Keno tom Brooks

Das Tor zur Strasse

Pudd Rathel saß an dem rechteckigen, dunkel lackierten Holztisch. Der Tisch war groß und es hätten wenigstens zehn Leute an ihm Platz gefunden. Er nahm fast den ganzen Raum in der kleinen Küche ein. Es war gerade noch Platz für den Herd, die Spüle, einige Küchenschränke, den Gewehrschrank, einige Regale und einen alten gußeisernen Ofen an der gegenüberliegenden Seite des niedrigen Zimmers. Hinter der Glasscheibe brannte ein kleines Holzfeuer und die Flammen warfen zuckend und züngelnd ein schales gelbes Licht über die Ahornholzwände. In den letzten Tagen des Jahres schien der Mond hinter den Schneewolken gleißend hell wie weißglühender Stahl und sein blaues Licht trennte die Landschaft in richtig und falsch, in wahr und unwahr.
Vor den Butzenscheiben der kleinen Fenster fiel die Sanftmut des Schnees und die tanzenden Flocken irritierten das Auge. Wälder und Seen verschwanden hinter einer weichen, dämpfenden Wand, die nichts und niemandem nachgab. Das sanfte, weiche weiße Laken legte sich auf die morschen Strommasten, die in der Dämmerung zu schwanken schienen, und bedeckte die von gefrorenen Wasserlöchern durchsetzte Auffahrt zu Pudd´s Haus.
Der Schnee suchte sich seinen Platz wie Theatergäste ihre numerierten Sitze und sank dabei leise schwebend zu Boden, bedeckte die Wälder und den zugefrorenen See vor der Hütte mit einer weißen Schicht, die jeden Laut schluckte und die Landschaft in völlige Ruhe tauchte. Einer Ruhe am Rande einer anderen Welt.
Es war kurz vor Weihnachten und die Wohnhäuser, Scheunen und Garagen der Umgebung standen einsam und weit verteilt an der schmalen Straße, die sich endlos in die kanadische Weite zog und die Häuser wie an einer Perlenschnur miteinander verband. Manche Häuser an der weitläufigen Straße waren mit bunten Lichterketten geschmückt. Die Scheiben der Häuser leuchteten wie die Augen eines unförmig lauernden Tieres in die kanadische Weite, und hinter den Scheiben sah man hier und da Menschen, die ihren Beschäftigungen nachgingen und sich auf das Weihnachtsfest vorbereiteten. In den Vorgärten standen Weihnachtsschlitten mit beleuchteten Rentieren und Lichterspiele zierten die Fenster.

Pudd war alleine. Er hatte seinen alten grünen Bademantel nachlässig um sich geschlungen, der Gürtel lag wie eine Schlange gerollt auf dem Boden. Seine Füße steckten in ausgetretenen schwarzen ledernen Hausschuhen und er streckte die Beine weit von sich unter den schweren Tisch, an dessen Kopfende er saß. Die Falten seines Kinns lagen wie ein herabstürzender Wasserfall auf seiner Brust und unter dem Bademantel trug er eine weiße, viel zu weite Unterhose, deren Bund locker auf seinem aufgedunsenen Bauch lag.
Pudd Rathel blickte durch die matte Glasscheibe des Gußofens auf das Feuer und griff nach seiner Zigarette, die qualmend im Aschenbecher vor ihm lag.
Auf dem Tisch lagen einige Schachteln mit Munition, zwei Automatikpistolen, ein Geweih, auf einem Brett montiert und einige Jagdzeitungen. Eine große, weiße herabgebrannte Kerze flackerte am Ende ihres Dochtes in einer Lache von Wachs und warf flackernd ihren gelben Schein über die senkrechten Holzlatten, die die Wände des Raumes bildeten.
Auf den Bücherregalen standen einige Bilderrahmen mit Jagdmotiven und zwei Munitionsschachteln lagen auf einem alten, zerfledderten Telefonbuch. Ansonsten waren die Regale leer, denn Pudd hielt nichts von Büchern die mit dem Wissen anderer vollgeschrieben nur den Geist verwirrten und den Menschen von den wahren Dingen des Lebens, den Erfahrungen, abhält. Pudd´s Meinung war, daß man aus Büchern nichts lernen kann. Theorie kann das Leben nicht ersetzen und nur wer handelt, denkt. Dem niedergeschriebenen Wissen anderer mißtraute er, weil er sie nicht selber hatte handeln sehen.
Pudd hatte immer gehandelt. Er hatte nie das Gefühl, etwas nicht richtig zu machen oder von der falschen Seite anzugehen. Seine Sichtweise der Dinge war immer richtig und wer sie nicht teilte, wurde aus seinem inneren Kreis verbannt, war Theoretiker und somit unwissend.
Nur Pudd wußte. Nur er wußte um die wichtigen Dinge des Lebens, konnte richtig einschätzen, richtig entscheiden.
Geld als Voraussetzung für Besitz waren die Engel seiner Religion und materieller Erfolg sein Prophet. Besitz war sein Gott. Es gab niemanden, der Pudd widersprach, den die Menschen um Pudd herum hatten selber ihren Vorteil von Pudd´s Denken. Seine Meinung war ihnen gleichgültig und Pudd entnahm dieser Gleichgültigkeit Zustimmung zu seiner Sichtweise. Die Welt um Pudd war in Ordnung und Pudd war zufrieden, denn das Leben richtete sich scheinbar nach ihm und seinen Vorstellungen. Warum sollte er also unnützes Wissen in seinem Kopf anhäufen, wenn er ohne dieses Wissen weiterkam als die meisten Menschen.
Die Regale seines Hauses waren eine mit Staub bedeckte Wüste.

