Franziska Wiebke

Das Leiden der Liebenden

Erschrocken blickten sie in das faltige, runzelige und absolut böse Gesicht des Mannes der soeben die Tür aufgerissen hatte.
 
Mit entsetztem Blick sahen sie den grauen langen Mantel, das Hackenkreuz, die vielen Orden an seiner Brust.
 
Er war flankiert von zwei Soldaten.
 
Seine kleinen Augen funkelten angewidert, angesichts des Anblicks den sie boten. Eine Jüdin und ein Christ.
 
Der Hauptmann deutete auf die Zwei und sagte in hämischen Ton:
 
„Sie kommt in den nächsten Zug, soll Auschwitz sich um sie kümmern, hm, lasst ihn hier, nehmt nur die Frau!“
 
Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand, doch nun betraten die zwei Soldaten das Zimmer.
 
Er sprang auf und stellte sich ihnen in den Weg. „Verschwindet! Verschwindet!“, brüllte er während sie auf dem Bett starr war vor entsetzten. Doch einer der Soldaten stieß ihn beiseite und er schlug mit dem Kopf gegen die Kante eines kleinen Schrankes.
 
In seiner Benommenheit glaubte er ihre verzweifelten Schreie hören zu können. Schreie die den Boden beben ließen, ihm das Herz zerrissen. Er wollte sich bewegen, sie zurück holen, Amok laufen wenn nötig, doch alles drehte sich, sein Schädel schien zu platzen, er war unfähig auch nur etwas zu erkennen.
 
Und dann wurden die Schreie leiser, leiser, bis sie schließlich erstarben. Genauso wie seine Hoffnung.
 

 
Dachte Amelie heute an den Tag zurück, an dem man ihr ihren Willen, ihr Herz, ihre Seele geraubt hatte, so verspürte sie nur eine dumpfe Benommenheit. Es war wie eine Trance, eine tröstliche Trance in der sie nichts fühlen musste, in der sie taub war für jede Art der Empfindung.
 
Während sie stundenlang riesige Steine von einer Stelle zu einer anderen schleppte, wenn sie sehen musste wie sich erneut Frauen wie Männer gegen die elektrisierten Zäune warfen, wenn sie Menschen auf ihrem letzten Weg in die Duschräume sah, sie fühlte nichts.
 
In ihr herrschte eine Leere die sie noch nie in ihrem Leben verspürt hatte. Sie fühlte keinen Hunger, keine Kälte und keinen Durst. Sie zitterte, ihr Magen knurrte und ihre Kehle war trocken, doch es interessierte sie nicht, nein, sie bemerkte sie nicht einmal.
 
Nur manchmal nachts, wenn sie zusammen gepfercht mit den anderen in den Baracken auf den Hochbetten lag und die Kälte unter ihre winzige Decke kroch, dachte sie an glückliche Tage. Stellte sich vor Olivers starke Arme würden sie umschließen, das Pieksen an ihrem Bein wäre eine ansonsten flauschige Bettfeder und nicht ein weiterer Floh der sie biss.
 
Nachts, wenn alle anderen sich in ihre schönen Träume retteten, lag sie wach, starrte die rissigen Deckenbalken an, und ab und zu rann eine Träne aus dem Augenwinkel die Wange hinab.
 
Doch nachts, wenn alles ruhig war, fand auch die Verzweifelung einen Weg in ihr Bewusstsein. Dann spürte sie dieses zerreißende Gefühl des Verlustes und die vom Schmerz zugeschnürte Kehle.
 

 
Hoffnung hatte sie nicht mehr. Oft sah sie Familien die beteten, und Gott um Gnade anflehten, sie sah Menschen die trotz allem fähig waren zu lächeln. Doch was wartete denn schon auf sie? Sollte sie dieses Martyrium überleben, so war das nichts. Niemand. Keiner der auf sie warten würde.
 
Oliver. Wenn er überhaupt den schweren Sturz überlebt hatte, würde seine wohlhabende Familie ihn bald mit einer ihm würdigen Christin verheiraten.
 
Erneut wäre ein Zusammensein unmöglich. So wie es das von Anfang an gewesen war, dachte sie verbittert als sie an diesem Morgen zum Zählappell antrat. Eine weitere Folter in der langen Liste. Während die Kapos zu zählen begannen, blickte Amelie hinüber zu den Krematorien.
 
Schon oft hatte sie sich dabei ertappt wie sie beinahe sehnsüchtig zu ihnen herüber geblickt hatte. Sterben war leichter als hier, fern von allem vertrauten, menschlichen, vom Geliebten, dahin zu vegetieren.
 
