Gönna Dasouki

Blutsbande



Schon als er die letzte Treppe zu seinem geheimen Liebesnest hinaufstieg, sah er, dass Sarah die Wohnungstür nur angelehnt hatte. Sie konnte es nicht erwarten, dass er kam, überlegte er und schon bei diesem Gedanken überkam ihn ein erregender Schauer. Eilig beendete er sein kurzes und geflüstertes Telefonat und ließ sein Handy in die linke Jackentasche gleiten. Er schob mit einem Lächeln auf den Lippen die Tür auf und trat in den Wohnungsflur. Wie aus dem Nichts kam sie auf ihn zugestürzt und sprang in seine Arme. Ihre schlanken gebräunten Arme warfen sich um seine breiten Schultern und ihre endlos langen Beine schlangen sich um seine Hüften. Ihre vollen Lippen pressten sich auf seine, während er mit seinen großen Händen ihren schmalen Rücken hinab glitt und auf ihrem festen kleinen Hintern verweilten. Er spürte, dass sie unter ihrem schwarzen Negligé keinen Schlüpfer trug. Sofort wurde sein Penis hart und steif. Seine Hände massierten gierig ihren Hintern, während sie kleine leise Seufzer von sich gab.
„Lass mich doch erst mal richtig reinkommen“, rief er schließlich lachend, während ihre Beine noch immer seine Hüfte umklammerten. „Draußen hat´s geregnet“, fuhr er mit rauer Stimme fort, „ich muss die nassen Sachen ausziehen“.
„Warum?“ hauchte sie stöhnend. „Mach einfach die Hose auf und wir treibens jetzt sofort hier im Flur“, raunte sie lächelnd und ließ ihre Beine langsam an seiner nassen Lederjacke hinab gleiten, bis ihre Füße wieder festen Boden unter sich hatten. Er mochte es, wenn sie so redete und sie wusste es. Seine Erregung stieg fast ins unermessliche. Sie war genau sein Typ. Lange blonde Haare, ein schlanker fester Körper und offen und aggressiv in ihrer Sexualität – und sie
legte keinen Wert auf eine feste Bindung oder
irgendwelche Verpflichtungen, weil sie
verheiratet war. Mit einem ständig beschäftigten Mann, der auch noch zwanzig Jahre älter war als sie, der ihr aber viel Geld und gesellschaftliches Ansehen bot. Perfekt für Jack. Wieder einmal hatte er sich genau die richtige ausgesucht, um seine sexuellen Phantasien auszuleben ohne dabei seine Ehe und seinen beruflichen Status zu riskieren.



Viele Kilometer weit entfernt von der Wohnung in der Jack Delaney gerade sein Schäferstündchen abhielt, hörte ein Telefon nicht auf zu klingeln. Doch erst nach dem zwanzigsten Klingeln wurde der Hörer schwerfällig und unwillig abgehoben. Am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand. Es waren nur Stimmen zu hören. Stimmen, ein Rascheln, das sich anhörte wie von Kleidungsstücken. Alles klang dumpf und undeutlich. Man musste sich konzentrieren, um die Worte zu verstehen. Doch um wessen Stimme es sich bei dem Anrufer handelte, war sofort klar. Es war eindeutig Jack Delaneys Stimme und dann war da noch die Stimme einer Frau. „Sarah, du scharfes Luder kannst es kaum abwarten, was?“ war Jack zu hören. Sein Atem war schnaufend, seine Stimme angestrengt. Es folgte ein gackerndes Lachen. „Na komm schon, Jack“, erwiderte die Frauenstimme heiser, „besorg´s mir, jetzt hier und sofort“. Stöhnen schwoll durch die Hörmuschel, es wurde immer lauter und drängender. Dann schien das Pärchen sich in einen anderen Raum zu bewegen. Schwerfällige Schritte waren zu hören. Es folgten ein spitzer kleiner Schrei und ein noch lauteres Stöhnen. Einer von beiden fiel auf etwas Weiches. Dann wurde das Rascheln lauter und übertönte die Stimmen fast ganz. Aber es wurde inzwischen auch nicht mehr gesprochen sondern nur noch ekstatisch gestöhnt. Jack und die Frau stöhnten lauter und wilder, fast hörte es sich tierisch an. Plötzlich knackte es in der Leitung und die Verbindung war abgebrochen. Aber das war egal. Das Gehörte reichte vollkommen aus. Die Todesliste hatte sich um eine weitere Person verlängert. Langsam und lautlos wurde der Hörer des Telefons auf die Gabel zurückgelegt und das gedämpfte Nachtlicht im Zimmer gelöscht.