Die Kerze vor ihm auf dem Tisch flackerte kurz auf und schien dann, nur noch an ihrer äußersten Spitze schwach brennend in einem kleinen, gleichmäßigen Licht.
Pudd´s Unterarme lagen auf dem schweren Holztisch und hielten ein volles Bierglas. Unter den zerfransten Ärmeln sah man Pudd´s Handgelenke. Sie waren von schweren Brandnarben entstellt. Pudd´s ganzer Körper war von Brandnarben bedeckt. Geknotetes, gezogenes und faltiges Gewebe, gedreht, verdickt und verhärtet. An manchen Stellen dünn wie Seidenpapier und pergamentartig brüchig waren nur Pudd´s Gesicht und seine Hände vom verzehrenden Feuer verschont geblieben.
Manchmal juckten und zogen die schweren Narben und die Bewegungen fielen Pudd schwer. Er hatte das Gefühl, seine Haut, oder das, was davon übrig war und heute seinen Körper bedeckte, sei zu eng. Die Haut eines anderen, nicht für ihn hergestellt und angepaßt.
Pudd trank einen tiefen und langen Zug von dem herben, kühlen Labatt Pilsener mit dem roten Ahornblatt auf dem blauen Etikett und kratzte sich gedankenverloren an einer der unzähligen Narben seines Unterarmes. Der warme Atem der Kerze flackerte vor Pudd, ihr Feuer zuckte hoch und wurde von dem wie gläsernes Eisen fließenden Wachs wieder niedergeschlagen. Am Ende des Dochtes kämpfte die blaugelbe Flamme gegen ihr verlöschen.

