Klaus-D. Heid

Marlene - Teil II

Fragen

Als ich aufwachte, registrierte ich als zuerst furchtbare Kopfschmerzen. Es folgten grausame Nackenschmerzen, die von meiner unnatürlich verkrümmten Schlafposition stammen mussten. Das nächste, was ich wahrnahm, waren Hände, die zärtlich und doch kraftvoll meinen Nacken massierten.

„Guten Morgen, Roger! Weißt Du eigentlich, dass Du ein Idiot bist...?“

Ich hasse es, morgens aktiv zu werden, bevor ich mir nicht die Zähne geputzt und mich gründlich gewaschen habe. Ein von Gott verlassener Säufer zu sein, muss ja nicht auch bedeuten, dass man ein Dreckschwein ist. Eigentlich brauche ich morgens auch einen starken Kaffee mit einem kleinen Schuss ‚Jack’, damit der Tag beginnen kann. Dieser Tag sollte jedenfalls vollkommen anders beginnen. Noch bevor ich meine Gedanken sortieren und darüber nachdenken konnte, was in der vergangenen Nacht passiert war, beförderte mich Marlene vom Sessel hoch. Sanft aber unnachgiebig zog sie mich in Richtung Bett. Jetzt erst fiel mir alles wieder ein. Und erst jetzt stellte ich fest, dass Marlene noch immer keinen Slip trug. Auch ihr T-Shirt war verschwunden. Nackt, wie sie erschaffen wurde, landete sie mit mir zusammen auf dem Bett. Ihre Lippen pressten sich auf meine Lippen und es geschah genau das, was der Idiot in der Nacht mit aller Kraft vermieden hatte!

Die Details der folgenden Stunden zu beschreiben, erspare ich mir. Den Leserinnen und Lesern dieser Geschichte muss es genügen, dass ich zum ersten Mal in meinem 32jährigen Dasein erlebt habe, was Sex sein kann. Ich will damit nicht andeuten, dass ich noch nicht allzu viel erlebt habe. Ich will damit nur sagen, dass es Erlebnisse geben kann, die absolut einmalig sind. Sie mit Worten zu beschreiben, wäre das Gleiche, als würde ein unbegabter Mensch versuchen, im Stile Vincent van Goghs zu malen...

Marlene lag auf mir und hauchte mir ihren – seltsam frischen – Atem ins Gesicht.

„Roger, Roger, Roger...! Für einen Alk bist Du gar nicht so schlecht in Form…!” säuselte sie in mein Ohr. Sie leckte zärtlich mit ihrer Zunge über meine Nasenspitze. „Du hast wohl schon lange nicht mehr gefickt, oder...?“

Das stimmte. Sogar sehr lange nicht mehr. Und ich konnte mich auch nicht daran erinnern, dass eine meiner verflossenen Freundinnen mit der gleichen Selbstverständlichkeit übers ‚Ficken’ sprachen, wie es Marlene tat.

„Ist schon `ne Weile her, Lena. Es gab da ein paar Dinge in meinem Leben, die mich ein bisschen aus der Bahn geworfen haben.“

„Menschen sterben nun mal. So ist das im Leben. Hast Du sie sehr geliebt, Roger?“

Sie konnte es nicht wissen! Sie konnte unmöglich wissen, dass Kathrin vor sieben Jahren tödlich verunglückt war. Das alles ist in einer anderen Stadt und in einem anderen Leben passiert. Der Grund für meinen Absturz lag so lange zurück, dass ich mittlerweile stundenlang nicht daran denken konnte.

Kathrin und ich wollten damals heiraten. Wir liebten uns so sehr, dass jeder von uns Magenkrämpfe bekam, wenn der andere sich unwohl fühlte. Unsere Liebe war tief und absolut ehrlich. Wir verstanden uns, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Kathrin und ich konnten stundenlang nebeneinander schweigen, ohne Langeweile zu empfinden. Wir konnten herrlich streiten und konnten uns noch herrlicher versöhnen. Sie war der Inbegriff meines Lebens. Sie war mein Ein und Alles. Sie war mein Glück, bis...

..ein Kerl meinte, dass ihm die Straße gehörte. Dieser Mistkerl, der niemals zur Rechenschaft gezogen wurde, weil er Fahrerflucht beging, fuhr frontal auf Kathrin zu, die mit ihrem Rad auf dem Weg zur Arbeit war. Im Polizeibericht stand, dass Kathrins Körper 30 Meter weit geschleudert wurde, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Sie starb nur wenige Minuten später.
Seit diesem Zeitpunkt scherte mich mein Leben einen Dreck. Ich gab meinen Beruf als Texter für ein Werbeunternehmen auf und ließ mich ins Bodenlose fallen.

„Was weißt Du von Kathrin?“ fragte ich in einem barschen Ton, der mich selbst erschreckte. „Du kannst nichts von ihr wissen. Niemand in dieser Stadt weiß etwas über das, was damals geschehen ist. Verstehst Du? Niemand!“

„Ich schon!“ erwiderte sie mit eben jenem Lächeln, in dem ich damals noch nicht erkannte, mit wem ich es zu tun hatte.

„Kathrin ist tot, Roger! Vergiss sie endlich. Sieh mich an, Roger! Ich bin jung, nackt und irrsinnig geil auf Dich. Das sind drei gute Gründe, Kathrin zu vergessen.“

Meine Gedanken explodierten. Ich war viel zu verwirrt, um zu begreifen, was geschah. Ich lag wie starr auf dem Bett, als Marlene sich so über mich beugte, dass ihr Gesicht zwischen meinen Beinen lag. Die schlanken Hände mit den abgekauten Fingernägeln umschlossen mein Glied. Ihr Mund öffnete sich und ich vergaß alles um mich herum.

Stunden später wachte ich auf.

Ich bemerkte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Meine Wohnung war so aufgeräumt, wie seit Jahren nicht mehr. Das Fenster stand weit offen und der Geruch von seelischer Verwesung schien verschwunden zu sein. Es duftete nach Zitrone und Pfirsich. Sonnenstrahlen fielen in mein Fenster, denen ich bislang jeden Zugang zu meiner Bude verwehrt hatte. Es war taghell – und Marlene war nicht mehr da. Stattdessen lag ein Zettel auf dem Bett, auf dem ich las:

„Lieber Roger! Ich hoffe, Du freust Dich über Deine neue ‚Bude’! Vielleicht gefällt Dir ja auch, was Du siehst, wenn ich zurückkomme? Bis bald, Deine Lena.“

Was war das, was wie ein Blitz in meinem Leben einschlug und sein Inneres nach außen kehrte? Wer war Lena? Wer war dieses Mädchen, das so intensiv mit mir schlief, dass mir jetzt noch der ganze Unterleib wehtat? Wer war diese Marlene, die etwas von Kathrin wusste? Was hatte sie vor? Was wollte sie von mir?

Fragen, Fragen, Fragen. Ich würde auf Antworten warten müssen, bis dieses geheimnisvolle Mädchen zurückkam.

Falls sie zurückkam...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-D. Heid).
Der Beitrag wurde von Klaus-D. Heid auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus-D. Heid als Lieblingsautor markieren

Buch von Klaus-D. Heid:

cover

Kein Leben hinter mir: Trauma oder Irrsinn von Klaus-D. Heid



Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Liebesgeschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus-D. Heid

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

´Meine´ Hölle von Klaus-D. Heid (Gedanken)
Disteln im Haar von Martina Wiemers (Liebesgeschichten)
Meine Schuljahre von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen