Christian Kramer

Freeway Murder - Der Tod fährt immer mit.

Die Nacht ist düster und unheimlich, praktisch wie geboren für einen Horrorfilm oder eine Mutprobe auf einem Friedhof. Der Himmel hat sich schon vor Stunden in einen gigantischen, pechschwarzen Teppich verwandelt, der bedrohlich seine Pranken gen Horizont streckt und gierig jedes Licht im Keim erstickt. Der Wind fegt wie in Raserei durch die Wipfel der vielen Bäume, die sich hier - irgendwo im US-Bundesstaat Arizona - zu einem, der größten, dichtesten und - in Nächten wie diesen - gruseligsten Wäldern der Welt vereinen. Es gibt jedes Mal ein tiefes, leicht unterschwelliges Dröhnen, wenn die Böen sich einen Weg durch das Astwirrwarr kämpfen, als ob ein riesiges Monster hinter den vielen Eichen, Birken und Buchen warten und schnaufen würde. Mir läuft jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken. Und dann noch dieser entsetzlich beharrliche Regen. Wie spitze Nadeln fallen die Tropfen vom Himmel herab und brausen zu kleinen Strömen auf dem Waldboden und dem Teer der Bundesstraße 45 zusammen, die sich in einigen Schlangenlinien durch das Unterholz zieht. Und natürlich hat es vor einigen Minuten angefangen zu gewittern. Die ersten Blitze durchzucken den dunklen Himmel und zerreißen mit grellen Zickzackdolchen das Firmament und auch das noch etwas entfernte Donnergrollen lässt sich nicht lange bitten. Es klingt, als würde ein urtümlicher Gott titanisch aufbrüllen, der soeben aus seinem Jahrhunderte andauernden Schlaf erwacht ist.
Vermutlich wäre ich niemals losgefahren, wenn ich geahnt hätte, dass es so einen Sturm geben würde. Ich bin ja schließlich nicht lebensmüde. Aber wie bei jedem „hätte“, „würde“ oder „könnte“ nützt mir jetzt auch alles Verteufeln nichts mehr.
Ich muss nun halt da durch, ob ich nun will oder nicht. Ich bin eben keiner von denen, die sich frei nehmen können, wann immer sie wollen, nein, ich muss mich an geregelte Arbeitszeiten halten. Und leider bedeutet das für mich heute eben auch durch einen Jahrhundertsturm zu fahren, wenn es nötig ist, so wie jetzt. Dabei will ich mich ja eigentlich gar nicht beschweren. Mein Job gefällt mir. Ehrlich, ich hätte es mir nicht besser erträumen lassen können. Auch, wenn die meisten Menschen meinen Beruf als, naja, sagen wir sonderbar oder sogar abstoßend bezeichnen würden.
Okay, wenn man sich als Krankenpfleger in einem Heim für geistig gestörte Leute bei den Freunden deiner Freundin auf einer Dinnerparty für einen der Freunde deiner Freundin vorstellt, ist das nicht unbedingt der tollste Partygag. Aber ich verdiene gutes Geld und ich empfinde es als ein Privileg, dass ich den Menschen helfen darf auf den richtigen Weg zurückzufinden, die ihn aus den Augen verloren haben, auch, wenn das jetzt gewiss nicht einem bestimmten religiösen Pathos entbehrt. Aber dieser Beruf ist zu Unrecht so negativ besetzt und genauso sind es die Leute, um die ich mich kümmern muss. Die meisten meiner "Schützlinge" können nämlich gar nichts dafür, dass sie so sind, wie sie sind. Die Gesellschaft stempelt diese armen Individuen viel zu schnell als "Geisteskranke Killer" oder "Gestörte Monster" ab. Klar, auch ich habe Patienten, die, um es mal nett auszudrücken, einmal etwas sehr sehr Dummes getan haben, aber machen wir denn nicht alle mal Fehler? Und es sind erstaunlich wenige, die als gefährlich gelten. Die Übrigen sind meistens lammfromm und so lieb und nett. Die meisten Menschen wären überrascht, wie viel Freude es einem bereitet, mit diesen Leuten zusammen zu sein.