Jedes Kratzen, jedes Jucken und Ziehen ließen immer wieder die Bilder der Katastrophe vor seinen Augen abspielen wie die Bilder einer Laterna Magica. Verwackelt, unscharf, manchmal zu schnell, manchmal zu langsam laufend aber immer klar genug, um ihn schmerzhaft zu erinnern. Die Schmerzen waren in ihm seit diesem Tage und die Bilder konnte er nie ganz verdrängen. Sie tauchten immer wieder auf, morgens, wenn er, oft von Alpträumen geplagt, erwachte, in seinen Tagträumen, Abends, wenn er in das Feuer des Holzofens blickte, beim Zähneputzen, beim Essen, und vor allem, wenn die beginnende Nacht ihre Gespenster gebar und er seine Angst hinter sich her schleppte wie einen schwarzen Schatten.
Seine Erinnerungen an die Katastrophe waren nur schemenhaft und durchsetzt von den Erzählungen anderer, die ihm später davon berichteten.
Er erinnerte sich noch an den Flug, an den Mann der hinter ihm in dem engen Cockpit saß und das Flugzeug steuerte, an den blauen Himmel und den Sonnenschein, der seitlich durch die Glaskanzel fiel und die Sicht auf die Instrumente erschwerte. Er erinnerte sich an die kleine, kaum hörbare Explosion an der linken Fläche und die schwarze Rauchfahne, welche darauf folgte. Pudd erinnerte sich an seinen Copiloten, der das Steuerhorn herumriss und die Maschine dadurch ins Trudeln brachte. Die Instrumente zeigten einen vollständigen Ölverlust im linken Triebwerk und Pudd handelte nach dem Automatismus, welchen man ihm in den vielen Stunden seiner fliegerischen Laufbahn eingetrichtert hatte. Er erinnerte sich an seinen Faustschlag auf den Override, an die Übernahme des Steuerhorns, an das Ziehen und die unmenschliche Kraft, die er auf die Steuerung ausübte. Er erinnerte sich daran, die Maschine kurz vor dem Boden abgefangen zu haben und er erinnerte sich an das Krachen der Baumstämme, das wegfliegen der abgerissenen Baumkronen und das Bersten der Fläche, welche er im Slip voran in den Boden gerammt hatte.
Danach Stille. Der beißende Geruch von Kerosin und brennendem Metall. Das Öffnen des Zentralverschlusses an seinem Gurt, das Aussteigen aus der aufgerissenen Kanzel. Er erinnerte sich daran, das er an der glatten Außenhaut des Flugzeuges nach unten glitt bis die Füße im weichen Waldboden Halt fanden. Er erinnerte sich an das Ächzen und Knacken der Metallteile, die sich im Feuer verbogen und barsten. Und er erinnerte sich an seinen Kameraden, der ohnmächtig in seinem Sitz saß. Danach verschwamm seine Erinnerung. Er wußte nicht mehr, wie er seinen Kameraden aus dem Sitz und über die Bordwand der Kanzel gehoben hatte, wie er ihn wegschleppte vom Feuer des Kerosinsturmes. Er hatte keine Erinnerung mehr an seinen brennenden Druckanzug, seine Atemnot, seine Ohnmacht.
Seine Erinnerung setzte erst zwei Monate später wieder ein, als er im Lazarett erwachte. Die weißen Laken, die Schwestern in ihren Uniformen, die Schmerzen. An die Schmerzen erinnerte er sich. Die Schmerzen, die ihn bis heute in seinen Träumen quälen. Es dauerte lange, bis die Reste seiner Haut nach unzähligen Verpflanzungen verheilt und vernarbt waren.
Als er nach Monaten das Lazarett verlassen konnte, hatte er nichts gehört von dem Mann, dessen Leben er gerettet hatte. Er war versetzt worden und Pudd sah ihn nie wieder. Kein Krankenbesuch, kein Anruf, kein Brief, keine Karte von ihm. Keine Erklärung, keine Diskussion, kein Danke. Nichts.

Manchmal kam Pudd die Geschichte von Owen Meany in den Sinn, der sein ganzes Leben nur auf einen Moment, einen Augenblick hin lebte um in dieser Sekunde das Leben eines anderen zu Retten und sein eigenes dafür zu geben. Pudd´s Leben war nach seiner Heldentat nicht zu Ende. Er überlebte mit einem entstellten und vernarbten Körper und die Narben seiner Seele lagen tiefer.

Pudd nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas, stand auf, ging schlurfend zu einem der Holzschränke, bückte sich, öffnete eine der schweren Holztüren und nahm einen weißen Plastikkanister heraus. Auf dem Küchentresen stand ein Schnapsglas und er füllte etwas aus dem Kanister in das Glas. Pudd ließ den Kanister in Reichweite auf dem Tisch stehen, nahm das Glas und trank es in einem Zug leer und es war fast, als hätte er eine schärfere Brille aufgesetzt. Er sah alles klarer, detaillierter, näher. Er sah alles fest und wahr und rein und schön und gut und es erfüllte ihn mit einer herrlichen, schönen, alles umfassenden Trunkenheit.
Mein Gott, dachte Pudd, jetzt müßte hier Musik sein und Menschen müßten hier sein, tanzende, drehende, sich wiegende Menschen. Er würde trinken und singen und lachen und Menschen an der Theke umarmen, ihre Nähe suchen, ihre Aufmerksamkeit.
Er würde nicht mehr an sein Leben denken, sein Leiden an die Schmerzen, die Verluste, die Freuden und das Glück. Er wäre er und er wäre glücklich.

Trotz des Feuers fröstelte Pudd und er zog den alten Bademantel enger um sich. Dann legte er zwei Holzscheite im Kamin nach und setzte sich wieder an den Tisch. Der Docht der Kerze war bereits tief in das flüssige Wachs getaucht. Das Wachs brodelte und der Docht brannte bereits zur Hälfte. Er warf sein erweitertes Licht wild umher und zerriß die Stille des Raumes mit strahlender Helligkeit und Sauberkeit.
Früher kamen manchmal die Nachbarn auf ein Bier und einen kleinen Schwatz vorbei, aber seit einigen Jahren ließ sich keiner mehr sehen. Pudd legte auch keinen Wert darauf. In seinen Augen waren es alles Schmarotzer, die von ihm Leben wollten, sein Bier tranken und seine Zeit stahlen. Seit zwei Jahren war außer der alten Mrs. White vom General Store weiter unten an der Straße, die ihn wöchentlich mit den wenigen Lebensmitteln versorgte, die er benötigte, die ihm die Kisten Bier und den Moonshine brachte, den Mr. White irgendwo in den Wäldern Ontarios heimlich brannte, kein Mensch mehr auf dem Hof gewesen.
Manchmal, wenn Pudd zuviel getrunken hatte und seine Einsamkeit zu groß wurde, stolperte er mit dem Gewehr in der Hand aus dem Haus auf die Terrasse und schoß auf imaginäre Ziele, die er im dunklen vermutete. Dann fühlte er sich gut. Er fühlte sich wichtig und überlegen. Ein Mann der sich mit seiner Waffe gegen die Unbill der Welt verteidigt. Pudd schoß auf seine Ängste und seine verlorenen Träume. Er schoß auf seine dunklen Seiten, seinen Selbsthaß, seine Verzweiflung, seine innere Einsamkeit. Er schoß auf das Leben, das ihn enttäuscht hatte und auf das Schicksal, das sein Feind war. Er schoß auf die seelischen Wunden, die er sich selbst zugefügt hatte und auf die Schmerzen, die diese Wunden verursachten.
Dann kam meist die Polizei vorbei, befragte ihn und ging wieder. Das waren die einzigen Besucher, die einzigen Menschen, die Pudd außer Mrs. White noch sah.
Pudd langte nach dem Kanister Moonshine und goß sein Glas wieder voll. Er griff danach und trank es wieder in einem Zug. Eine fließende Bewegung, wie Wasser, das an einen Strand brandet und zurückrollt. Dann langte er neben seinem Stuhl nach unten in die Bierkiste und nahm die nächste Flasche.
Früher, in Deutschland, war es anders. Pudd hatte nach seinem Unfall die Luftwaffe verlassen und sein Glück im Showgeschäft probiert. Er war der Meinung alles schaffen zu können und sein Grundsatz war: Geht nicht gibt´s nicht. Er dachte, daß man sich nicht einfach hängen lassen und aufhören kann, auch wenn man verwundet in einem fremden, einsamen, dunklen Land ist.
Er schaffte es nie ganz nach oben aber er hatte genug Erfolg um ein angenehmes Leben führen zu können. Die Menschen liebten ihn und Pudd genoß den Erfolg. Er lernte ein Mädchen kennen und heiratete sie. Nicht daß er so etwas wie Liebe verspürte. Er war der Meinung, daß es richtig sei, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie großzuziehen und der Welt etwas sinnvolles zu hinterlassen. Etwas, das so war wie er. In gleichem Sinne und in gleichem Geist von ihm erzogen und gebildet. Etwas das der Theorie der Welt, ihren Denkern und selbstverliebten Schöngeistern etwas sinnvolles und praktisches entgegenzusetzen hat. Das Wissen, welches in der Schule vermittelt wurde, nahm er noch als unabdingbar hin, aber die weitere Erziehung und Bildung nahm Pudd selbst in die Hände. Seine Kinder Erfuhren die Tricks und Betrügereien des Showgeschäftes, die Lügen und Unwahrheiten. Sie lernten, das Recht nach ihren Regeln auszulegen, Institutionen mit den eigenen Waffen zu schlagen, Geld zu verschieben, Menschen zu manipulieren, Abhängige und Abhängigkeiten zu schaffen, immer auf ihren Vorteil bedacht zu sein, nie nachzugeben, nie zuzugeben, nie einzugestehen. Sie wurden fehlerfrei, perfekt, unvergleichlich und damit ganz nach Pudd´s Sinne. Er nahm sie dafür nicht in den Arm und er lobte sie auch nicht, denn Schwäche und Sentimentalitäten hatte Pudd sich nie zugestanden. Er war der Meinung, Erfolg belohne den Tüchtigen ausreichend. Er gestaltete sein Leben und das seiner Familie nach der Werbeidylle des Privatfernsehens, aber seine Frau seine Kinder standen am Rande seines Lebens.
Seine Frau gehorchte Pudd. Sie liebte ihn und betete ihn an. Ihre hündische Unterwürfigkeit und Devotion bemerkte er nicht, denn ihr Verhalten war richtig für ihn. Er konnte die Männer nicht verstehen, denen die Frauen auf den Nasen herumtanzten, die ihren eigenen Vorstellungen folgten, ihre eigenen Wege gingen. Seine Frau war für ihn da. Tat er nicht alles für sie ? Kaufte er ihr nicht alles? Konnte sie nicht alles von ihm haben? Pudd war zufrieden mit seiner Frau, die ihm jede Aufgabe, jede Arbeit um ihn herum abnahm. Sie sah Pudd´s Wünsche und Gedanken voraus, beobachtete ihn ständig um ihm jederzeit zu Willen zu sein und die Dinge für ihn zu erledigen, die im nächsten Moment von ihm gewünscht sein konnten. Sie war perfekt und sie war praktisch. Sie funktionierte so, wie Pudd es als richtig empfand. Seine Frau und seine Kinder waren in Pudd´s Leben vorhanden. Sie waren einfach da, um benutzt zu werden. So benutzt zu werden, wie Pudd es für richtig hielt. Ihre eigenen Wünsche und Träume zählten nicht, denn Pudd wußte intuitiv und tief in seinem Inneren, was gut für seine Familie ist. Er brauchte nicht zu fragen und sie brauchten nichts zu sagen. Sie waren aufgeregte Statisten und gleichzeitig gelangweilte Zuschauer für das Bühnenstück "Pudd", unfähig in das Geschehen ihres Bühnenlebens einzugreifen liebten sie Pudd, aber Pudd nahm sie nur als Schatten in einer Schattenwelt war. Sie waren nicht real vorhanden mir ihren Ängsten, Sorgen, Nöten. Ihre Liebe und Ihr Haß drangen nicht aus dieser Schattenwelt zu Pudd. Irgendwo auf dem Weg verließen sie ihn. Einer nach dem anderen verschwanden sie im dunklen der anderen Seite. Still und ungehört, ungesehen und undankbar.

