnt, einfach so drauflos zu reden. „Aber das, worauf es wirklich ankommt, Style, das hat keiner mehr. Sie müssen das verstehen, früher war alles besser, nicht wahr?“
Er setzte zu einem Lächeln an, das aber sofort verschwand, als er merkte, dass sein kleiner Witz kein Publikum fand. „Wissen Sie, wenn man es recht bedenkt, Coolness ist, wenn Style zur Massenware wird.“
Er zögerte kurz und sprach dann weiter. „Diese beiden Begriffe müssen Ihnen nichts sagen. Das ist unbedeutend. Sie sind unbedeutend.“
Sie zuckte zusammen. Doris hatte eine unangenehme Vorstellung davon, warum sie so unwichtig war.
Ohne auf sie zu achten fuhr er fort. „Nehmen wir alleine die Farbe rot. Eine ausgezeichnete Farbe, aggressiv, aber auch tiefgründig, kündet von der Liebe, aber genauso von Blut. Viele der größten Helden tragen rot, Vash the Stampede und Alucard, um nur zwei zu nennen!“
Seine Mimik veränderte sich nicht, obwohl er voll Enthusiasmus erzählte. Traurig fixierten sie seine Augen. „Aber das macht diese Farbe tabu.“
Sein Tonfall hatte sich schlagartig geändert, war absolut nüchtern geworden. Doris war gebannt; obwohl sie ahnte, was ihr drohte, konnte sie den Blick nicht von ihm lassen.
„Wer wäre ich“, fragte er, und schon wieder wandelte sich seine Stimme, „wer wäre ich, dass ich auf den Stil solcher Persönlichkeiten zurückgriffe, die der meinen doch so widersprechen. Ich bin nicht sie, also muss ich auch anders aussehen!“
Leise fragte Doris: „Wer sind Sie also?“
Zum ersten Mal in diesem Gespräch leuchteten seine Augen auf. „Freut mich, dass Sie fragen“, sagte er sich erhebend. Seine Hand ging nach hinten und zog zielsicher das Schwert, dass er dort trug. „Ich bin natürlich...“
Er sprach langsamer, während er die Klinge an ihren Hals führte und dort verharren ließ. Dann beugte er sich vor und flüsterte ihr fast zu: „Luzifer.“
Sie schrie auf, doch schon hatte er sie aus ihrem Sitz erhoben und gegen die Wand geschubst.
Außer Atem verstummte sie.
Er senkte den Kopf als er weitersprach, die Waffe noch immer auf ihren Hals gerichtet. „Ich mag den Tod, wirklich. Er hat etwas Heiliges an sich. Doch leider“, seine Stimme wurde hart, „leider gibt es Leute, die dem Tod alles Heilige, Ehrenhafte nehmen, alles das, was ihn so wertvoll macht.“
Er spuckte aus.
„Diese bloßen Sterblichen erdreisten sich, einfach so über Leben und Tod zu entscheiden, wie es meine Aufgabe und die meines Partners wäre.“
Sie sah, wie seine Knöchel an der Schwerthand weiß wurden. „Sie töten ohne Stil. Das mag für sie jetzt etwas befremdlich klingen, aber Stil ist letztendlich alles, was überleben wird. Wenn der Rest im Staub der Zeit verschwindet“, sagte er und wischte sich dabei eine Träne aus dem Gesicht. „Stil... und die Geschichte. Aber das war ja schon klar, nicht?“
Doris sah sich einem so fremdartigen Denken ausgesetzt, dass sich ihr Gehirn schlicht weigerte, irgendwas davon aufzunehmen. Aber trotzdem spürte sie, dass ihr Ende nicht mehr fern war. Auf jeden Fall stand sie wieder in seiner unmittelbaren Aufmerksamkeit.
Ein Lächeln baute sich langsam in seinem Gesicht auf. „Womit wir bei dem Grund wären, warum ich ausgerechnet Sie auserwählt habe, meine Geschichte anzuhören.“
Er machte eine kurze Pause und musterte sie kurz, anscheinend auf der Suche nach irgendetwas, was er allerdings nicht fand. Doris wusste nicht, ob sie deswegen glücklich oder besorgt sein sollte.
„Man weiht keine Männer in seine Pläne ein. Das machen immer die Bösewichte in irgend solchen Schundromanen. Sie geben alles einem Mann preis, der kurz darauf frei kommt, auf welche Weise auch immer und schon haben die Bösewichte maßgeblich zu ihrem eigenen Untergang beigetragen.“
Er grinste auf eine gruselig humorlose Weise. „Man darf Männer nicht einweihen, das ist einfach gegen den Fluss der Geschichte. Genauso verhält es sich mit Kindern und jungen Frauen.“
Doris’ Gehirn reagierte automatisch und sie sagte scharf: „Was für eine sexistische Ansicht!“
Sofort bereute sie das, doch Luzifer nahm daran keinen Anstoß. „Ein wahres Wort, doch leider bildet diese Ansicht das Gesetz in der Welt, in der ich lebe. Tauche nie in den Fluss der Geschichte, oder er wird dich mit sich reissen!“
Darauf wandte er sich von ihr ab und ging zur Waggontür.
Zu panisch um sich zu bewegen sah Doris ihm dabei zu, wie er Stück für Stück den Verschluss abbaute und dann die Tür mit einem Ruck aufriss.
Ein kalter Windzug erfasste beide und warf sie nieder, doch bevor Doris wieder alle Sinne beisammen hatte, war sie hochgehoben und an die Tür getragen worden. Das war es also, ihr Ende. Sie hatte sich immer gefragt, wie sie einmal sterben würde.
„Keine Sorge“, flüsterte er in ihr Ohr, „es wird so schnell gehen, dass du nichts spürst. Ein Knacken und alles ist vorbei – für dich.“
Mit einem Schwung beförderte er die fast gewichtlose Greisin unter den Zug, wo sie binnen Sekunden von den Stahlrädern zerfetzt wurde, und konnte sich selbst nur im letzten Moment am Rahmen festhalten, um nicht ebenfalls herauszufallen.
Auf dem Rücken in dem offenen Abteil liegend, den Zugwind genießend, sah er sich lächelnd den Sternenhimmel an und, der Geschichte gehorchend, zeigte ihm den Mittelfinger.

Doris’ Tod wurde in der Presse nur sehr kurz erwähnt. Es gab keinen deutlichen Hinweis auf einen Mörder, und dass sie sich alleine unter den Zug geworfen haben sollte, fand niemand wirklich interessant bis auf Polizeichef Nolan, der an dem Fall jedoch mangels Indizien auch nicht weiterkam.
Bei der anderen Sache war er jedoch auch nicht viel weiter als vorher. Inzwischen war noch eine weitere Leiche aufgetaucht, die fast sicher von Jonathan Renns ermordet worden war, doch war das eine alte Frau gewesen, um die sich keiner mehr geschert hatte. Sie war praktisch genau so einsam gewesen wie Jonathan, der als Neuling in der Stadt in einer alten Baracke gewohnt hatte, und sich mit kleineren Diebstählen über Wasser gehalten hatte. Ihm gefiel der Gedanke nicht, dass jemand in seiner Stadt herumlief und scheinbar ziellos Leute umbrachte. Er hoffte nur, dass er rechtzeitig etwas herausfand, bevor es zu weiteren Todesfällen käme. Das war seine Stadt und er würde sie nicht einfach so aufgeben.
All dies erklärte er den anderen Polizisten, die sich in der Kantine versammelt hatten, um einen Kaffee zu trinken. Die meisten waren nervös. Das war keine Art eine Pause zu verbringen. Ein anderer aß gelangweilt etwas von dem unidentifizierbaren Etwas, das hier in der Kantine verkauft wurde und verschluckte sich fast, als sich Nolan plötzlich vor ihm aufbaute.
„Diese Toten interessieren Sie nicht, was?“
-„Hab Pause, Chef.“
In seinem Gesicht war deutlich zu lesen, dass seiner Meinung nach die Toten halt tot waren und es ihnen auch nicht schlechter ginge, wenn man sich mit den Ermittlungen Zeit ließ.
„Ist Ihnen schon einmal die Idee gekommen, dass, während Sie hier die Beine hochlegen, weitere Leute sterben könnten?“
Schmidt hatte schon einen ziemlich guten Konter auf den Lippen, als er einen Blick in das Gesicht seines Gegenübers warf. Seine ohnehin schon bleiche Haut wurde noch etwas blasser.
„An die Arbeit oder Sie werden sich glücklich schätzen können, wenn Sie in den nächsten zwei Wochen genügend freie Zeit finden um sich eine Zigarette anzuzünden.“