Mrs. Keaton beispielsweise. Sie ist bei uns, weil sie einen Nervenzusammenbruch hatte, nachdem sie ihren Ehemann mit ihrem eigenen Bruder im Bett erwischt hat und sich seitdem in ihre eigene kleine Welt zurückgezogen hat, zu der nur sie den Schlüssel hat. Sie sitzt meistens stumm und mit leerem Blick in ihrem Stuhl und starrt aus dem Fenster, aber, wenn ich sie frage, ob sie mit mir eine Runde Trivial Persuit spielen möchte, erwacht sie aus ihrer Lethargie und strahlt über das ganze Gesicht. Sie gewinnt sogar meist und freut sich dann immer wie ein kleines Kind.

Und auch meine Kollegen sind allesamt klasse. Natürlich gibt es den ein oder anderen, dem man mehr oder weniger aus dem Weg geht, aber im Großen und Ganzen sind wir fast so etwas wie eine Familie. Besonders gut verstehe ich mit Sandra. Sie und ich gehen oft zusammen ins Kino oder besuchen Konzerte. Sie ist auch 26 - wie ich - und kommt gebürtig aus Peking, spricht aber perfekt Englisch. Sie ist so lustig und reißt dauernd Witze, dass sich mir die Bauchmuskeln vor lauter Lachkrämpfen zusammenziehen.

Aber auch der schönste Job hat seine Schattenseiten. So wie diese Nacht hier. Ich war gerade dabei, ein Kartenspiel zu mischen, denn ich wollte mir mit Sandra und einer Patientin eine Runde Poker gönnen, als plötzlich diese Eilmeldung eintraf. Aus der "Hopespell Klink" war jemand ausgebrochen. Die Hopespell ist eine andere Heilanstalt, die am anderen Ende des Waldes liegt, durch den ich fahre. Ich bin zuvor nur ein- zweimal dort gewesen. Sie unterscheidet sich nicht groß von der Anstalt, in der ich arbeite, sie haben nur einen etwas höheren Anteil an ‚gefährlichen Patienten’. Auf jeden Fall hieß es plötzlich, dass sich einer der dort Eingewiesenen über den Lastenaufzug in den Keller begeben hätte und dann mit einem der Waschwagen nach draußen gekommen wäre und nun irgendwo durch den Wald rennen würde. Und blöderweise wäre ihnen dort das Beruhigungsmittel ausgegangen, weswegen wir ihnen doch welches bringen sollten, damit sie den "Ausreißer" wieder einfangen könnten. Sandra und auch ich fanden es natürlich mehr als fragwürdig, was wir davon halten sollten. Eine Nervenheilanstalt, der das Beruhigungsmittel ausging? Aber andererseits, erst im letzten Monat ist dort ein seit Jahre florierender interner Drogenhandel aufgeflogen, wirklich gewundert hat es uns also nicht. Und wer hatte wohl die Ehre, dass Zeug dorthin zu bringen? – Ich natürlich.
Ich höre noch, wie Sandra mir hinterher rief. "Halt! Stopp!"
Den Rest hab ich nicht mehr mitgekriegt, wahrscheinlich wollte sie wissen, was sie jetzt mit der Patientin machen sollte und wie lange ich weg sein würde, weil ihre Schicht – glaube ich – nur noch eine halbe Stunde ging, aber für Erklärungen war keine Zeit mehr. Ich musste dringend weg. Immerhin irrte da ein geistig kranker Mensch nur mit einem Nachthemd bekleidet bei Wind, Regen und einer Eiseskälte durch den zweitgrößten Wald von ganz Arizona, der geradezu danach schreit, sich in ihm zu verlaufen und kläglich zu verhungern, zu erfrieren oder einen der rutschigen Felshänge runterzustürzen und sich das Genick zu brechen.
Und da bin ich nun, in meinem alten Pick up, die Hände verkrampft am Steuer, das Beruhigungsmittel auf dem Beifahrersitz in einer kleinen Flasche und meine Augen ganz rot vom vielen Auf-die-Straße-starren.
Und dieses dämliche Wetter will und will nicht besser werden.