Pudd kaufte Autos, Wohnungen, Frauen. Er dachte inzwischen, mit Geld alles kaufen zu können und hatte sich daran gewöhnt. Er ging seinen Weg, weil jeder seinen Weg gehen muß. Jeder muß irgendwohin gehen und Pudd ging vorwärts.
Schon lange dachte Pudd, alle Menschen gehörten ihm wie Dinge. Alle Menschen seien sein Eigentum, von seiner Gnade und seinem Befinden abhängig. Abhängig wie der Kamerad, der sein Leben Pudd´s Einsatz verdankte. Der Kamerad, der sich nie bedankte, weil er vielleicht gar nicht gerettet werden wollte.
Am Anfang ließen die Menschen ihn nicht spüren, daß sie nicht käuflich waren, das es nur ihre Arbeitskraft, ihr Wissen, ihr Können war, das er gegen Geld geliehen hatte. Sie zeigten Respekt vor Pudd Rathel, aber Dankbarkeit zeigten sie nie, denn gekaufte Menschen kennen keine Dankbarkeit.
Mit der Zeit verlor Pudd das Gefühl für die Menschen und die Achtung vor ihnen. Er hielt ihre Eigenständigkeit für Ablehnung, ihre Individualität für Auflehnung. Ihre Hingabe an ihn und an das Geschäft für Schwäche. Er glaubte, die Abhängigkeit der Menschen vom Leben und ihrem Schicksal sei eine Abhängigkeit von ihm, von seinem Willen, von seinen Ideen und Eingebungen, seiner Willenskraft.
Seine egoistische egozentrische Egomanie nahmen in dem Maße zu, in welchem die Menschen um ihn herum begannen, sich abzuwenden um ihre eigenen Wege zu gehen.
Das Gefühl fehlender Kontrolle, welches der mangelnden Beherrschung einer Situation voranging, machte ihn Aggressiv und brachte ihn dazu, die Menschen zu verachten, sie als minderwertig, als unter ihm stehend zu betrachten. Er versuchte auf die einzige Art und Weise, die er kannte, Menschen fester an sich zu binden, sie ihre vermeintliche Abhängigkeit spüren zu lassen, indem er zahlte, kaufte, Geld gab.
Aber je mehr er zahlte, je mehr er kaufte, desto mehr Abstand nahmen die Menschen. Sie waren nicht um ihrer Seelen willen käuflich. Sie hatten Grenzen, und Pudd überschritt diese Grenzen. Sie verließen seinen Kreis einer nach dem anderen.
Dann versuchte er es mit Macht. Seine Verbindungen im Showgeschäft nutzte er, um unliebsam gewordene aus dem Geschäft zu drängen, Positionen zu verteilen und Protegés zu fördern. Aber das brachte die Menschen nur dazu untereinander solidarisch zu werden. Sie blieben in Verbindung, suchten neue Stars, neue Bühnen, neue Shows und ließen Pudd schnell in Vergessenheit zurück.

Pudd Rathel griff nach dem Kanister und goß nach.
Das Licht der Kerze war flackernd, schaukelnd, ungewiß. Es flackerte durch den Raum wie ein blau-gelber Schmetterling, der nicht weiß, auf welcher Blume er sich niederlassen soll. Es hätte längst verlöscht sein müssen, aber es ging nicht aus. Es wehrte sich gegen das verlöschen, gegen das versinken. Es kämpfte gegen das unausweichliche Ende, wenn alles Wachs, das es nährt, aufgebraucht und verbrannt ist.
Pudd griff nach dem vollen Glas, trank es aus und goß sich noch eines ein. Dann stellte er die inzwischen leere Bierflasche nach unten zu den anderen auf den Dielenboden und nahm sich die nächste Flasche aus dem blauen Pappkarton. Mit einem Dreh öffnete er die Flasche und der Kronkorken rollte über den Tisch in eine Lache aus Wachs, die wie eine tastende Zunge von der Kerze wegfloß.

Alle Menschen, die seinen Lebensweg kreuzten, hatten Pudd verlassen und dieser Umstand bestätigte ihn in seiner Ansicht, alleine auf der Welt zu sein und eine helfende Hand nur am Ende seines eigenen Armes zu finden. Pudd entfernte sich von den Menschen und die Menschen entfernten sich von ihm.
Sein Team fiel auseinander, seine Erfolge ließen nach und Schuld waren die Menschen um ihn herum. Er zog sich von der Gesellschaft zurück aber die Gesellschaft kümmerte es nicht. Sie vergaß Pudd, sie vergaß seine Erfolge, sein Geld, seine Macht. Die Menschen, die sich einmal von ihm abgewendet hatten, kamen nicht zurück. Sie dankten ihm nichts, denn es gab nichts zu danken.

Pudd zog sich zurück in die innere Immigration. Er verachtete die Menschen, die sich nicht mehr von ihm manipulieren und beherrschen ließen, hielt sie für schwach und nachgiebig. Er wurde zynisch, ungerecht, herrschsüchtig und ausfallend gegen alle und jeden.
Er verlor seine Engagements. Seine Auftritte wurden immer weniger und irgendwann schrieb ihm sein Manager nicht mehr. Sein Vermögen schrumpfte und neue Engagements waren nicht mehr in Sicht. Die Menschen hatten sich von Pudd distanziert. Sie wollten nicht mehr mit ihm, unter ihm oder neben ihm arbeiten. Sie hatten sich längst andere Partner, andere Menschen gesucht.
Pudd verabscheute sie. Hatten sie nicht durch ihn -und nur durch ihn- Geld verdient, gut gelebt, sich alles leisten können ? War er nicht ihr Freund gewesen, hatte sie unterstützt, ihnen geholfen ? Sie hatten ihm gefälligst dankbar zu sein. Jeden verdammten Tag ihres Lebens hatten sie ihm auf Knien zu danken für alles, was er für sie getan hatte !