Ein Mann wie Jack Delaney brauchte Frau und Karriere ebenso wie endlose Sexaffären mit namenlosen Frauen, um seinem Alltag einen Hauch von Abenteuer und Aufregung zu geben. Bis jetzt hatte er immer genau den richtigen Riecher gehabt, welche Frau für letzteres zu haben war ohne ihm Probleme zu machen. Bis auf die Letzte. Diese Penny hatte sich als Klette erwiesen. Im Bett war sie eine Rakete, aber leider redete sie zuviel und hatte allen Ernstes geglaubt, er würde seine Frau verlassen, um mit ihr zusammen zu sein. Was für ein lächerlicher Gedanke! Seiner Frau gehörte das größte private Bankhaus der Stadt. Sie hatte es als einziges Kind von ihrem Vater nach dessen Tod geerbt. Da seine Frau mit dem Bankgeschäft absolut nichts am Hut hatte, überließ sie alle Geschäfte ihm, denn er arbeitete bereits seit über zehn Jahren in diesem Geschäft und kannte alle Tricks und Kniffe in- und auswendig.

Als er vor zwei Jahren in der Privatbank Lombard & Groming anfing, war Jack Delaney vierunddreißig Jahre alt. Er war athletisch gebaut und groß gewachsen. Sein schwarzes Haar glänzte in der Sonne wie Lakritz, und seine stahlblauen Augen bildeten einen perfekten Kontrast dazu. Er war ein Frauentyp. Einer, bei dem sogar eher schüchterne Frauen nicht umhin konnten, ein zweites Mal hinzusehen. Sein Lächeln war atemberaubend und sein Verstand hellwach. Er hatte immer gewusst, wann er wie mit wem reden musste. Mit wem er sich gut stellen musste und wen er leicht zum Werkzeug für eigene Interessen machen konnte. Schon nach kurzer Zeit hatte er durch Klatsch und Tratsch im Büro herausgefunden, dass der oberste Boss, Jeremiah Lombard, herzkrank war, während sein früherer Partner Sam Groming bereits vor Jacks Einstellung an einem Schlaganfall verstorben war, nicht aber bevor er seinem Partner so viele Anteile an der gemeinsamen Bank verkauft hatte, dass dieser mit einundfünfzig Prozent die Majorität besaß. Außerdem hatte Jack erfahren, dass Jeremiah Lombard verwitwet war und nur ein einziges Kind hatte. Zu Jacks größter Freude keinen Sohn sondern eine Tochter – eine erwachsene unverheiratete Tochter! Louise Lombard war zu diesem Zeitpunkt dreiundzwanzig Jahre alt. Sie war erst vor wenigen Jahren aus einem entfernt gelegenen Internat nach Creek County zurückgekehrt und beschäftigte sich ausschließlich mit Kunst. Sie wohnte in einem Haus am Stadtrand, das ihr Vater ihr nach der Rückkehr gekauft hatte. Warum Louise nicht im riesigen Anwesen ihres Vaters lebte, wusste Jack zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Louise Lombard war weder schön noch hässlich. Ein Mädchen wie sie hätte Jack normalerweise nicht einmal wahrgenommen – wenn sie nicht die einzige Tochter seines herzkranken Chefs gewesen wäre. Leider kam sie nur äußerst selten ihren Vater in der Bank besuchen. Und wenn, dann machte sie immer einen leicht abwesenden Eindruck wie sie durch die Gänge schwebte mit einem Haufen Kunstbücher unter dem Arm und der! wilden braunen Lockenmähne, die ihr Gesicht so gut wie verdeckte. Wenn Jeremiah Lombard seiner Tochter nachblickte, erkannte Jack in seinen Augen so etwas wie Besorgnis und Weichheit, Eigenschaften, die diesem knallharten Geschäftsmann ansonsten völlig fremd zu sein schienen.