Einmal nachts, war sie aus dem stinkenden Hochbett geklettert, war hinaus getreten und zu den Zäunen gegangen. Ihr Herz war so voller Trauer, voller Schmerz und Sehnsucht gewesen, dass sie das Gefühl gehabt hatte daran ersticken zu müssen. Sie wollte sterben, sie wollte nicht mehr leben und allein der Gedanke an ein Leben ohne Oliver war schier unerträglich. Doch dann, als sie gerade hatte loslaufen wollen, kam eine Frau aus einer der Baracken gerannt, direkt auf die Zäune zu. „Michael!“, schrie sie bis sie schließlich gegen den Zaun prallte, zuckte und schrie bis der Gevatter Tod sie heimsuchte und ihre Seele an einen besseren Ort davon trug, während ihr Körper vor Amelie liegen blieb. Und so hatte sie sich entsetzt abgewandt, war zurück ins das Bett geklettert, doch immer noch erfüllt mit der einzigen Hoffnung die sie kannte: Nicht mehr aufzuwachen.
 

 
Ein Tag ging in den nächsten über, Menschen verschwanden und kamen.
 
Amelie sprach fast nie. Man hatte ihr Oliver genommen, den einzigen Menschen den sie je geliebt hatte, der sie jemals geliebt hatte, was also hatte sie noch zu sagen. Sie wollte nicht um Rettung beten, sie wollte nicht Klagen. Sie wollte nichts. Sie nahm ihr Schicksal hin, ohne es zu hinterfragen, im Gegensatz zu allen anderen.
 
Und dann, eines Tages, der milde Herbst ging gerade in den gnadenlosen kalten Winter über, kehrten unerwartet Erinnerungen wieder.
 
Sie saß allein in der Baracke, und sollte abgeholt werden. Sie hatte Fieber und sollte in eine der Krankenbaracken kommen.
 
Und während sie so dasaß, zitternd vor Fieber, kam die Erinnerung.
 

 

 Sie lächelte ihn schüchtern an, doch selbstbewusst blickte er zurück.
 
„Nun, Amelie, würden sie mir die Ehre erweisen und mit mir zu Mittag essen?“ Er hielt ihr demonstrativ seine Hand entgegen. „Ich, ähm, nein, verstehen sie doch, ich“, stammelte sie und sah ihn hilflos an.
 
Doch er verstand. „Amelie, ich weiß nicht wie es ihnen geht, doch mich interessiert Hitlers Gesetz nicht. Ich gehe mit jedem essen, so wie es mir gefällt. Und wie ihr wissen solltet, halte ich von diesem Rassen Gerede nichts, also?“ Erneut streckte er ihr die Hand entgegen. Bevor sie recht wusste was sie tat, nahm sie seine Hand und ging Hand in Hand mit ihm die für sie schon längst nicht mehr sicheren Straßen entlang.
 
Sie gingen in ein kleines Kaffee, an dessen Tür kein Schild „NICHT FÜR JUDEN“ gehangen hatte.
 
Das Café war recht schäbig und es roch muffig. Doch Amelie und Oliver interessierte es nicht, sie setzten sich an einen kleinen runden Tisch und bestellten Mittagessen. Während sie bei einer Tasse Tee auf ihr Essen warteten, redeten sie.
 
„Sagen sie Amelie, warum sind sie Hausmädchen? Ihre Fähigkeiten scheinen doch weit darüber hinaus zu gehen?“ Oliver sah sie fragend an.
 
„Ich weiß nicht recht. Es fiel mir einfach so zu.“ Sie zuckte die Achseln und musterte die kleinen Grübchen in seinen Wangen. Er war ein stadtlicher Mann. Groß, braunes, kurzes Haar und mit blauen Augen die Fröhlichkeit ausstrahlten. Viele junge Frauen sahen ihm nach, dass hatte sie bereits bemerkt. Nicht nur wegen seines Aussehen. Er trug teure Kleidung, und makellose Stiefel. Seine Eltern waren äußerst reich, was es ihm ermöglichte Medizin zu studieren. Doch er war keineswegs verwöhnt. Er war bescheiden, gab bettelnden Menschen stets alles Geld was er bei sich hatte oder kaufte ihnen Kleidung und Essen.
 
Sie selbst hingegen war eher eine unscheinbare Person. Der Leiter des Waisenheimes, indem sie aufgewachsen war, hatte ihr immer eine rote Mütze aufgesetzt, die schreckliche kratze, weil er sagte er würde sie sonst ständig übersehen und sie nie finden wenn er sie suchte.
 
Dunkelblondes Haar, graue Augen, ein schmal geschnittenes, blasses Gesicht, mit einer kleinen Nase, auch ihr Körper wirkte zart und gebrechlich. Und auch ihre Persönlichkeit war eher bescheiden. Sie redete von allein nie viel, war eher still und zurückhaltend. Aber liebevoll und mitfühlend, stets mit einer helfenden Hand an der Seite der Menschen die sie brauchten.
 