In ‚Willie’s Schnellimbiss’ drehten sich die Köpfe, als es am Eingang einmal laut krachte. In der Tür stand ein langhaariger junger Mann, der soeben ein großes hölzernes Kreuz vor sich abgestellt hatte. Er war in so etwas wie einen Bademantel gehüllt und trug Sandalen, die laut auf den Boden klatschten, als er langsam, das Kreuz hinter sich herziehend, auf den Tresen zuging. Alle Augen folgten ihm aufmerksam.
Willie zeigte kurz mit dem Daumen auf das sperrige Holzstück. „Was soll das denn?“
Der Fremde sah ihn etwas schuldbewusst an und erwiderte dann: „Wenn ich ausgehe, ist das so weit praktischer als mich annageln.“
„Nichtsdestotrotz,“ fuhr er, nach kurzer Pause, fort, „kann ich mein Amt als meines Vaters Sohn ungehindert ausführen. Eh, ein Glas leicht angewärmtes Wasser bitte.“
Damit drehte er sich um und besah sich sein Publikum. Einige grinsten.
„Ich bin nicht hier, um euch Ungläubige wieder auf den rechten Pfad zurückzuführen.
Nein, ich bin aus einem viel traurigeren Anlass hier.“
Mit dem Kreuz auf der Schulter ging er auf einen dickeren Mann zu, der alleine in einer Ecke des Raumes saß. „Einer von uns ist keiner von uns,“ murmelte er dabei.
„Du hast getötet.“
Der Dicke erbleichte. „E-Es war ein Unfall...“
„Du hast ein kleines Kind überfahren.“
Wütend schrie der Mann, was ihn das angehe. Das Gericht habe ihn für unschuldig erklärt. Dann geriet er ins Stocken. Sein Blick war gebannt vom Gesicht des Typen, der sich ihm traurig lächelnd immer weiter näherte. Seine Augen waren tiefe Seen des Schmerzes und der Bestürzung, dunkel lagen sie da und sogen alles ein, was er sagen wollte, alles, was er seit dem Unfall sich selbst immer wieder vorgeworfen hatte. Sie kannten ihn, wussten um jede Facette seines Selbst und sie liebten ihn.
Weinend fiel er auf die Knie. Seine Lippen bewegten sich stumm um die Worte seiner Bitte.
Dann stand das Kreuz plötzlich vor ihm. „Erlösung ist es, worum du bittest. Und du sollst sie kriegen. So trete denn vor das Gericht meines Vaters und lass sein Urteil entscheiden.
Still starrten die anderen Gäste auf das Geschehen, das Essen vor ihnen war längst vergessen, denn was hier geschah, war ganz eindeutig von absoluter Bedeutung. Langsam formte sich in einigen Köpfen ein dunkler, schockierender Gedanke, doch der wurde einfach ignoriert. Und so folgten die Augen den Bewegungen des Fremden, der ein Messer zückte, es dem Dicken in die Hand legte und diese an seinen Hals führte. Danach küsste er ihn noch ein letztes Mal auf die Stirn und schloss ihm seine Augen.
Er war längst durch die Tür hinaus, mit dem Kreuz wieder auf dem Rücken, als man drinnen hörte, wie der Schnitt gemacht wurde. Frauen begannen zu kreischen, Tische wurden umgestoßen, doch in all der Aufregung kam niemand darauf, ihn zu verfolgen.

„Also, noch einmal von vorne,“ sagte Nolan in einem schrecklich neutralen Tonfall, „dieser ‚Jesus’, ich will ihn einmal so nennen, kam an die Theke und orderte ein Glas Wasser. Lauwarm. Ist das so richtig?“
Scharf sah er Willie an. Es war nicht so sehr, weil er glaubte, auf diese Weise mehr Informationen zu bekommen, als vielmehr, damit die Leute merkten, dass sich jetzt ernsthaft um die Sache gekümmert wurde. Die Polizei rief im Allgemeinen in Leuten die gleiche Wirkung hervor wie eine große Raubkatze. Man fürchtete sie, weil man wusste, dass es jenen, die einmal ihre Aufmerksamkeit erregt hatten, sehr bald sehr schlecht gehen würde. Wenn ein Verbrecher Angst hatte, beging er Fehler oder gab vielleicht sogar auf.
Er beobachtete Willie schlucken und dann fast unmerklich nicken.
Bei diesem Jesus schien diese Strategie jedoch nicht zu funktionieren. Ohne sich einen Deut um die Gefahr zu scheren, war er hier aufgetreten und hatte in einem Gebäude voller Menschen jemanden umgebracht. Oder ihn zu einem Selbstmord genötigt. Und dann war da noch etwas.
„Und als Sie sich daran machten, die Bestellung auszuführen, ist Ihnen was aufgefallen?“
Fragend hob er die Augenbrauen.
Schweiß zeigte sich auf der hohen Stirn des Mannes. „Es, es gab keins. In den Wasserflaschen war etwas rotes, und ich wusste nicht, was. Aber als ich ihm das sagen wollte, hatte er sich schon umgedreht und mit seiner Show begonnen.“
„Wein,“ half Nolan weiter, „in den Flaschen war Wein.“
Er atmete tief durch. Das war doch ein Witz. Irgendjemand nahm ihn nicht ernst. Irgendjemand spielte hier ein Spielchen mit ihm in dem Bewusstsein, dass er immer einen Schritt voraus wäre.
Rumpelnd stand er auf und sah auf Willie herab. „Sie können erst einmal gehen, ich komme auf Sie zurück.“
Er drehte sich um und ging zu der Stelle, wo jemand mit Kreide versucht hatte, die Umrisse des Toten darzustellen, und wie üblich war nicht zu erkennen, was Arm, und was Bein war. Kurz verlor sich sein Auge in dem abstrusen Wirrwarr. War das der Grund gewesen für die Morde? Selbstjustiz? War hier irgendjemand auf der Jagd nach Mördern? Aber wie passte Doris’ Tod dazu?
Er winkte sich einen jungen Polizisten heran, der untätig und etwas unbequem dagestanden hatte. „Ich will, dass Sie mir die Akte von dieser alten Frau besorgen, wie hieß sie noch, Frau Bröhm. In einer halben Stunde auf meinem Schreibtisch.“
Jeder hat in seinem Leben mal etwas ungesetzliches gemacht. Das ist ein Grund für die Angst vor Polizisten. Aufgrund dieser Vorstellung war für Nolan jeder schuldig. Sogar eine alte Frau. Jetzt musst er nur noch herausfinden, ob diese spezielle schuldig genug war, um dafür umgebracht zu werden.