„Das ist also dein schwacher Punkt“, hatte Jack grinsend vor sich hin geflüstert, während er seinen Chef heimlich beobachtete, als er seine Tochter nach einem ihrer seltenen Besuche verabschiedete. Das Raubtier hatte die Schwachstelle seines Opfers gewittert. Die Jagd war eröffnet!




Gut gelaunt und mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen betrat Jack Delaney am Morgen nach seiner aufregenden Liebesnacht die Bank. Er grüßte Mitarbeiter, von denen er weder die Vornamen noch irgendetwas anderes aus ihrem Leben wusste. Es interessierte ihn auch nicht, solange sie ihre Arbeit zu seiner Zufriedenheit verrichteten und ihn nicht mit Inkompetenz nervten. Er passierte den Tisch einer Kreditkonten Sachbearbeiterin und blieb vor einem riesigen Blumenstrauß stehen, der ihren Schreibtisch zierte. Tief sog er den Duft der bunten Frühlingsblumen ein und hielt dabei sekundenlang die Augen geschlossen. „Ich liebe den Duft des Frühlings“, schwärmte er und zwinkerte der jungen Dame dabei schelmisch zu. „Ich wette, der ist von einem Ihrer zahllosen Verehrer“, fügte er in gespielter Eifersucht hinzu. Die Kleine war süß. Sie war ihm schon ab und zu ins Auge gefallen. Genau sein Typ. Etwa Mitte zwanzig, groß, blond und gertenschlank. Leider furchtbar schüchtern. Sie lief jedes Mal knallrot an, wenn er sie ansprach oder ihr lobend über die Schulter strich.
„Aber Mister Delaney“, erwiderte sie leicht verwirrt, „die sind doch von Ihnen und Mister Groming… zum Geburtstag“. Jack schaltete blitzschnell. „Natürlich, ich weiß“, spielte er den Schelm, „ich hab doch gesagt, dass die Blumen von einem Ihrer zahllosen Verehrer sind“. Er grinste zweideutig und zeigte stumm auf sich selbst. Noch einmal zwinkerte er ihr zu und verschwand fröhlich vor sich hin pfeifend in seinem Büro. Er ließ sich in seinen Sessel fallen und lachte kurz auf. „Saubermann Henry denkt aber auch an alles“, sagte er zu sich selbst und schüttelte spöttisch mit dem Kopf. Zufrieden lehnte er sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück und drehte diesen zum Fenster hin. Der Ausblick aus seinem Büro, dem ehemaligen Büro des alten Lombard, faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Man konnte von hier oben aus dem zehnten Stock die ganze Kleinstadt überblicken. Jack liebte dieses verspießte, konservative Nest inzwischen richtig. Denn er war jetzt der König der Stadt. Als er vor zwei Jahren hierher kam, hätte er sich nie vorstellen können, länger als ein paar Monate zu bleiben. Er war bis zu jener Anstellung bei Lombard & Groming eher eine Art Vagabund auf hohem Niveau gewesen. Von New York bis Los Angeles war er durchs Land gezogen, hatte sich mit seinen Fachkenntnissen über das Bankgeschäft jedes Mal eine bessere Position geangelt. Aber immer, wenn er merkte, dass es mit seiner Karriere nicht mehr schnell genug voran ging in der Bank, in der er gerade tätig war, hatte er sich nach etwas Neuem umgeschaut. Er hatte viele Kontakte geknüpft und war sogar das eine oder andere Mal von einem Headhunter vermittelt worden. Doch egal, wie gerissen, fleißig und kaltblütig er sich angestellt hatte, irgendwann geriet er an einen Vorgesetzten, den er nicht überholen konnte. Sei es, weil der oberste Chef zu loyal gegenüber langjährigen Mitarbeitern war oder weil es sich um irgendeinen familiären Klüngel handelte. Doch bei Lombard & Groming stand ihm n! ichts im Weg. Ganz im Gegenteil. Jeremiah Lombard war nach Gromings Tod alleiniger Herrscher der Bank. Er mochte Jack und förderte ihn – und er hatte eine verhuschte Tochter, die nötig unter die Haube musste!