Um mich abzulenken, stelle ich das Radio an und siehe da, was kommt? Nachrichten, langweilige, dummdämliche Nachrichten. Was bitte kann um drei Uhr nachts denn so aufregendes schon passieren, dass man es in einer Radiosendung ausstrahlen muss?
"Und jetzt eine dringende Eilmeldung an alle Anwohner und Durchreisende, die in der Nähe der Hopespell Klinik verkehren oder wohnen. Wie wir von der Polizei mitgeteilt bekommen haben, ist vor wenigen Minuten ein Insasse der Anstalt entflohen. Genauere Gründe sind noch nicht bekannt, doch werden alle Autofahrer, die sich gerade auf den Bundesstraßen 45 und 23 befinden davor gewarnt, Anhalter mitzunehmen. Bei dem Geflohenen handelt es sich um den Massenmörder Harrison Smith, der insgesamt dreizehn Leute umgebracht hat. Seien sie also vorsichtig. Er ist ungefähr 1,90 cm groß, hat kurzes blondes Haar und trägt im Moment offenbar die Kleidung eines Anstaltwärters. Falls sie dennoch sehen sollten, rufen sie umgehend die Polizei."
Na, ganz toll: Das hatte man mir mal wieder verschwiegen. Der Typ war also gar kein harmloser Irrer, der jetzt im Abendrock durch das Unterholz spazierte und sich vermutlich nach seiner warmen Zelle sehnte, sondern der schlimmste Killer, den es in den letzten fünf Jahren hier gegeben hat. Und außerdem hatte er offensichtlich noch einen Wärter überwältigt und ihm die Klamotten geraubt.
Egal, jetzt bin ich schon auf dem Weg und selbst, wenn dieser Typ plötzlich vor mir auf die Straße springen sollte, würde er nicht mehr lange unter den Lebenden weilen. Ich habe fast 80km/h drauf, alles was sich mir in den Weg stellt und nicht die Größe eines T-Rex hat, dürfte ich von meiner Stoßstange kratzen können.
Also fahre ich unbeirrt weiter die Bundesstraße 45 entlang, bis mir ein seltsamer Farbklecks am Straßenrand auffällt.
Im ersten Moment kann ich ihn nicht so recht zuordnen. Weder hat er die Konturen eines Tieres, noch eines Straßenschildes. Natürlich klinkt sich in meinem Hirn sofort die Stimme des Radiomoderators ein. Ist das etwa Harrison Smith? Steht dort der geisteskranke Serienkiller am Straßenrand und wedelt mit der Hand in meine Richtung? - Nein!
Als ich näher komme, erkenne ich, dass es ein junger Mann ist, vielleicht Mitte zwanzig, aber nicht älter. Er hat einen dunkelblauen Trainingsanzug an und ist vom Regen völlig durchnässt. Wahrscheinlich ist er durch den Wald gejoggt, das tun hier viele, und dann hat der Sturm ihn überrascht.
Ich halte an und öffne die Beifahrertür, denn erstens bin ich ein sozialer Mensch, der andere grundsätzlich nicht im Regen stehen lässt – was für ein Kalauer -  und zweitens rennt hier ja noch irgendwo ein Psychopath durch den Busch.
Und ich kann diesen armen Kerl ja wohl kaum einfach so hier alleine lassen, wo er doch dem Lieblingstyp diese Irren entspricht.
Zumindest haben das die Profiler gesagt, die damals - vor ungefähr drei Jahren - mit den Mordfällen von Harrison Smith betraut waren und aus den vielen Mordschauplätzen ein Täterprofil erstellen sollten. Einer von denen hieß, glaube ich, David Johnson oder Jameson, auf jeden Fall etwas mit J. Ich hab mir den Typen deswegen gemerkt, weil meine Mutter den so attraktiv fand und immer von ihm schwärmte, wenn er mal wieder in den Spätnachrichten zu sehen gewesen ist. Auf jeden Fall hat selbst dieser ach so tolle Psychologe ziemlich lange gebraucht, bis er diesen Killer fassen konnte. Über sechs Monate haben sie ihn quer durch Amerika gejagt und immer dann, wenn es so aussah, dass die Polizei ihn nun endlich geschnappt hatte, entwischte er erneut.