Wenn man eine Geschichte hört, über eine Frau, die eine hochkomplizierte Maschine bedient, so weiß man schon im Voraus, was geschehen wird. Man darf es nicht sagen, aus Gründen der Emanzipationstheorie, die besagt, dass man von Frauen die gleiche Leistung erwarten soll wie von Männern, aus welchen Gründen das auch immer sinnvoll sein soll, aber tief drinnen weiß man, was passieren wird, und man wird leicht enttäuscht sein, wenn es das nicht tut.
Der Grund ist die Geschichte.
Von klein auf lernen wir aus Büchern, Filmen und Theaterstücken, dass das Gute immer siegt, Frauen irgendwie anders sind, Amerika einfach toll und was passiert, wenn man etwas bestimmtes tut.
Wenn du im Dunkeln liest, bekommst du schlechte Augen.
Wenn du dich nicht warm anziehst, wirst du dich erkälten.
Wenn du mit Fremden mitgehst, werden sie dir wehtun.
Viele dieser Geschichten sind sinnvoll und helfen dir zu überleben. Doch sie alle haben eins gemeinsam. Sie sagen dir die Zukunft voraus. Wenn du es viermal nicht schaffst, mindestens eine Drei zu würfeln, wird es dir auch nicht beim fünften Mal gelingen. Wenn doch, bist du fröhlich überrascht.
Luzifer und Jesus waren anders. Sie wussten um die Geschichte und machten Gebrauch von ihr. Wenn sie viermal keine Drei würfeln würden, so würden sie dafür sorgen, dass es auch beim sechsten Mal nicht gelänge, beziehungsweise in ihrem speziellen Fall würden sie selbstverständlich schon beim ersten Wurf erfolgreich sein.
Überzeugt davon, dass das Leben sinnlos, zu kurz und vor allem viel zu versperrt war von den Anforderungen daran, hatten die beiden Jugendlichen entschieden, sich davon zu distanzieren und die einzigen Dinge, die sie für wertvoll erachtet hatten, in der Welt zu verbreiten. Die Geschichte und den Style.
An einem kleinen Fleckchen in der Unendlichkeit zwischen Raum und Zeit sollten die Geschichten endlich einmal wahr sein. Ein Menschenleben würde hier für kurze Zeit etwas wert sein und die Bedeutung von jemandem würde man an seiner Kleidung ablesen können.
Zwischen ihnen bedurfte es keiner Absprache mehr. Kein Wort war mehr bedeutend genug für diese zwei, deren Namen allein die Welt erbeben ließ, sie verstanden sich auch so.
Während Luzifer die dunkleren Bezirke der Stadt durchstreifte und nach Mördern suchte, bediente sich Jesus anderer Quellen, um vom Weg abgekommene Gläubige zu finden. Im Moment lauschte er wieder einem Gebet.
Kurze Zeit später ging er aus dem Haus, sein Kreuz geschultert. Sein Ziel war die Elisabeths Kirche ein paar Straßen weiter.

Als Dennis, ein etwas übergewichtiger Mittvierziger, sich von der unbequemen Holzbank erhob und sich in Richtung Kirchenausgang wandte, bemerkte er einen Mann, der dort stand und ihn aus tiefgründigen Augen beobachtete. Aus Reflex ging seine Hand in die Jacke, zog eine Zigarette hervor und steckte sie in seinen Mund. Während sie sich auf die Suche nach einem Feuerzeug begab, realisierte er, was er gerade tat, und steckte die Zigarette mit der anderen Hand wieder weg. „Nein,“ sagte er sich, und seine Hände ballten sich dabei zu Fäusten, „nie wieder!“
Kurz schloss er die Augen, dann ging er unsicher los, auf den Mann am Ausgang zu, der, wie er ein wenig erleichtert feststellte, keinen Anzug trug. Er hatte in letzter Zeit viel zu viele Anzüge gesehen. Traurig lächelnd wurde er erwartet, als er sich Schritt für Schritt näherte.
„Ich habe dein Gebet erhört.“
Plötzlich in Wut entbrannt fuhr er ihn an: „Wer bist du?“
Es gab keine Reaktion auf diesen Ausbruch. Er wurde nur weiter angelächelt. „Der Einzige, vom dem Du Hilfe erwarten kannst.“
-„Geh mir aus dem Weg!“
In seinem Mantel von Zorn versuchte er, möglichst schnell an diesem sonderbaren Fremden vorbeizukommen.
„Du hast deine Tochter zum Tode verurteilt.“
Entsetzt fuhr Dennis herum, starrte in das furchtbar mitfühlende Gesicht seines Gegenübers. Zitternd vor Zorn fragte er ihn durch zusammengebissene Zähne: „Woher weißt du das?!“
Doch der senkte nur seinen Kopf. „Möchtest du reden?“

„Ich hätte ihr das nie freiwillig angetan, ich liebe sie doch...“
Die beiden saßen auf dem Steinmäuerchen einer dunklen Brücke und schauten in die finsteren Fluten, die sich unter ihnen hinwegwälzten. Neben ihnen stand abstrakt das hölzerne Kreuz, das der Fremde mitgenommen hatte.
Zögernd fing er wieder an. „Aber dann, als die Ärzte uns das mitgeteilt haben, dass sie Krebs hat...“
Hasserfüllt schlug er sich auf die Brust, riss die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche und warf sie in das Schwarz unter ihnen.
Fast weinend stieß er aus: „Ich bin kein schlechter Vater. Kein schlechter Vater hat je seine Tochter umgebracht!“
Tränen schossen ihm in die Augen, als er sich in die Kleidung seines Gefährten verkrallte. „Wird sie... Was wird jetzt mit ihr?!“
Dieser umgriff fast zärtlich seine Hände. „Es wird sich bereits um sie gekümmert.“