Anfänglich glaubte Jack noch in Henry Groming, dem Neffen des verstorbenen Partners seines Schwiegervaters, einen ernsthaften Konkurrenten um die höchste Machtposition zu haben. Es gab zwischen Jeremiah Lombard und Sam Groming einen Vertrag, dass angestellte Familienmitglieder, die noch dazu eine Führungsposition einnahmen, absolut unkündbar waren, es sei denn, sie fügten der Bank absichtlich schweren finanziellen oder Imageschaden zu. Henry erfüllte seine Aufgaben aber so pflichtbewusst und integer, dass Jack ihm bisher leider keines von beiden unterschieben konnte. Jack war gerissener und kaltblütiger in seinen Geschäftspraktiken, außerdem hatte er durch schmutzige kleine Geheimnisse, die er sich regelmäßig zutragen ließ, einige der wichtigsten Geschäftspartner von Lombard & Groming fest in der Hand, denn auch für Jack galt diese Klausel, sollte er sich etwas zu Schulden kommen lassen. Ausgerechnet Henry würde dann seinen Posten übernehmen können. Henrys Ehrgeiz hatte sich bisher aber immer nur darauf beschränkt, den Aufgabenbereich, den sein Onkel ihm einst anvertraut hatte, fehlerlos und kompetent auszufüllen. Er schielte nicht nach Jacks Chefposten. Natürlich vermutete Jack darin nur Henrys Angst vor einem Machtkampf mit ihm. Andere Motive konnte jemand wie Jack sich nicht denken. Aber dennoch hatte er Henry lange Zeit als Bedrohung empfunden. Und zwar wenn es um Louise ging. Henry und Louise kannten sich seit ihrer Kindheit. Da Henrys Eltern kurz nacheinander an Krebs verstorben waren, wuchs der schmale blasse, damals siebenjährige Henry bei seinem Onkel Sam und dessen Frau Eileen auf. Die beiden hatten keine eigenen Kinder und so wurde Henry eine Art Ersatzsohn. Wie Jack von seinem Schwiegervater einmal bei einem Gespräch über alte Zeiten erfahren hatte, war Henry ein ruhiger, häufig kränkelnder Junge, der aber mit einem hellen Verstand gesegnet war. Ohne groß aufzufallen hatte er seinem Onkel jahrelang in der Bank über die Schulter geschaut und dabei dessen Wissen in sich aufgesogen wie ein Schwa! mm. Sam Groming selbst war manchmal überrascht über die Auffassungsgabe des Jungen, die ihm immer erst klar wurde, wenn er Henry eine Aufgabe übertrug, die dieser dann besser löste, als er je erwartet hatte. Sam Groming liebte Henry, auch wenn er sich manchmal Sorgen über seinen Mangel an geschäftlichem Kampfgeist machte. Aber er nahm ihn zu jedem Besuch im Hause Lombard mit und so befreundeten sich Henry und Louise, die beide als Einzelkinder aufwuchsen. Wie Jack von Jeremiah wusste, hatten die zwei eine fest verschweißte Kinderfreundschaft. Sie bauten im Garten der Lombards gemeinsam ein Baumhaus, in dem sie sich alle ihre kleinen Kindergeheimnisse anvertrauten unter dem festen Schwur, den Erwachsenen nie davon zu erzählen. Als Jack an diese Erzählungen seines Schwiegervaters dachte, stieß er ein verächtliches Schnaufen aus. Die beiden Kinder hatten für ihr Baumhaus den Baum ausgewählt, unter dem Jeremiah einst seiner Frau Helen den Heiratsantrag gemacht hatte. Es war ein Apfelbaum, den Helens Vater gepflanzt hatte, nachdem er das Haus gekauft hatte. Er hatte das herrschaftliche Haus sowie die von ihm einst gegründete Bank seiner Tochter Helen vermacht. Nach der Hochzeit mit dem neunzehn Jahre älteren Jeremiah Lombard hatte die damals erst achtzehnjährige Helen darauf bestanden, in diesem Haus auch ihre Familie zu gründen und ihre Kinder aufzuziehen. Jeremiah, dem viel beschäftigten Banker, war das nur recht. So brauchte er sich nicht um Hauskauf und Aufbau eines Haushaltes zu kümmern, sondern konnte sich ganz dem Bankgeschäft widmen und die Bank, die damals noch den Namen Silverstone & Groming trug, zu viel mehr Größe und Erfolg führen. Jack grinste bei dem Gedanken an seinen Schwiegervater. Sie waren aus einem Holz geschnitzt, das hatte Jack schon ziemlich bald gemerkt, als er begann, sich um Louises Gunst zu bemühen.