Leid taten mir daran nur die Hinterbliebenen der Opfer. Sie müssen schreckliches durchgemacht haben. Immerhin ist Smith nicht gerade sanftmütig über die Opfer hergefallen. Ich kann mich nicht mehr an alles von damals erinnern, aber Smith hat sich immer nur junge Männer ausgesucht, was wohl auf seine sexuellen Neigung zurückzuführen gewesen sei, wie es dann später auf einer der Polizeikonferenzen hieß.
Er hat seine Opfer, meist Stricher oder Tramper, von der Strasse aufgelesen, sie erst vergewaltigt, dann getötet und dann, manchmal noch mal vergewaltigt. Tatwaffe war oft eine Machete oder ein einfaches Messer, auch, wenn er damit ordentlich zugelangt hat. Ich sehe die Bilder manchmal noch vor mir, so voller Blut und Eingeweiden und Hautfetzen.
 Und dieser junge Mann, der sich neben mir mit einem Handtuch, das wohl ursprünglich zum Schweißabwischen gedacht war, die Haare trocknet und mich dankbar anlächelt, hätte genau in das Beuteschema gepasst.
"Oh, man, vielen Dank, dass sie mich mitgenommen haben, ich bin bis auf die Knochen nass. Dieser Sturm hat mich total überrumpelt. Ich wollte eigentlich nur meine übliche Route ablaufen. Wissen Sie, ich bin Student und da brauche ich einen Gegensatz zu den ganzen Lesungen, in denen ich nur auf meinem Hintern sitze und Löcher in die Luft starre. Ich hab vor drei Monaten angefangen, die B45 einmal morgens und abends hoch und wieder runter zu laufen, heute jedoch hatte ein Freund von mir einen kleinen Unfall und musste ins Krankenhaus und da bin ich etwas später losgejoggt und jetzt das!"
Er lacht verlegen und ich muss auch ein wenig lächeln. Seine Art ist irgendwie ansteckend. Er hat kurzes, braunes Haar und hellblaue Augen, die stark und tiefgründig wirkten. Seine Erscheinung ist groß und schlank.
Er ist bestimmt beliebt und hat eine wunderhübsche Freundin.
"Tja, man halt nicht immer Glück und außerdem war ich ja da. Gott sei Dank hab ich sie vor diesem Psychokiller gefunden."
Plötzlich verändert sich der junge Mann neben mir. Sein Blick wird ängstlich und verstört, er sieht mich erschrocken an und dann stur nach vorn durch die Windschutzscheibe, als wolle er mir etwas verheimlichen.
"Psychokiller?", fragt er und seine Stimme zittert verdächtig. Ich weiß sofort, dass er mehr weiß, als er mir glauben machen will.
"Oh, ja, haben Sie das nicht im Radio gehört?"
"Was?"
Seine Hände liegen nervös in seinem Schoß und spielen aneinander rum. Es wirkt fast etwas obszön. Er hat Schweiß auf der Stirn. Ich merke wie er mich mustert, mich von oben bis unten beobachtet, abschätzt.
Warum? Will er wissen, wie stark ich bin? Wie lange es dauern würde, mich zu überwältigen?
"Na, dass dieser Smith ausgebrochen ist. Aus dem Hopespell. Das ist hier gleich in der Nähe. Sie hätten ihm jederzeit begegnen können."
Ich sehe ihn besorgt an und er blickt ruckartig wieder auf seine Hände. Erst jetzt sehe ich, dass er Blut an den Fingern hat.
"Gott, wo kommt das denn her?", frage ich nun mit zitternder Stimme.
Der junge Mann neben mir blickt verwundert an sich herunter und keucht auf, als er das Blut entdeckt. Schnell wischt er es in seinem Handtuch ab, wirft mir dabei immer wieder so seltsame Blicke zu.
"D-das hier? Oh, das muss ich mir bei Joggen zugelegt haben. Vielleicht ein Ast einer Tanne, an dem ich vorbei gerannt bin."
Ich stutze.
"Es gibt hier keine Tannen!"
"Hm?"
Er sieht mich panisch an und das Blau seiner Augen funkelt irgendwie merkwürdig.