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie Oliver angestarrt hatte.
 
Sie wurde hochrot, doch Oliver lachte. „Hätten wir gerade gegessen, hätte ich jetzt angenommen einen Krümel oder so etwas an meinem Mundwinkel zu haben, aber so!“
 
Doch dann lachten sie beide. An diesem Abend lachten sie noch viel.
 
Oliver mochte Amelies Humor und ihre schüchterne Art, sie war nicht wie viele junge Frauen aus den Kreisen in denen er sich sonst auf Wunsch seiner Eltern aufzuhalten hatte.
 
Sie hatte eine so liebevolle Art wie er sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Nach dem Essen begleitete er sie nach Hause und verabschiedete sich mit einem Hauch von Kuss auf ihre Wange.
 

 
Amelie betastete ihre Wange und glaubte den Hauch des Kusses erneut zu spüren.
Sie schloss die Augen. Wie dumm waren sie nur gewesen. Wie dumm zu glauben, sie könnten über ein ganzes Regime triumphieren? Wie konnte sie nur glauben, sie würde endlich glücklich werden? Sie waren klug gewesen. Stets wenn er zu ihr gekommen war, hatte er eine Jacke mit einem Judenstern getragen und einen Pass, beides hatte er mit dem Geld seiner Eltern gekauft. Natürlich ohne deren Wissen. Sie hätten eine Beziehung zu einer Jüdin und vor allem zu solchen Zeit keine Sekunde geduldet. Eher wären sie freiwillig gestorben. Ja, so hatte es Oliver einmal ausgedrückt. Für alle Welt war sie Abschaum gewesen, für jeden außer ihresgleichen und Oliver.
Wir sind zu kühn und zu dumm gewesen, dachte Amelie. Sie hätten sich voreinander retten sollen bevor sie einander ganz verfielen. Sie hätten statt auf das Herz eher auf ihren Verstand hören sollen. Doch diese Vorstellung tat noch mehr weh. 
Und stattdessen hatten sie ihre Welt einige Monate getäuscht. Und diese Monate würde sie niemals vergessen. Amelie lächelte angesichts dieser Erinnerung. Nie würde sie die Berührungen, die Gefühle, die tiefe Liebe vergessen die sie geteilt hatten. „Und sie waren es verdammt noch mal  Wert“, sagte sie laut und energisch. „Ich habe gelebt und dies alles zu verdammen ist noch dümmer.“
Eine Kapo kam und führte Amelie in die Krankenstation und ließ sie dort mit ihren Gedanken allein.

 
Als Oliver die Rampe von Auschwitz betrat, war das die erste frische Luft seit Tagen. Im vollgestopften Zug hatte er sich müde und erschöpft und hungrig gefühlt. Er stank nach beißendem Schweiß und Urin.
Doch nun war er hier. Hier, in Auschwitz. Hier war Amelie.
Wenn sie noch lebt, flüsterte eine leise böse Stimme in sein Ohr.
Doch er verdrängte diese Stimme. Es hatte ihn unendliche Mühe gekostet her zu kommen, überhaupt heraus zu finden was Auschwitz war, wo es sich befand und so weiter. Und nun war er hier, nach all der Mühe und den schlaflosen Nächten. Er hatte es geschafft, hatte den Schock angesichts der menschenunwürdigen Behandlung die man als angeblicher Jude im Zug von den Aufsehern erfuhr überlebt. Er war hier.  
Und Amelie war hier. Sie musste hier sein. Und am leben.

 
Amelie lag auf einem Brett mit ein paar Laken, das ihr Krankenbett darstellte. Es war zugig, und ihr ganzer Körper zitterte vom Fieber. Sie hörte Geräusche, hustenden Menschen, Stöhnen, aber sie achtete nicht darauf, nicht einmal den bestialische Gestank von Tod und Krankheit bemerkte sie. Sie war wach, wenn auch völlig erschöpft.
Und dann auf einmal, spürte wie sich jemand neben sie auf das Brett legte. Und dieser jemand kuschelte sich an sie. Sie wollte sich schon umdrehen und schreien, doch hielt sie plötzlich in ihrer Bewegung inne.
Diese Berührung kannte sie.
Nein, das konnte nicht sein. Das war Unmöglich. Wie sollte das gehen? War das Fieber den schon so hoch gestiegen?
Und dann als sie seine Stimme hörte, traten ihr die Tränen in die Augen.
„Kleine Engel dürfen nicht krank werden, weißt du das denn nicht?“
Und sein Arm legte sich um sie, wie sie es sooft geträumt hatte.   

 

 

 

 
  
 
 
  
 

 

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