Enno Ahrens

Der verflixte Glücksbringer

Ausgerechnet das unscheinbarste Teil, was meine Urgroßmutter hinterlassen hatte, eine Buddhafigur aus wertlosem Plastik, nicht größer als eine Babyfaust, gab immer wieder Anlass zu Streitigkeiten zwischen Urgroßmutters Töchtern, meiner Oma Else und deren Schwester Adele, meiner Großtante also. Die beiden um die siebzig Jahre alten Damen schrieben der Figur einen besonderen magischen Wert zu. Ihre Mutter hatte den Buddha stets als Glücksbringer eng am Körper mit sich getragen, ihn dreimal täglich gestreichelt, und ihr Leben war glücklich verlaufen.
 
Oma hatte sich sogleich nach dem Verscheiden ihrer Mutter vor zehn Jahren das winzige Erbe zu eigen gemacht, wodurch sie sich allein dadurch berechtigt gefühlt hatte, weil sie die ältere der beiden Töchter war. Großtante Adele war allerdings nicht einverstanden gewesen und hatte sich nie ganz damit abgefunden. Denn hatte Oma mal Glück und Adele war unglücklich oder bildete es sich ein, führte sie es natürlich darauf zurück, weil ihr dieser Buddha nicht zur Verfügung stand.
 
Ich wohnte mit im Hause meiner Oma. Samstags war immer ihr Badetag und Adele war gerade wieder bei uns zu Besuch. Oma plätscherte in der Wanne herum, während meine Großtante auf den kleinen Buddha zu sprechen kam. „Ja, Tante Adele“, sagte ich, „gerecht wäre es, wenn Oma dir den Glücksbringer auch mal überlassen würde. An deiner Stelle hätte ich ihn mir einfach mal heimlich ausgeliehen. Jetzt zum Beispiel wäre so eine Gelegenheit, wo Oma in der Wanne sitzt.“
 
Ich ging kurz in die Küche. Prompt sah ich aus dem Fenster meine Großtante geschwind zu ihrem Auto zu huschen, mit dem sie eilig davonbrauste. Ein wenig später stolperte Oma völlig aufgelöst aus ihrem Schlafzimmer, in welchem sie sich jedes Mal umgezogen hatte.
 
„Enno, Enno, mein Junge, hilf mir! Ich bin bestohlen worden. Man hat mir mein Buddhachen geraubt.“ „Nun beruhige dich doch erst mal, Oma“, warf ich beschwörend ein. „Vielleicht ist er aus deiner Weste herausgefallen, als du sie über den Stuhl gehängt hast.“ „Nein, nein. Ich habe doch alles abgesucht, unterm Bett, unterm Schrank, ja überall“, stammelte sie. „Wo ist Adele?“ fragte sie schroff. Ich erwiderte: „Die hatte es plötzlich eilig. Vielleicht will sie noch etwas besorgen.“ „Etwas besorgen, von wegen. Sie hat meinen Buddha geklaut. Ja, sie war es. Außer dir war doch keiner im Hause. Du wirst ihn doch nicht haben, oder?“ „Nein, natürlich nicht, Oma.“ „Also war sie es. Sofort muss die Polizei kommen.“
 
„Aber so beruhige dich doch, Oma. Vielleicht wollte Adele sich deinen Glücksbringer nur vorübergehend ausleihen.“ „Ja, dann hätte sie mich ja fragen können.“ „Nun, das hat sie ja ständig, seit zehn Jahren.“ „Das ist egal. Diebstahl ist Diebstahl, und wir müssen die Polizei holen.“ „Aber gibt es denn keine andere Lösung? Im Grunde versteht ihr euch doch gut, und das wäre das Ende eurer Familienbande.“ „Ja schon, aber sie hat es ja so gewollt.“ Oma tat mir leid und ich kam auf eine Idee, wie ich den Buddha zurückgewinnen wollte. „Gib mir eine Stunde Zeit. Wenn ich bis dahin keine akzeptable Lösung gefunden habe, kannst du immer noch die Polizei holen.“ „Na gut“, seufzte Oma, „aber nur eine Stunde.“
 
Ich raste mit meinem Auto zum Trödler. Es war kurz vor Geschäftsschluss. In der Auslage standen eine Menge Buddhaskulpturen. Und ich hatte Glück. Zwei mussten aus der gleichen Baureihe stammen, wie Oma ihrer. Sie waren identisch, alles war gleich, bis auf die unscheinbare kleine Signatur unterm Boden. Ich nahm beide mit, denn man weiß ja nie, wofür so ein zweiter Buddha gut sein kann.
                                                                                                                                           
Oma erwartete mich schon gespannt. Ich hätte ihr natürlich einen der Buddhas geben und ihr sagen können, es wäre ihrer und ich hätte ihn auf dem Hof gefunden. Aber sie hatte ein Bekanntschaftsverhältnis zu dem Trödler, und die Sache wäre wohl aufgeflogen. Ich hatte auch was Besseres im Sinn und zog einen der Buddhas aus meiner Hosentasche. „Da ist er ja“, rief Oma laut. „Hat Adele, diese Hexe, ihn also wieder rausgerückt?!“ „Nein“, wendete ich ein, „diesen hier hab’ ich vom Trödler.“ „Das kannst du vergessen. Der ist kein Ersatz für meinen echten, den will ich nicht. Mit dem falschen da kann ich nichts anfangen!“
 