"Ich sagte, dass es hier keine Tannen gibt. Hier in diesem Wald wachsen nur Laubbäume, keine Nadelbäume. Ist Ihnen das noch nie aufgefallen? Ich meine, wenn Sie schon seit drei Monaten hier entlang joggen, da müssten Sie das doch wissen."
Er antwortet nichts, sondern blickt starr aus dem Seitenfenster.
Ich konzentriere mich auf die Fahrbahn und das Radio, in dem gerade Musik läuft. Es ist stockdunkel draußen. Ich kann nur das sehen, was meine Scheinwerfer erhellen.
Wie kann man in einer solchen Finsternis joggen gehen? Man rennt doch unweigerlich gegen jeden zweiten Baum! Das ist doch unlogisch!
Langsam wird mir unwohl. Ich bekomme Angst, meine Nackenhaare stellen sich auf. Immer neue Fragen stellen sich mir, während ich versuche, den Mann neben mir nicht anzusehen.
Ist er wirklich so jung? Gibt es nicht Menschen, die mit dreißig noch wie einundzwanzig aussehen?
Ist das wirklich ein Jogginganzug? Haben die Uniformen des Hopespell nicht die gleiche Farbe? Hat Albert Stonerock, ein Arbeiter des Hopespell und mein guter Freund, nicht mal im Scherz gesagt, er würde seine Uniform auch immer zum Tennis anziehen, weil sie aus der Entfernung immer aussehe wie ein Adidas-Sportdress? Woher kommt das Blut an seinen Fingern?
Meine Finger verkrampfen sich immer mehr um das Lenkrad. Sie fühlen sich blutleer und kalt an. Mein Kopf dagegen ist so heiß wie ein Bunsenbrenner. Ich muss aussehen wie eine Tomate.
Ich schwitze stark und mein Herz überschlägt sich. Mein Puls rast.
Ich will nur noch hier raus. Unwillkürlich beschleunige ich die Fahrt und gebe Gas. Ich will so schnell wie möglich zum Hopespell und unter andere Menschen.
Mit einem Schaudern wird mir klar, dass eigentlich niemand weiß, wo ich bin. Lediglich der Arbeiter, der mich angerufen hat, damit ich das Beruhigungsmittel bringe. Und der wird sich nicht wundern, wenn ich länger brauche. Ich bin immer als sehr vorsichtiger Autofahrer bekannt. Und Sandra dürfte inzwischen auf dem Weg nach Hause sein.
Im Radio dringt eine markante Frauenstimme an mein Ohr. Ich kenne das Lied nicht, aber es fegt durch meinen Kopf und hallt dort unerbittlich wieder.
Ich sehe kurz auf und in den Rückspiegel. Irgendwie kann ich den Blick meines Nachbarn darin sehen. Er sieht aus dem Fenster, wirkt angespannt und abwesend, als plane er etwas.
Ob er abschätzt, wie lange es dauert bis man hier eine Leiche findet?
Dann sieht er hinter sich auf die Rückbank und dreht sich mit aufgerissenen Augen zu mir um. Und in dem Moment sehe ich es. Dieses Glänzen, dieses irre, kranke Glänzen, die Lust am Töten, den Drang zu Morden. Ich sehe ihn klar vor mir und bremse abrupt ab.
"Was haben Sie mit mir vor?", fragt er überrascht und seine Stimme überschlägt sich.
Ich überlege gehetzt, was ich als Grund angeben kann, wie ich mich hier rausreden und mein Leben retten kann.
 "Ich-ich hab da was im Kofferraum rumpeln gehört, ich seh mal nach."
Ich stottere so sehr, dass es ihm einfach auffallen muss. Dennoch, noch bevor er etwas machen kann, steige ich aus und drücke beiläufig den Kindersicherungsknopf an meiner Tür. Dann schlage ich dir Tür zu und lehne mich erleichtert gegen die Autowand.
Ich bin vorerst in Sicherheit. Doch wie lange?
Er wird sicher nicht ewig darin warten vor allem, wo seine Seite noch offen ist.
Ich brauche einen Plan. Einen guten Plan.
Ich kann nicht weglaufen, dazu bin ich zu unsportlich. Außerdem sehe ich nichts und der Irre da drinnen kann mich mit meinem eigenen Auto verfolgen. Ich Esel habe den Zündschlüssel stecken gelassen!
