Viktor Prieb

Was man unter "Heimkehr" versteht

oder über Unergründlichkeit der menschlichen Existenz und Vermehrung

(Aus dem Buch "Der Zug fährt ab"
www.literatur-viktor-prieb.de


Es passierte eines dunklen, frostigen Abends. Die Mutter mit allen Kindern hauste in der fast bis zur Hälfte in die um die Außenwände herum hoch geschüttete und verdichtete Erde eingewachsenen Holzhütte am Friedhof. Sie waren alle zu Hause. Die Mutter kochte irgendeine Brühe auf dem Feuer im Ofen, die Kinder warteten gierig und ausgehungert auf das Essen.

Bevor die Mutter mit den Kindern hierher verschleppt wurde, vernichtete sie ebenfalls alle die Familie vor den Sowjets kompromittierenden Urkunden des Dritten Deutschen Reiches. Deswegen hatte sie bei den sowjetischen Registrierungsbehörden völlig freie Hand und meldete die Söhne unter den neuen, ihrer Ansicht nach der Situation mehr passenden Vornamen an.

Der jüngere, dem letzten deutschen Kaiser gleichnamige Sohn bekam einen stinkrussischen Vornamen. Vor allem aber musste natürlich – angesichts der miserablen, vom gleichnamigen Führer verursachten Umständen und verspielten Hoffnungen – der Vorname des älteren Sohnes schleunigst geändert werden.

Er erhielt aber keinen russischen Vornamen, sondern den stolzen Vornamen seines Vaters, weil die Mutter doch keine großen Hoffnungen pflegte, den Vater irgendwann nochmals lebend wiederzusehen. Diese an sich vielleicht vernünftigen Schritte waren den Kindern natürlich schlecht zu vermitteln, deswegen galten und klangen die alten Vornamen von deutschen Reichskaisern und Reichsführern innerhalb der Familie immerfort.

Die Tür der Hütte ging voll auf und etwas Ungeheuerliches kroch in die Hütte herein. Der im Lager für die Abreise in einen knöchellangen Soldatenmantel und einen Spitzhelm von dem Typ „Budijonowka“ mit dem fünfzackigen, aber schwarzen Stern auf der Stirnseite – die noch seit dem Bürgerkrieg umsonst liegende, später dann für die deutschen Trudarmisten gerade gutgefundene und durch den Wechsel vom roten zum schwarzen Stern für sie angepasste Uniform – bekleidete Vater musste sich fast zusammenklappen, um seinen Körper durch die kleine Hüttentür durchzuschleusen. Um sich dann wieder aufrecht zu stellen, musste er den Helm abnehmen und trotzdem mit dem unter der Decke gebeugten Kopf stehen bleiben.

„Na, Guten Abend euch allen zusammen. Da bin ich wieder“ – begrüßte er seine Familie so routiniert und dadurch so beruhigend, als ob er erst früh morgens zur Arbeit wegging und jetzt spät abends von ihr zurückkehrte.

Er hatte gerade einen achtzehn Kilometer langen Fußmarsch von der Eisenbahnstation, wo sich die Kommandantur befand und wo er sich anzumelden hatte; eine Gulag-Hölle; einen Weltkrieg, eine reichliche Weltreise und knappe vierzig Jahre seines ihn vernichtenden Lebens hinter sich sowie noch knappe vierzig Jahre seiner Verbannung als Jahre seines ganzen restlichen Lebens  und seinen Tod in diesem Ort vor sich.

Die Mutter stand da wie durch einen Donnerschlag gelähmt. Die Tochter und der ältere Sohn, die sich noch mehr oder weniger an den Vater erinnern sollten, drückten sich mit breit aufgeschlagenen und neugierigen Augen dicht an die Mutter, sich mühsam an den Vater erinnernd.

Nur der jüngere, mittlerweile dreieinhalb Jahre alt gewordene und vom fremden Ungeheuer keinen blassen Schimmer verspürende Sohn versteckte sich hinter dem Kamin des russischen Ofens, auf dem er saß, und weigerte sich den ganzen restlichen Abend stursinnig, seinen Versteck zu verlassen. Er guckte nur neugierig auf die wunderbar bemalten Blechdosen raus: Der Vater schaffte es doch, diese Dosen mit dem kleinen Kram drin aus dem Krieg durch all seine Abenteuer und durchs Lager bis zu ihm hierher durchzuschleppen. Er holte diese jetzt aus seinem Sack raus und stellte sie auf den Tisch.