Das städtische Krankenhaus war groß, unübersichtlich und es roch nach Desinfektionsmitteln. Irgendwie wirken alle Krankenhäuser so, auch die ganz kleinen, es scheint ein Geheimnis zu sein, dass nur Krankenhauseinrichter kennen. Anna lag in einem Zimmer, das sich in einem abgelegenen Trakt des Gebäudes befand, in den sich sogar Krankenschwestern nicht sehr oft verirrten, wenn man nicht speziell nach ihnen rief. Es hatte weiße Wände, an denen je ein Bild hing, bis auf an einer, vor der ein Fernseher stand, der nie angeschaltet wurde. Es ist eine Eigenart von Krankenzimmern, dass sie stets halb leer und steril wirken, egal, wie viel man in sie hineintut. Dieses war anders; Es war wirklich nicht viel darin, was den Effekt sonderbarerweise etwas abzuschwächen schien.
Anna saß in ihrem Bett, was sie nicht durfte, und lehnte sich dabei auf ihr kleines Nachttischchen, das neben dem Bett und dem Tischchen mit dem Fernseher darauf das einzige Möbelstück hier drin war. Sie war wütend. Man hatte ihr gesagt, dass sie bald sterben würde. Daher dürfe sie nicht gelangweilt sein. Was für ein schwachsinniger Gedanke, fand sie und war stattdessen wütend. Wütend darüber, dass sie bald sterben würde, darüber, dass ihr Vater so viel geraucht hatte und nicht krank geworden war, darüber, dass er nicht hier war, darüber, dass sie wirklich ganz alleine war und an niemandem ihre Wut auslassen konnte und vor allem wütend darüber, dass sie nicht fernsehen durfte.
Sie war drauf und dran, sich mit einem herrlichen Geschrei ihren Kopf wieder freizumachen, als es plötzlich an der Tür klopfte.
Den Atem anhaltend spähte sie auf das kleine fast undurchsichtige Fensterchen in der Tür. Nichts war darin zu sehen.
Es klopfte wieder, und mit einem Ton, der klarmachte, das der hinter der Tür nicht gewohnt war, sich mit Türen aufzuhalten und zu warten, bis man ihm Erlaubnis gäbe, einzutreten, dass er das aber noch länger täte, bis er tatsächlich diese Erlaubnis bekäme. Es war erstaunlich, wie viel Information sich in diesen schlichten Geräuschen erkennen ließ.
Anna besaß gerade noch die Geistesgegenwart „herein“ zu sagen, um zumindest scheinbar noch etwas Kontrolle über das zu haben, was folgen mochte und legte sich hin, um keinen Ärger zu bekommen.
In einer fast enttäuschend moderaten Geschwindigkeit öffnete sich die Tür bis zum Anschlag, geführt von einer in einen schwarzen Handschuh gehüllten Hand, die sich sofort danach wieder zurückzog. Nach der Zeit eines Atemzugs schritt ein Mann herein, der in einen schwarzen Lederanzug gehüllt ein großes Paket vor sich her trug, ohne sich dazu zu entwürdigen, unter dessen Gewicht sich nach vorne zu beugen. Wie nebensächlich stellte er es neben den Fernseher auf das kleine Tischchen, das damit voll belegt war, und drehte sich zu ihr um. In seinen zwei Augen brannte ein Feuer, dass es ihr ganz warm wurde, doch bevor sie sich in ihnen verlor, herrschte sie rasch: „Wer bist du?“
Fast enttäuscht sah er sie an. „So viele Jahre. So viele Jahre und immer noch stellt Ihr Menschen mir die immer gleiche Frage.“
Sein Finger strich an dem Paket entlang, das er mitgebracht hatte. „Mein Name bedeutet nichts als Scherereien für jemanden wie dich. Doch, der Wahrheit zu Ehren, ich bin eben wegen ihm hier, um dir ein Geschäft vorzuschlagen.“
Mit ihrem Kopf tief im Kissen versunken dachte Anna über das eben gehörte nach. Als er eben weitersprechen wollte, sagte sie leise: „Du willst meine Seele kaufen, nicht wahr?“
Still wartete das vierzehnjährige Mädchen auf das unweigerlich folgende, verlegene Gelächter.
Doch es kam keins.
„Vielleicht ist es doch besser, wenn ich mich vorstelle,“ begann der Besucher, leicht unbehaglich. „Mein Name ist Luzifer.“
„Luzifer,“ wiederholte Anna mit starrer Mine, „ich bedaure, aber die Nervenklinik-...“
„Du musst mir nicht glauben,“ wurde sie unterbrochen. „Ich kann für dich die übernatürliche Macht sein, die dir zum Preis deiner Seele deine letzten Tage verschönert. Oder ich bin ein Niemand, der dir trotzdem den Lebensabend etwas netter gestaltet.“
Darauf verneigte er sich und ging.

Anna erwachte von einem ausgedehnten Mittagsschlaf und streckte sich. Was für ein sonderbarer Kauz das doch gewesen war. Und nun war er weg.
Plötzlich flog die Tür auf und wurde nur knapp von dem Türstopper davon abgehalten, jeden in dem Krankenhaus aus dem sanften Halbschlaf zu reißen, in dem sich hier jeder befand, Patienten wie Pfleger. Herein brach die Schwester und ihrer Mine nach zu urteilen war sie äußerst aufgebracht.
„Wie ich sehe sind Sie endlich wach.“
Anna schluckte. Ihrer Erinnerung zufolge hatte sie sich in der näheren Vergangenheit keine größeren Vergehen zuschulden kommen lassen, und so blieb ihr nichts als entsetzt die Schwester anzusehen, die mit wenigen, steifen Schritten durch den Raum beim Fenster war und dort auf ein Bonsaibäumchen zeigte, das Anna noch nie auf dem Fenstersims gesehen hatte. „Kennen Sie das?“
Eingeschüchtert zuckte sie mit den Schultern.
Während die Schwester sich in einen Monolog warf, was sie von Leuten halte, die solche Dinge hier anschleppten, starrte Anna neugierig auf den Baum. Nur am Rande erfuhr sie, dass die Schwester es hatte auspacken müssen, weil es wohl jemand eingepackt vergessen hatte. Als sie sich dann darin verlor, was sie mit dieser Person anstelle, sollte sie jemals wiederkommen, begann Anna, die Augen halb geschlossen, sich wegzudenken. In ihrem Traum lag sie unter dem Baum, auf der feuchten Erde, die langsam ihre Kleider durchnässte, und schaute nach oben in die Krone, die sich langsam im Wind wiegte. Plötzlich sah sie den Apfel. Geradezu grotesk groß hing er an einem dieser dürren Zweige und schien, während sie ihn anschaute, immer größer und leckerer zu werden, bis der Baum neben ihm fast verschwand.
Sie durfte keine Äpfel essen. Um genau zu sein durfte sie überhaupt nichts essen, das hatte der Arzt ihr und ihrem Vater erklärt. Als sie sich erkundigt hatte, warum, hatte er kurz angebunden geantwortet, dass es schlecht für ihre Gesundheit war. Ihr Vater hatte sie ausgebremst, als sie widersprechen wollte. Anscheinend waren die Erwachsenen der Meinung, dass, wenn man todkrank war, es nicht ratsam war, noch kranker zu werden.
Der Apfel sah wirklich sehr lecker aus.

Zentimeter um Zentimeter kam Anna vorwärts. Sie hatte ihre Beine um das Bett verschränkt und zog sich mit der Hand an der Wand entlang. Wenn jemand zufällig hereinkam, konnte sie immer noch behaupten, sie habe nur das Bett umstellen wollen.
Ihre Muskeln schrieen nach der langen Ruhepause, in der sie sich fast völlig zurückentwickelt hatten, doch das war ihr egal. Es waren nur noch zwei Meter bis zum Fenster mit dem Bonsai, zweimal ein Meter, macht zweimal ungefähr fünf Minuten Anstrengung, sie hatte es fast geschafft. Ein Meter nur noch, auch wenn sie inzwischen langsamer wurde. Noch fünfzig Zentimeter, wenn sie wollte, könnte sie den Apfel schon fast erreichen. Endlich war sie unter dem Fenster.
Nach Atem schnappend hob sie langsam ihre Hand, die neben dem Baum riesig und unnatürlich aussah. Auch dürr und blass. Ihre Augen wurden ein wenig feucht und sie sah alles wie durch einen Schleier. Zitternd verschwand ihre Hand hinter dem Fenstersims, dorthin, wo sie den Apfel wusste. Mit der Fingerspitze berührte sie ihn, eine glatte, kühle Fläche. Blitzschnell schloss sie ihre Finger darum, die angenehme Kälte genießend. Sie spürte noch etwas anderes. Ein Stück Draht, das unter dem Apfel eine Art Säule bildete. Vermutlich war damit verhindert worden, dass der Apfel einfach abbrach. Egal.
Als sie ihre Hand zurückzog, schlug sie sich damit wegen dem zusätzlichen Gewicht fast ins Gesicht. Gerade noch schaffte sie es, die Hand auf das Kissen zielen zu lassen.
Jetzt lag er neben ihr, der Apfel, duftend und glänzend und kühl. Und noch während sie den Mund öffnete, um hineinzubeißen, schlief sie vor Erschöpfung ein.

Als die Krankenschwester wieder in das Zimmer kam, war sie zunächst überrascht, das Bett nicht zu sehen. Dann drehte sie den Kopf ein wenig und entdeckte es schließlich, unter dem Fenster. Mit wenigen steifen Schritten hielt sie darauf zu, baute sich davor auf und hielt den Atem an. Die Patientin hatte tatsächlich in einer unverfrorenen Laune daran gedacht, einen Apfel zu essen. Nun, zum Glück war es nicht so weit gekommen, doch sie würde trotzdem mit dem Vater über diese Angelegenheit reden müssen.
Unsanft zog sie dem Mädchen das Stück Obst aus der Hand, drehte sich um und erstarrte.
Vor ihr stand ein schwarzgekleideter Mann, der sie überlegen anlächelte. „Was haben sie hier zu suchen?“ Begann sie, doch seine Hand schnellte vor und hielt ihr in einer sanften Weise den Mund zu. Sie schwieg sofort. Seine andere Hand packte sie am Kragen, erhob sie mühelos und hob sie auf den Fenstersims. Erregt liebkoste sie die starken Finger. Er mimte einen Kuss, dann schubste er sie durch das geschlossene Fenster.
Erst kurz vor dem Aufprall spürte sie, dass irgendwas nicht stimmte.
Ohne sich darum zu scheren, was gleich sieben Stockwerke tiefer für eine Aufregung herrschen würde, legte Luzifer sich Anja über die Schulter und drehte sich um. Sein Fuß stieß gegen etwas. Es war der Apfel.
Den Apfel mit der freien Hand immer wieder ein wenig hochwerfend ging Luzifer aus dem Zimmer, das kurz darauf sonderbarerweise von einer Explosion erschüttert wurde.

„Nein, ich kann jetzt nicht nach hause kommen, Schatz. Ich begutachte hier gerade einen Schauplatz. … Ja ich weiß, dass ich das in letzter Zeit öfter sage. Hör mal, wir haben hier mindestens einen Serienkiller in der Stadt und - … Was soll das heißen, ich habe eine andere? Hör mal, wir reden heute abend darüber, ich kann jetzt wirklich nicht.“
Schnell legte Nolan auf, steckte das Handy in seine Jacke und atmete tief durch. Gespräche mit seiner Frau regten ihn immer ziemlich auf. Schließlich drehte er sich wieder der Leiche zu, die heute morgen von zwei Kindern auf dem Schulweg gefunden worden war. Eine Schande war das.
Der Tote, namentlich Dennis Krunke, war mit überkreuzten Händen in die erhobenen Arme einer überlebensgroßen, weiblichen Statue gelegt worden, so dass es aussah, als hielte sie freudig ihr Kind hoch, um es jedem zu zeigen. Seine Augen waren geschlossen und er hatte einen sehr friedlichen Ausdruck im Gesicht.
Inzwischen wurde es sehr laut. Der Lärm des normalen Verkehrs war schon groß gewesen, doch nun drängten sich auch noch immer mehr Schaulustige um die Polizeiabsperrungen. Wenigstens versuchte niemand, Würstchen oder so zu verkaufen.
Langsam näherte er sich der Gruppe Polizisten, die sich um die Statue versammelt hatte und pickte sich einen heraus. „Was war die Mordwaffe?“
Eine kurze Welle des Schreckens zuckte über den Mann, dann fasste er sich wieder und erwiderte: „Ein Küchenmesser, Sir. Wir haben es dicht neben der Leiche gefunden. Aber eh...“
Nolan hatte sich schon halb umgedreht, doch stockte. „Was ist denn noch?“
„Er- wir gehen davon aus, dass er sich selbst umgebracht hat. Es gibt keine anderen Fingerabdrücke - …“
Nolan verdrehte die Augen. „Oh ja, natürlich. Darf ich fragen, wieso er dann DA OBEN LIEGT?!“
Mit seiner Hand gestikulierte er vage in die Richtung. Sein Gegenüber brach in Schweiß aus. „Und der Winkel, Sir. Der Winkel der Wunde lässt nur diesen Schluss zu.“
Der Polizeichef fasste sich. Er sollte nicht wütend auf diesen Idioten sein. Er tat nur seinen Job. Und dazu gehörte nicht denken. Das war seine Aufgabe. Vor seinen Augen baute sich ein Bild auf. Der Mörder hatte schon einmal jemanden in den Selbstmord getrieben. Aber da sollte noch etwas geklärt werden. Der härteste Teil der Arbeit als Polizisten. „Hatte Herr Krunke irgendwelche Verwandten oder Bekannten?“
Erleichtert, eine klare Aufgabe zu bekommen, antwortete der Mann vor ihm: „Das kann ich schnell überprüfen.“
Mit einigen schnellen Schritten entfernte er sich aus der unmittelbaren Reichweite Nolans.
Doch bevor der sich entspannen konnte, klingelte sein Funkgerät. Die Zentrale teilte ihm mit, dass es vor wenigen Minuten zu einer Explosion im städtischen Krankenhaus gekommen war.
Er stöhnte. „Irgendwelche Toten?“
-„Eine Schwester namens Jennifer Müller. Und eine Vermisste. Anna Krunke.“

Die Morgensonne schien durch das Fenster und schuf damit ein helles Viereck auf dem teuren Teppich, das langsam durch den Raum wanderte, genau wie die Sonne über den Himmel zog. Das sich ständig wiederholende Klacken vom Wecker her wirkte in der Stille unnatürlich laut, teilte die Zeit in hart abgegrenzte Abschnitte und erzeugte damit das Gefühl einer Diashow von identischen Bildern.
Langsam regte sich etwas zwischen den Laken auf dem Bett. Eine Hand erschien und suchte orientierungslos für ein paar Sekunden, bevor sie sich um ein glattes, kühles Objekt schloss, das bis dahin in den Falten verborgen war.
Dann erhob sich auch ein kleines Mädchengesicht aus der Decke und sah sich etwas verwirrt um, bis er schließlich an dem schwarz gekleideten Mann auf der anderen Seite des Raumes hängen blieb, dessen trauriges Lächeln sie sofort bannte. Wie ein Schatten kam sein Körper darunter in Bewegung, erhob sich und ging langsamen Schritts zu ihrem Bett. „Dies hier ist von deinem Vater.“
Erst jetzt bemerkte sie den kleinen Umschlag in seinen behandschuhten Händen. Erregt griff sie danach. Alles, was diese Person tat, war in ihren Augen bedeutungsverheißend.
Nur am Rande bemerkte sie, dass eine weitere Person eintrat, als sie das zarte Papier aufriss und den Zettel darunter entfaltete.
Während sie las, entwich ihr sämtlicher Atem aus der Lunge.

 
Liebste Anna,
Verantwortlich für Dein
Todesurteil war ich nicht mehr
in der Lage Dir in die Augen zu
sehen. Ich gebe mein Leben für
Dich, um zumindest einen Teil
der Schuld wieder abzutragen,
und dass Du den Rest Deines
Lebens noch genießen mögest.
Ich bete zu Jesus, dass, wenn
wir uns eines Tages im Jenseits
wiedersehen, Du mir verzeihen
kannst.
Dein Dich liebender Vater
 