Also bleibt mir nur ein Weg. Ich muss ihn zuerst ausschalten, bevor er mich umbringen kann! Ihn irgendwie ausknocken und dann wie der Teufel zum Hopespell und die Polizei rufen! Das ist es!
Leise schleiche ich zum Kofferraum und öffne ihn mit zitternden Händen. Ich habe so schreckliche Angst wie noch nie in meinem Leben.
Ich kann seinen Schatten auf dem Beifahrersitz erkennen, er rührt sich nicht und wirft mir durch den Rückspiegel einen Blick zu, der mir die Fingernägel hochklappen lässt.
Grinst er?
Ich krame wie besessen in dem Zeug herum, das im Kofferraum liegt und finde schließlich eine Axt. Damit wird es gehen. Wenn ich ihm den Stil vor den Kopf knalle. Ich bin vermutlich nicht mal halb so stark wie er, aber wenn ich ihn überraschen kann, dann vielleicht…
Ich nehme sie so versteckt wie möglich in die Hand und schliesse den Kofferraum.
Dann schleich ich an seiner Seite zur Tür und warte kurz.
Wieder dring die Frauenstimme aus dem Radio gedämpft durch das Glas.
Und dann klickt es plötzlich. Die Tür wird aufgerissen und knallt mir in den Bauch. Ich lasse die Axt fallen und krümme mich, bleibe aber auf den Beinen. Ein Schatten huscht an mir vorbei und schlägt mir ins Gesicht.
Ich schütze mich mit meinem Arm und schreie, renne dann einfach los und werfe den Killer so zu Boden.
Mein Magen verkrampft sich und meine Nase blutet, doch mein Lebenswille ist stärker. Ich greife zur Axt und hebe sich hoch. Unter mir wehrt der Mann sich, aber das wird ihm nichts nützen. Er wird sterben, oh, ja bei Gott, ich werde ihn zerstückeln. So wie all die anderen, die mir wehtun wollten, wie all die anderen, die hinter mir her waren.
Sie werden mich nicht kriegen, niemals!
Ich hebe die Axt und schlage auf ihn ein. Immer und immer und immer wieder. Blut spritzt auf meine Uniform, die ich dem Wärter im Hopespell gestohlen habe, nachdem ich ihm mit einer Rasierklinge die Kehle durchgeschnitten habe.
Er schreit unter mir, erst laut, dann immer leiser bis er nur noch röchelt und schließlich schweigt.
Ich höre Knochen unter der Gewalt meiner Axt brechen, sehe das starre Funkeln seiner hellblauen Augen, die erlöschen als ich ihm den Schädel spalte. Ha, der wird nie wieder seine Freundin anstrahlen!! Nur noch mich. Für immer! Er gehört jetzt mir, er ist mein, in mir. Und will in ihn, meine Hose spannt schon, es pocht und pulsiert und sehnt sich danach, sich in ihn zu bohren und ihn auch von innern her zu zerstören. Ich werfe die Axt weg und drehe den schweren Körper auf den Bauch, ziehe ihm unwirsch die Jogginghose und die Shorts darunter herab. Sein Hintern ist wohlgeformt und fest, ich kann meinen Blick gar nicht davon abwenden. Er sieht nicht aus, als wäre er jemals von einem Mann genommen worden, das heißt, er wird eng sein, herrlich eng und heiß. Ich öffne meinen Reißverschluss und beuge mich über ihn, dann stößt mein Becken haltlos vor und zurück.
 Und er ist eng!
Da werde ich von einem grellen Licht geblendet. Ein Wagen kommt angerast und bleibt direkt neben mir stehen.
Ein Mann springt heraus und schiesst auf mich. Ich spüre einen Stich im Nacken und bekomme etwas längliches, Festes zu fassen. Als ich es vor mein Gesicht hebe, sehe ich eine Injektionsnadel an einem Projektil. Ich werfe es weg. Mit einem Klatschen landet sie in dem Geschwür aus Hirn und Fleisch, dass einst ein Kopf gewesen ist.