„Ja, ja, Oma, du sollst auch deinen echten wiederhaben. Und ich mache dir folgenden Vorschlag. Wir erzählen der Verwandtschaft, dass ein Dieb dir einen falschen, als Köder ausgelegten Buddha geklaut habe, den du leicht zugänglich in die Seitentasche deiner Weste gesteckt hättest, während du den echten in der kleinen versteckten Innentasche verborgen hieltest. Denn weil dir in letzter Zeit so viele Leute dein Glück missgönnten und du damit rechnen musstest, dass man dir deinen Glücksbringer stehlen würde, hättest du eben diese List angewandt, und wärst froh, dass der dumme Dieb darauf reingefallen sei. Was meinst du, wie es deiner Schwester Adele wurmen wird, und sie erscheint gewiss zum nächsten Badetag, um ihren vermeintlichen Fehler wettzumachen.“
                   
Den Buddha vom Trödler steckte Oma in die kleine Innentasche ihrer Weste und tat so, als wenn sie im Bad wäre, schlich sich aber durch den Flur und wir blickten abwechselnd durchs Schlüsselloch in ihr Schlafzimmer. Wir hatten den Schlüssel abgezogen und den Stuhl mit der Weste darüber so gestellt, dass wir alles beobachten konnten. Oma war außer sich vor Freude und Genugtuung, weil Tante Adele auf unseren Bluff einging und den vermeintlich echten Buddha aus der Weste gegen den gestohlenen von Großmutter eintauschte. Aber ich flüsterte Oma zu: „Verspreche mir aber bitte, dass du der guten Adele nichts verrätst. Sie ist mit ihrem falschen Buddha ja nun bestraft genug. Und lassen wir sie im Glauben, sie hätte den echten. So soll sie glücklich werden, und mit einem Schlag sind alle Zwistigkeiten um diesen blöden Glücksbringer aus der Welt.“ „Ja, ist schon gut. Junge. Ich verspreche dir, nichts zu sagen.“
 
Abends saßen wir dann glücklich beisammen. Es war ein Idyll, wie wir es seit zehn Jahren nicht mehr gekannt hatten. Die beiden alten Damen hatten ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen und einen unbeschreiblichen Glanz in den Augen.
                                                                     
Ein viertel Jahr später brannte mein Auto aus, weil die elektrische Anlage defekt war; den Wagen hatte ich kurz zuvor von Privat gekauft gehabt und keine Garantie darauf. Frustriert schlenderte ich heim, schlich geknickt durch den Flur, wo mir schrille Frauenstimmen aus der geschlossenen Stubentür entgegentönten. Ich schaute in den Spiegel an der Garderobe. Ja, ich sah schon aus wie ein richtiger Pechvogel, um Jahre gealtert, das Gesicht noch schwarz vom Rauch und die Kleidung verschmiert mit Motorenöl. Die Stimmen aus dem Wohnzimmer überschlugen sich immer heftiger. Großtante Adele schimpfte: „Ihr habt mir ein falsches Ei untergeschoben?! Dass ich nicht lache.“ „Ja“, bellte Oma, „wenn du es nicht glauben willst, frag’ doch meinen Enkel.“
 
Ich öffnete die Tür. Adele keifte mich sofort an: „Habt ihr mir das wirklich angetan, das mit dem falschen Buddha?“ Doch plötzlich hielt sie inne und die beiden schauten mich entsetzt an. Oma fragte: „Was ist denn mit dir passiert?“ „Nun, ich habe Pech gehabt, mein Wagen ist ausgebrannt.“ „Um Gottes willen, bist du auch nicht verletzt?“ sagten beide wie aus einem Munde. In Notfällen hält meine Verwandtschaft zusammen. „Nein, nein“, beteuerte ich, „aber was den echten Buddha anbetrifft, da muss ich euch beide enttäuschen, denn den hab’ ich nämlich seit einem viertel Jahr“, und zog ihn aus meiner Tasche.
 
Oma glotzte mich eine Zeit lang zornig und verdutzt an, fingerte aufgeregt den zweiten Buddha vom Trödler, den ich ihr heimlich in die Weste gesteckt gehabt hatte, hervor und betrachtete ihn ungläubig, während Adele zufrieden grinste, sich dann aber äußerte: „Nun, liebe Else, offenbar ist es ganz gut so, dass keine von uns beiden den echten Buddha gehabt hat, sonst hätte jetzt wohl eine von uns einen ausgebrannten Wagen, und würde genauso dämlich dreinschauen wie dein lieber Enkel Enno.“ „Ja, ja, da hast du wohl recht, Adele. Bisher hatte der Buddha zwar immer Glück gebracht, aber jetzt will er unsere Familie sicher für dies hin und her, was wir mit ihm getrieben haben, bestrafen. Und wenn ich es recht bedenke, haben wir mit unseren Imitaten eigentlich die friedlichste Zeit seit dem Tode unserer Mutter verbracht.“
 
Adele nickte: „Ja, ja, und so soll es auch bleiben!“ Ich schaltete mich ins Gespräch: „Soll das etwa bedeuten, ihr würdet auf den echten Buddha verzichten?“ „Ja, ja“, waren sie sich einig. Und ich tat das, was man vor zehn Jahren versäumt hatte. Ich warf den verflixten Glücksbringer auf den Müll.  
 
*

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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