 
Es gab ein leises Schmatzgeräusch und Nolan stellte sich vor, wie die Tomate, der Salat und die Remoulade zwischen den beiden Brötchenhälften zu einem unappetitlichen Mischmasch zusammengequetscht wurden, als er ein Stück vom Hamburger abbiss. „Der beste Freund des Polizisten“ dachte Nolan dabei und fragte sich, was Sara, seine Frau, wohl von dieser Ernährung hielte, wüsste sie davon.
Gedankenverloren schob er das breiige Zeug zwischen seinen Zähnen herum, als ihm plötzlich ein schwarzgekleideter Mann auffiel, der mit einem sehr abwesend wirkenden Mädchen den Imbiss betreten hatte und sich so selbstsicher durch die Kundschaft bewegte, als existiere sie gar nicht. Auf diese Weise stellte er sich direkt an die Front der Wartenden, doch der Jugendliche, dem er dabei seiner Position beraubt hatte, schien von seiner Ignoranz so eingeschüchtert, dass er es nicht wagte sich zu beschweren.
Mit autoritärer Stimme verkündete der Mann: „Ich möchte dieses... ,“ er legte eine Pause ein „’... starke... Löwen – Menu’.“
Ein Ton, der alle Anwesenden den Kopf drehen ließ, so dass jeder sah, wie der Adamsapfel des Besitzers einen großen Sprung machte, als diesem in der Betonung des Fremden zum ersten Mal die Lächerlichkeit des Namens bewusst wurde. Man konnte ihm an den dunkelrot werdenden Wangen ablesen, dass er sich krampfhaft zu erinnern versuchte, was er damals daran so unglaublich lustig gefunden hatte. Quiekend antwortete er: „Kommt sofort, Herr.“ Ein Grinsen verteilte sich für kurze Zeit im Raum, von dem sich auch Nolan in Besitz nehmen ließ. Männer wie dieser, dachte er, könnten nackt durch eine Stadt laufen und jeder hielte es für ganz normal. Im Moment beugte er sich herab zu dem Mädchen um ihr etwas zu sagen und erinnerte Nolan daran, dass Sara auch immer Kinder gewollt hatte. Bisher hatte er sich immer dagegen gesträubt.
Als das ungleiche Paar auf der Suche nach einem freien Tisch an ihm vorbeikam, war Nolan sich unsicher, ob der Blick des Mannes für kurze Zeit auf ihm geruht hatte. Mit einer schnellen Handbewegung griff er seinen Ärmel, und war erstaunt, als der Mann ohne zusammenzuzucken sofort stehen blieb und sich sein Kopf ihm langsam zuwandte.
„Sie können hier sitzen, wenn Sie wollen.“
„Ich muss mich bedanken. Eben wollte ich Sie fragen, dieser Imbiss ist wirklich über Maßen voll.“
Seine Stimme war jetzt viel herzlicher und freundlicher und seine Bewegungen waren elegant und flüssig, als er zuerst dem Mädchen den Stuhl zurecht rückte und sich dann selbst setzte.
„Ich habe Sie doch in der Zeitung gesehen,“ fuhr er fort. „Sind Sie nicht Polizeichef Nolan?“
Das Mädchen beäugte den Hamburger indes mit einer nicht zu deutenden Miene, hob ihn dann vorsichtig an und knabberte daran herum. Die Sorgfalt, mit der sie sich bemühte, nichts herunterkleckern zu lassen, faszinierte den Beamten. „Es muss spannend sein, Verbrecher zu jagen,“ gab der Mann von sich, ohne auf eine Antwort zu warten. Seine Lederjacke glänzte im Licht der Lampen über ihnen, und Nolan fragte sich, wie warm es darin wohl sein mochte.
„Es ist eine verdammt nervenaufreibende Arbeit. Ohne eine Spur, die uns zum Täter führen kann, finden wir Leichen und mehr Leichen...“
Berührt blickte Nolan zur Seite, zum Mädchen, das inzwischen den größten Teil vom ‚starke Löwen – Menu’ aufgegessen hatte. Um das Thema zu wechseln fragte er: „Ist das Ihre Tochter?“
Sofort konnte er die Spannung in der Luft fühlen, als das Mädchen auf ihre Beine schaute und der Mann etwas zu lange schwieg. „Nein, ich passe nur auf sie auf,“ sagte er dann in einem sehr viel neutraleren Tonfall. „Annas Vater ist gestorben, um ihr Leben zu retten.“
Nolan registrierte eine Träne, die sich im Auge des Mädchens gebildet hatte. „Wie... ?“
„Wir reden nicht gerne darüber.“
Im Stillen tadelte sich Nolan für seine letzte Frage. Immer fand er das Fettnäpfchen, egal wie gut es versteckt war.
„Oh,“ war zunächst einmal alles, was er sagen konnte. Dann versuchte er etwas anderes. „Was machen Sie so beruflich?“
Das Grinsen, das ihm der Mann zeigte, schien aufgesetzt. „Ich bin freiberuflicher Künstler.“
Offensichtlich. Die langen Haare hätten Nolan ein Hinweis sein sollen.
„Hören Sie, ich möchte Sie nicht beleidigen, Herr Nolan, aber wir müssen jetzt wirklich los.“
Er stand auf und zog auch für Anna wieder den Stuhl zurück. „Und keine Sorge, ich bin mir sicher, sie werden diese Mörder schon noch kriegen. Sie müssen nur Ihre Chance beim Schopf packen.“

Tim war ein großgewachsener Junge, der Rapmusik mochte und für Kleidung viel Geld ausgab. Bis heute hatte er erstaunliche Leistungen in Fußball erbracht und hatte stets geglaubt, eine sichere Zukunft vor sich zu haben, voll mit schönen Frauen, Autos und ähnlich aufregenden Dingen. Jetzt sah er entsetzt genau diese Zukunft durch ein kleines Loch in seinem Bauch hinauslaufen. Das Blut breitete sich aus, färbte erst sein T-Shirt, dann die Hose dunkelrot und bildete zwischen seinen Beinen eine Lache, und so sehr er auch seine Hände auf die Wunde presste, es entwich immer mehr.
Er würde niemals seine Schule abschließen, niemals selbstständig werden, keine Familie gründen, all dies wurde ihm in einer Sekunde klar. Langsam wurde ihm kalt. Das war ungerecht. Wieso musste er sterben? Wieso er?
Sein Mörder stand vor seinem zusammengesunkenen Körper und lächelte ihn an. Dabei strich er mit sorgfältigen Bewegungen jegliches Blut von seinem Schwert. Als wäre Tim schon tot.
Von hinten näherte sich noch jemand, ein Mädchen. Tim stockte der Atem, als er sie erkannte.
„An-... Anna?“
Sie antwortete nicht. Mit einer unleserlichen Miene stand sie vor ihm und starrte ihn an. Ihre linke Hand hatte sich zu einer Faust verkrampft, in der rechten hielt sie mit weiß hervortretenden Knöcheln einen Apfel.
„Anna, ist-... ist es wegen uns?“
Ohne ein Zeichen, dass sie ihn gehört hätte, fixierten ihre Augen ihn noch immer. Mit einem zögerlichen Schritt trat sie ein wenig näher.
Inzwischen spürte Tim, wie sich seine letzten Reserven aufbrauchten. Sein Blickfeld wurde kleiner, doch wie als Ausgleich wurde auch der pulsierende Schmerz in seiner Brust geringer. Mit beinahe unhörbarer Stimme flüsterte er: „Es... tut mir leid. Nie... wollte dir... nie weh tun.“
Sie beugte sich vor und hauchte ihm noch einen Kuss auf die Wange.