Dann wird mir schwarz vor Augen und mir wird schwindelig. Alles dreht sich. Ein letztes Flackern, dann ist alles dunkel.

Als ich wieder zu mir komme stehen eine junge Frau mit langen roten Haaren und ein großer Mann mit grauem Kurzhaarschnitt neben mir, während ich von zwei Polizisten in einen Krankenwagen getragen werde. Ich bin gefesselt und kann mich kaum rühren, geschweige denn sprechen. Dennoch reicht mein Bewusstsein noch um diese hässliche Fratze wieder zu erkennen. Jetzt fällt mir auch sein Name wieder ein. Jackson. David Jackson. Ich will diesem Mistkerl etwas zurufen, aber meine Lippen bewegen sich nicht. Dann werden die Klappen der Hecktür auch schon geschlossen und ich bin allein mit zwei Pflegern und drei Polizisten, die mich allesamt angeekelt und hasserfüllt ansehen. Diese Unwissenden! Sie haben doch keine Ahnung! Ich bin hier das Opfer! Ich! ICH GANZ ALLEIN!!!

 

"Der arme Junge.", sagt der Mann einige Zeit später und streicht sich über die durchnässte schwarze Jacke auf deren Rücken groß FBI steht. Etwas kleiner darunter steht sein Nachname. Jackson.
Die Frau neben ihm richtet ihre Brille, sieht dann in ihren kleinen Notizblock und dann betroffen auf den von einer Plane bedeckten Körper.
"Er heißt Alec Jones und ist dreiundzwanzig. Er ist hier regelmäßig joggen gegangen. Normalerweise geht er immer gegen fünf Uhr, doch heute hatte sich ein Freund von ihm bei einem Treppensturz ein Bein gebrochen und er hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Er ist dann wahrscheinlich gegen halb neun noch mal raus gegangen und von dem Sturm überrascht worden.", sagt sie.

Der Mann seufzt.
"Er hat wohl gedacht, der Mann würde ihn nach Hause fahren und dann das hier. Es stimmt wohl, was man sagt. Sport ist Mord."
Die Frau zischt bissig.
"Also wirklich, Agent Jackson, sagen Sie das Mal seiner Freundin. Das Mädchen ist schwanger und die beiden wollten in drei Wochen heiraten. Jetzt ist sie Witwe und muss ihren Sohn allein aufziehen, bloß weil dieser kranke Bastard ein kranker Bastard ist."
"Warum, glauben Sie, hat er ihn ermordet?"
"Wie immer. Er leidet an einer schlimmen Nervenkrankheit. Verfolgungswahn und sexuelle Obsession kommen dazu. Er sieht in seinen Opfern immer jemanden, der ihm etwas antun will, vermutlich Nachwirkungen eines Traumas als Kind. Sein Vater hat ihn regelmäßig verprügelt und missbraucht. Deswegen auch die Vergewaltigung. Erst sieht er in dem Mann eine Bedrohung, redet sich ein, er wolle ihn umbringen und um sich zu schützen, bringt er ihn vorher um. Doch währenddessen macht es Klick und plötzlich empfindet er so etwas wie…Zuneigung zu den Opfern, weil sie ihn an seine Kindheit erinnern und aus dieser Zuneigung speist sich dann Lust.
 Bei der Vernehmung meinte er beharrlich, all seine Opfer seien Psychokiller oder Mörder gewesen. Dabei ist er selbst es."
Jackson schüttelt den Kopf und geht zurück zu seinem Wagen.
Die Frau folgt ihm und fährt sich durch ihr Haar.
"Wissen Sie, am meisten tut mir wirklich seine Freundin leid. Ihr Freund und Vater ihres Kindes ist tot und sein Killer wird nur betäubt und wieder ins Sanatorium gebracht. Das ist doch irgendwie unfair, oder nicht?"
Während sie über die nasse Straße geht, hört sie, dass in dem gestohlenen Wagen des Hopespell noch Musik läuft.
Sie geht hin, hört es sich kurz an und schaltet es dann ab, ehe sie die Tür zuschmeisst und ihren Kollegen von der Spurensicherung zuwinkt, die mit einem dunkelblauen Vaan die B45 runtergefahren kommen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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