Am Ende des Abends und ab nun für immer musste er noch oben drein diesem Fremden seinen Platz in Mutters Bett überlassen, wo er sich die ganze Zeit so heimisch, gemütlich und sicher fühlte. Er schien auch später nie dem Fremden diese Vertreibung aus seinem Paradies verzeihen zu können, und nur sie beide – der zweite Sohn und der Vater – konnten bis Vaters Tod in dieser im Endeffekt aus fünf Kindern bestehenden Familie nicht mehr so richtig zueinander finden. – Das Schicksal und das Trauma von vielen Kriegsfamilien, deren Väter nach ihrer jahrelangen Kriegsarbeit und Kriegsgefangenschaftsodysseen zu ihren zwischendurch im Krieg geborenen und manchmal nie gesehenen Kindern zurückkehrten.

Die Freude dieses Abends wurde neun Monate später mit dem dritten Sohn gekrönt. Nach drei weiteren Jahren erblickte – diesmal wahrscheinlich aus Versehen – der vierte Sohn seine Welt, ohne von dem vor sechs Jahren verlorenen Krieg auch nur ein kleines bisschen zu wissen sowie davon, dass er dafür büßen muss und deswegen nicht auf dem ukrainischen Landgut oder irgendwo in Deutschland, sondern in diesem sibirischen Gefängnis geboren war. Dafür nahm er aber nun endgültig den Platz des kleinsten Mitglieds in der Familie ein.

Das Leben fing wieder an oder ging einfach weiter. Sie hatten Glück gehabt, zu Überlebenden des Krieges und des mit ihm verbundenen Genozids zu gehören. Des Genozids, das eine Hälfte von Ihnen wegpustete. Nicht sechs Millionen und nicht zwanzig Millionen. Nicht einmal eine komplette Million. Nur noch die Hälfte dieses spezifischen deutschen Volkes. Deswegen vielleicht merkte dieses Genozid niemand in der Welt, in der noch nie ein Volk bis zur Hälfte ausgerottet wurde.

Vielleicht bleibt es aber auch wegen der sich im andauernden, unermesslichen Leiden entwickelten Zurückhaltung dieses deutschen Volkes ungemerkt.

Die tausendjährigen Reiche verschwinden blitzschnell und spurlos von der Erdfläche; die großen wie auch die kleinen Führer kommen und gehen, einander samt unzähliger Millionen Menschen als Beilage auffressend; die verheerenden Kriege enden und beginnen sofort wieder, heiß oder kalt serviert, und alles vergeht; nur die Menschheit – der aus unzähligen Zellen bestehende, als eine im ganzen Universum einzelne und bestimmt vorübergehende kleine Fluktuation trotz aller Naturgesetze entstandene Schimmel auf der Erde – bleibt merkwürdigerweise, trotz all dieser kannibalischen Bacchanale, weiterbestehen und pflanzt sich dessen unbeachtet und unaufhaltsam fort.

Vielleicht gerade deswegen nimmt die Weltpolitik – was das auch immer bedeuten mag und wer sie auch immer betreibt – keine Rücksicht auf ein einzelnes Menschenleben ebenso wie auf mehrere Millionen davon.

Wie dem auch sei, die Familie überlebte Es. Sie waren die Überlebenden. Und dies brauchte keine Anerkennung. Und so – durch alle seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts passierenden und zu mehreren Weltkataklysmen führenden Ungereimtheiten – wurde ein Verbannungseckchen der Erde am Arsch der Welt, in Sibirien, bis zum Lebensende des Vaters und dann der Mutter zu ihrem „Zuhause“, wo sie noch mehrere Jahre unter der Kommandanturaufsicht als allerletzte Drecksverbrecher behandelt werden sollten.

Trotz alledem bekam der Vater in späteren Jahren immer mehr das Gefühl, seinen stillen Lebenshafen endlich gefunden zu haben, während die Mutter ihre Sehnsucht nach der Ukraine pflegte und sowjetische wie deutsche Führer allesamt für ewige Zeiten verdammte, die der Familie das angetan und so ein Schicksal beschert haben.
 
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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