„Warum musste er sterben?“
Anna hatte sich in Jesus’ Kleidung verkrallt und schrie ihn an. Luzifer saß abseits und schaute mit starrem Gesicht zu. „Er hat dich-...“
„Wen interessiert, ob er mich verletzt hat? Er war ein Mensch mit Gefühlen! Wie könnt Ihr einfach so Menschen töten?“
Jesus' ansonsten traurig blickende Augen funkelten plötzlich. „Ich war auch einmal ein Mensch, wenn du das wissen willst. Mensch. Sie glauben an Sinn, an Wahrheit, Bedeutung, das Gute und verlieren sich darin, bis sie nicht mehr wissen, wer sie sind und wo!“
Luzifer hatte sich erhoben. „Wie dumpfes Vieh laufen sie durch ihr Leben und versuchen sich an Regeln zu halten, die sie nicht verstehen, die nicht einmal existieren. Und wenn sie merken, dass sie gegen eine verstoßen haben, bleibt nur noch die Selbstbelügung. Erbärmliche Wesen.“
Anna sprang von Jesus weg und starrte Luzifer an. „Rechtfertigt ihr so eure Morde?“
Von hinter ihr sagte Jesus: „Du glaubst, die Menschheit sei etwas großes und wichtiges. Die Menschen machen nur einen winzigen Teil der Erde aus, die im unendlichen Universum vor Kleinheit beinahe verschwindet. Der Mensch soll etwas wertvolles und heiliges sein? Täglich sterben Hunderttausende, und bis auf die jeweiligen Angehörigen kümmert es niemanden.“
Luzifer grinste auf eine sonderbare Weise, bevor er zusammenfasste: „Der Tod eines Menschen ist völlig egal. Nicht nur, dass dieser Mensch eh irgendwann sterben würde, er ist auch völlig unbedeutend.“
„Und was ist mit mir? Und euch? Sind wir dann nicht auch unwichtig?“
„Du bist wichtig... für uns,“ setzte Jesus an, doch Luzifer unterbrach ihn: „Du darfst uns nicht falsch verstehen. Wir töten nicht, weil die Menschen unbedeutend sind. Wir töten, um etwas Bedeutung zu ihnen bringen.“
„Im Augenblick ihres Todes erfahren sie von uns mehr Achtung als von irgendjemandem in ihrem Leben,“ beendete Jesus den Gedanken.
„Ihr könnt mir nicht sagen, ihr hättet Tim irgendwelche Achtung entgegengebracht.“
„Nein,“ erwiderte Jesus, „dafür warst dieses Mal du zuständig.

Auf dem Schreibtisch lag die Akte von Anna Krunke, daneben ein Photo von ihr, das sie mit einem dicken Schmollmund in einem Krankenbett zeigte. Noch weiter daneben war ein See vergossenen Kaffees, in dem die Reste der Tasse wie kleine Inseln wirkten. Inzwischen hatte sich die heiße Flüssigkeit einen Weg zum Rand der Holzplatte gebahnt und tropfte auf den Fußboden.
Nolan saß auf seinem Stuhl, drehte einen Stift zwischen den Fingern und betrachtete das Ergebnis seines Wutausbruchs. Er spürte noch immer den Schock der Erkenntnis in sich, dass er einem der gesuchten Verbrecher gegenübergesessen aber nichts getan hatte. Seine ‚Chance beim Schopf packen’, in der Tat.
Selbstverständlich hatte er umgehend ein Phantomphoto angefertigt, mit dem ab nun alle Streifen ausgerüstet würden, doch er fühlte sich wie die Maus im Labyrinth, die den von der Katze verlegten Käsestückchen folgt und hofft, diese am Ende überraschen zu können.
Dieser Mann hatte nicht einfach nur mit ihm gespielt, er hatte sich über ihn lustig gemacht, weil er genau gewusst hatte, dass Nolan niemals in der Lage sein würde ihn zu besiegen. Hätte Nolan ihn identifiziert, wäre er vermutlich einfach abgeschlachtet worden und die Kundschaft hätte wie verzaubert zugesehen. Es war leicht, sich daran zu erinnern, wie mühelos er alle, Nolan eingeschlossen, in seinen Bann gezogen hatte, um den Restaurant- Besitzer lächerlich zu machen.
Ein kalter Schauer der Angst lief über Nolans Rücken. Er wollte nicht gegen diesen Mann kämpfen. Doch er war ein Polizist. Das bedeutete etwas. Es hieß, dass er die einzige Hoffnung war für ein kleines Mädchen namens Anna Krunke.
Verdammte Marke. Manchmal wünschte er sich sie so ansehen zu können wie andere Polizisten auch, als ein Zeichen der Macht und der Überlegenheit über andere Menschen. In seinen Augen war sie das Zeichen für jemanden, der sich bereit erklärt hatte, zum Leibwächter der ganzen Stadt zu werden, jede einzelne Kugel aufzufangen, auch wenn sie auf einen Schurken abgefeuert worden war.
In ihrem Schein, so hatte er es sich früher vorgestellt, würden Bösewichte mühelos entlarvt werden, heute zweifelte er daran, dass überhaupt jemand nicht schuldig war.
Und doch war sie ständig wie ein wachendes Auge bei ihm und jedes Mal, wenn er gründlich aufräumen wollte, brannte sie sich tief in seine Brust. In gewisser Weise war sie wie eine Leine für einen tollen Hund.

Über den Dächern der Stadt war der Himmel dunkelgrau von Wolken. Das Platschen des ersten Wassertropfens war in der stillen Straße laut und einnehmend und vorbei, bevor man sich ganz darauf eingestellt hatte. Den ersten Tropfen sah man nie kommen. Aber nun wurde die Luft mehr und mehr von den Geschossen aus Wasser eingenommen, ein Trommelfeuer begann, als die ersten mit viel Wucht auf der härteren Straße explodierten, und innerhalb kürzester Zeit verschmolzen die winzigen feuchten Flecken zu großen Pfützen. Anna stand auf dem Balkon und genoss die großen Tropfen, die sie kalt im Gesicht trafen. Sie starrte auf die Klumpen Wassers, die mit irrwitziger Geschwindigkeit auf den Boden zusteuerten, auf dem sie zerplatzten und das gehaltene Wasser wieder freigaben. Während sie einen Wassertropfen weit über ihr mit den Augen fixierte, stellte sie sich kurz vor, selbst dieser Tropfen zu sein. Zielgerichtet und schnell wie ein Pfeil, nur nach unten zu fahren, immer weiter nach unten und schneller und immer schneller.
Unten wartete der Tod, das war ihr dumpf bewusst, aber darauf kam es nicht an, alles, was jetzt zählte war das Leben und Leben bedeutete Geschwindigkeit, oh sie fühlte die Sensation des Fahrtwindes um sie herum, der Boden kam immer näher und mit ihm der Tod, doch plötzlich verlor sie den Tropfen aus den Augen, die kurz und steuerungslos weiter nach unten gingen, bevor sie ihren Blick erhob und Jesus sah, der zu ihr auf den Balkon gekommen war. Von seiner hoch erhobenen Hand floss traurig der feuchte Überrest eines Traums.
Sie unterdrückte eine kurze Welle der Wut. „Wir Menschen sind wie Regentropfen, oder?“ Fragte sie, ohne ihm in die Augen zu schauen. „Wir streben genauso unausweichlich auf den Tod hin.“
„Nicht ganz,“ antwortete er mit einem unüblichen Lächeln, „wir trauern um jene, die vor uns fallen.“
Die Worte „Großer Vorteil“ schossen ihr in den Sinn, doch noch bevor die Zunge sie aussprechen konnte, sah sie, dass es tatsächlich ein gutes Gefühl war, das zu wissen.
Drinnen tätigte Luzifer derweil einen Anruf.

Es war herrlich befreiend gewesen, den ganzen Polizeiapparat in Bewegung zu setzen. Nun rollte die ganze Kolonne in Richtung der genannten Adresse und Nolan, der an der Spitze saß, bekam Zeit, sich unbehaglich zu fühlen. Bis auf die genaue Beschreibung, welche der anonyme Anrufer von den beiden gesuchten Mördern gegeben hatte, hatte er keinen Beweis dafür, dass die Information korrekt war. Wenn sie sich jetzt als Streich entpuppte, würde er große Probleme mit seinen Vorgesetzten erwarten können.
Und was würde er tun, wenn die beiden wirklich dort waren? Wie konnte er sicherstellen, dass Anna nichts geschah, wenn das Haus gestürmt würde?
Er hatte Mühe, das Fahrzeug auf der Spur zu halten.