Pudd hatte schon vor Jahren diese kleine Jagdhütte in Kanada gekauft und es war alles, was ihm an Besitz geblieben war. Hierher zog sich hier verbittert von der Welt, die er so verachtete, zurück. Von der Welt, die soviel schlechter war als Pudd Rathel´s Welt. Hier saß er an seinem Holztisch, trank sein Bier und Schnaps aus weißen Plastikkanistern und dachte nach über das Leben, über die Menschen, die sein Leben gesäumt hatten ohne Spuren zu hinterlassen. Er sinnierte über die unzähligen verpaßten Chancen und Gelegenheiten, die vielen ungenutzten Momente, die Situationen und Entscheidungen, die Lebenskreuzungen, die sein Leben hätten in anderen Bahnen verlaufen lassen. Bahnen, die in andere Richtungen und zu anderen Zielen geführt hätten. Pudd dachte nach über die nie ausgesprochenen Worte, die nie geklärten Mißverständnisse und die unerledigten Streitereien. Er dachte nach über die Ungerechtigkeit der Menschen und ihre Selbstsucht. Er dachte daran, wie sehr er in seinem Leben unter der Undankbarkeit der Menschen gelitten hatte.

Es schneite immer noch leise vor den Fenstern der kleinen Holzhütte. Draußen knarrte und quietsche das schief in den Angeln hängende Tor zur Straße leise wimmernd im Schneetreiben. Das alte Tor war immer geschlossen gewesen, um andere fern zu halten. Es war die Grenze zur realen Welt, zu denen da draußen, zu den Menschen. Pudd weigerte sich, diese Grenze zu übertreten. Nie berührte er das Tor, nie öffnete oder schloß er es. Das Tor bewachte Pudd und seine Gedanken.
Die alte Mrs. White und die Polizisten waren die einzigen, die es manchmal öffneten und schlossen. Der Wind hatte das Tor aus dem Riegel gehoben und es öffnete schwankend abwechselnd schmale und breite Löcher ins dunkle Nichts.

Das Feuer im Ofen war nahezu heruntergebrannt und warf sein sterbendes Licht auf die Wände des kleinen Raumes. Der Docht der Kerze schwamm jetzt in den Resten des flüssigen Wachses und nur noch eine winzige Spitze ragte heraus. Das unregelmäßig flackernde Licht der kleinen bläulichen Flamme war gerade noch stark genug, die wenigen Dinge auf dem Tisch gespenstisch zu berühren.
Langsam kroch die Dunkelheit in den Raum und bedeckte Zentimeter für Zentimeter, nahm sich still und unhörbar Stück für Stück. Die Wände, den Herd, die Spüle, die Küchenschränke, den Gewehrschrank, selbst den gußeisernen Ofen mit seinem sterbenden Feuer.
Pudd erschien es, als würde die Welt um ihn herum aufgefressen und es war nur eine Frage der Zeit, wann die Dunkelheit auch ihn erreichte, begann, ihn aufzufressen wie das fürchterliche knisternde Fressen des Kerzenrestes vor ihm auf dem Holztisch. Dann erlosch die Kerze, der Docht sank in das Wachs zurück und mit einem zischenden Laut erstarb der letzte blaue Funke und doch blieb es hell.

Dieses Leben ist nicht mein Leben, dachte Pudd. Ich muß dieses Leben auf dieser Bühne spielen und bisher habe ich schlecht gespielt.
Er trank das Schnapsglas aus, stellte es ruhig neben der Bierflasche ab und griff nach einer der beiden Automatikwaffen auf dem Tisch. Er faßte den Schlitten von oben und zog ihn zurück. Pudd hörte das metallische Geräusch, als die Patrone von der Feder des Magazins in die Kammer gedrückt wurde. Dann ließ er den Schlitten los und die Patrone schob sich mit einem arretierenden, kalten, metallischen Laut in den Lauf.

Erschienen auch als elektronisches Buch unter Palmbyte.deKeno tom Brooks, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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