Mit großem Geschrei prallten auf dem Flachbildschirmfernseher die Völker aufeinander, als dieser den Kampf um ‚Minas Tirith’ wiedergab, laut Anna ein Höhepunkt von ‚Der Herr der Ringe’. Man sah, wie die Reiter Rohans mühelos durch die Reihen der Orks brachen, eine Szene, welche Anna inzwischen auswendig kannte. Nachdenklich drehte sie den Kopf und schaute Jesus an. „Warum nennt Ihr euch eigentlich so komisch?“
Wenn dieser von der Frage überrascht war, so verstand er es jedenfalls gut, das zu verbergen. Während seine Augen auf ihr ruhten, nahm er einen großen Schluck von seiner Cola, einem Getränk, das ihm zufolge viel besser war als jeder Wein der Welt.
„Wir setzen uns über die Menschen hinweg und entscheiden über ihr Leben oder Sterben.“
„Gestern habt Ihr noch gesagt, das wäre irgendwie in Ordnung,“ antwortete Anna verwirrt, unsicher, welche Art von Antwort das sein sollte.
Sie bekam einen sonderbaren Blick von Jesus, als ob sie irgendetwas sehr sonderbares gesagt hätte. Bevor sie sich wirklich unbehaglich fühlen konnte, sagte er: „Um uns zu etwas Überlegeneres zu machen als die Menschen, mussten wir aufhören, Mensch zu sein. Wir hätten uns dazu entscheiden können, niedere Engel- oder Dämonennamen anzunehmen, doch wir hatten nicht das Gefühl, dass wir uns mit weniger als den absoluten Machtpositionen zufrieden geben könnten.“
Während der letzten Worte wurden die Polizeisirenen, welche schon seit einiger Zeit ein Hintergrundgeräusch dargestellt hatten, plötzlich lauter.
Grinsend schaltete Luzifer das Gerät ab. „Es ist soweit.“

Nicht nur um das Haus, in der ganzen Straße waren Polizeiautos abgestellt worden, kess schräg und die ganze Straße als Parkplatz einnehmend, so als wollten sie es jeden wissen lassen, dass jetzt die Männer am Platz waren.
Nolan stand bei der mobilen Kommunikationszentrale und versuchte, möglichst schnell die Gebäudepläne zu kriegen, die er brauchen würde, um einen sauberen Einsatz zu planen.
Das Einfamilienhaus war vor kurzer Zeit von einem gewissen Herrn Bess gemietet worden, doch der Name sagte dem Polizisten nichts. Die Fenster waren von Vorhängen verhängt und man konnte nicht sehen, was drinnen vor sich ging.
„Verdammte Schweine!“
Überrascht drehte er sich um. „Wie bitte?“
Paul, einer seiner Polizisten stand vor ihm. „Haben ein kleines Mädchen als Geisel genommen...“
Nolan zog eine vielsagende Grimasse. „Und wenn wir reinstürmen, wird sie sehr wahrscheinlich zu Hackfleisch verarbeitet, ich weiß.“
Auch Pauls Mine verzog sich kurz bei dieser Vorstellung. Dann verhärtete sie sich. „Gestatten Sie, dass ich alleine hineingehe?“

Luzifer, der die ganze Zeit aufmerksam unter einem Vorhang zugeschaut hatte, beobachtete, wie sich ein besonders großgewachsener Polizist von den anderen trennte und auf die Haustür zuschritt.
Mit wenigen, gemessenen Schritten ging er hinüber zur Kellertür und öffnete sie.
„Es ist Zeit Anna, komm.“

Einige Polizisten mussten sich sehr zusammenreißen, um Paul nicht hinterher zu rufen, dass so etwas viel zu gefährlich war. Er würde sich sowieso nicht von seinem Weg abbringen lassen.
Nachdenklich schaute Nolan ihm nach, wie er die letzten Meter zum Haus überwand. Versuchsweise versuchte er die Klinke und fand das Schloss zu seiner Überraschung unverschlossen. Nolan krampfte sich der Bauch zusammen. Diesen Männern stand solch eine Unvorsichtigkeit gar nicht zu Gesicht. In seiner Einbildung wuchsen dem Türrahmen, durch den der zugegebenermaßen gut trainierte Mann gerade hindurchging, lange, gebogene Zähne.
Dann schloss die Tür sich und bis auf die Audioübertragung war Paul nun alleine.
Ein plötzlicher Ausbruch von Pistolenschüssen ließ alle versammelten zusammenzucken. Mindestens zwanzig Schüsse, fuhr es Nolan durch den Kopf, weit mehr als Pauls Waffe abgeben konnte.

Sowohl Jesus als auch Luzifer hielten eine Pistole auf die jetzt reglose, stark deformierte Leiche des Polizisten gerichtet. Aus den Waffen schlängelten sich zwei dünne Bänder aus Rauch, die sich oben an der Zimmerdecke vereinigten. Synchron wurden die Waffenarme gesenkt, als sie hinübergingen, um die Leiche einer Untersuchung zu unterziehen.
Luzifer entdeckte es zuerst.
Als kurz darauf auch Jesus Augen gefunden hatten, worum es ging, sahen sie sich kurz grinsend an und versuchten den Namen einmal laut: „Profi. Paul Profi.“
„Ihr Held ist gefallen,“ intonierte Jesus. „Nun ist es Zeit für unseren Letzten Stand.“
Obwohl er das schon lange erwartet hatte, leckte Luzifer sich aufgeregt über die Lippen. „Wie viele Kugeln hast du noch übrig?“
-„Genau eine.“
Luzifer erhob sich. „Genau wie ich. Genau richtig!“

„Paul? PAUL!“
Verzweifelt schrie Nolan dieses Wort in das kleine Mikro, als würde die bittere Wahrheit weniger wahr, wenn er sich nur genug anstrengte.
Auf einmal öffnete sich die Tür und nacheinander traten die beiden Gesuchten heraus, schnell, aber ohne zu hetzen. Jesus zog sogar sein Kreuz hinter sich her. Lächelnd stellten sie sich nebeneinander auf, breitbeinig und herausfordernd.
Ein Schock ging durch alle Zuschauer. Verzweifelt suchte jeder Polizist nach seiner Waffe, die man bei Pauls Hinrichtung völlig vergessen hatte, so dass Luzifer und Jesus genügend Zeit hatten in aller Ruhe anzulegen.
Nolan starrte in zwei Pistolenläufe.
Dann krachte es von allen Seiten und beide flogen zurück, prallten gegen die Häuserwand und rutschten langsam daran herab. Das Kreuz, das nun nicht mehr gehalten wurde, neigte sich auf nahezu majestätische Weise dem Boden zu, fiel dann schneller und schlug laut auf dem Pflaster auf, doch Nolan hatte nur Augen für seine Mütze und sein Mikrofon, welche beide auf der anderen Seite der Straße im Rinnstein lagen, zerfetzt von zwei gezielten Pistolenschüssen.

„Luzifer, leb- lebst du noch?“
Luzifer spuckte Blut. Er lag auf seinem langjährigen Freund und war unfähig, seinen Kopf zu drehen um ihn anzusehen. Sein Blickfeld wurde eingenommen von dem gepflasterten Weg, auf dem sich schnell das Blut ausbreitete. Sein Körper war taub. Aber vermutlich war das besser so. Inzwischen konnte er kaum noch etwas wahrnehmen. Mit viel Mühe zwang er seinen Mund zu seinen letzten Worten: „Hey, wir sehen... sehen uns in zweitausend Jahren!“
Jesus’ Antwort konnte er schon nicht mehr hören.

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