Ein kurzes Klopfen riss Jack aus seinen Gedanken. Seine Sekretärin Miss Simmons trat ein. Wie immer blickte sie leicht vergrätzt drein. Jack konnte die alte Krähe nicht ausstehen. Aber auch für sie galt die Unkündbarkeit. Sie war bereits die Sekretärin vom alten Silverstone gewesen. Und als dieser die Geschäfte an Jeremiah Lombard übergab, bestand er darauf, dass Marianne Simmons mit übernommen wurde. Vielleicht hatten Silverstone und sie ja mal was miteinander, überlegte Jack spöttisch. Vor hundert Jahren oder so…
„Guten Morgen, Mister Delaney“, begrüßte sie ihn mit frostiger Stimme. „Hier sind die wichtigen Unterlagen, um die Sie mich gestern Abend noch baten, zur Unterschrift“, fügte sie hinzu und legte ihm eine rote Mappe auf den Schreibtisch.
„Danke, Miss Simmons“, erwiderte er mit aufgesetztem Lächeln. Obwohl der alte Silverstone und auch Jeremiah Lombard, sowie Henry Groming sie Marianne genannt hatten beziehungsweise noch nannten, bestand sie bei Jack Delaney darauf, dass er Sie siezte und mit Nachnamen ansprach. Der heutige Tag war aber einfach zu schön, um ihn sich von der alten Zitrone vermiesen zu lassen. Heute war der Tag, an dem er Mariannes Nachfolgerin aussuchen sollte. Denn in einem Monat war Mariannes Zeit abgelaufen und sie würde endlich in Rente gehen. Jack konnte es kaum erwarten, diesen Oldtimer gegen einen schicken neuen Flitzer einzutauschen. „Seien Sie so nett und bringen Sie mir doch eine Tasse Kaffee“, bat er sie, und sein Lächeln wurde noch breiter. Sie wusste genau, dass er jeden Morgen als erstes eine Tasse Kaffee wollte, aber stur wie sie war, ließ sie ihn jeden Morgen aufs Neue erst danach fragen.
„Mit Milch und Zucker?“ führte sie ihre Stichelei fort, denn sie kannte die Antwort natürlich genau.
„Wie immer nur mit Milch, Miss Simmons“, entgegnete er mit Betonung auf Miss, da Marianne trotz ihrer vierundsechzig Jahre nie verheiratet gewesen war und nickte vielsagend und amüsiert mit dem Kopf.
Marianne wollte gerade das Büro verlassen, als Jack sie noch einmal zurückrief. „Ach und Miss Simmons“, rief er und griff nach etwas in der Jackentasche,“ seien Sie doch bitte so nett und laden Sie mein Handy auf“, bat er und reichte ihr sein Mobiltelefon. „Der Akku ist total leer und ich hab das Ladegerät gestern hier im Büro gelassen“, setzte er erklärend hinzu. Verwundert blickte Marianne auf das winzige Telefon. „Vielleicht ist der Akku kaputt“, mutmaßte sie. „Sie hatten es doch gestern mehrere Stunden am Aufladegerät angeschlossen…“
„Laden Sie es einfach wieder auf, okay“, fertigte er sie ab. Das letzte wozu er Lust hatte war, mit der alten Feddel über sein Handyakku zu reden. Hocherhobenen Hauptes schritt Marianne samt Handy aus seinem Büro. Wutschnaubend setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schloss das Handy widerwillig ans Ladegerät. Sie konnte diesen verlogenen Mistkerl und abrundtief schlechten Menschen nicht ausstehen. Schon mit seinem Schwiegervater war es nicht leicht auszukommen. Er war genauso ein Weiberheld wie dieser Delaney. Aber jedenfalls hatte Lombard ihr dann und wann einen Blumenstrauß oder einen Kasten Pralinen zukommen lassen dafür, dass sie die diversen Weiber, die im Büro noch anriefen nachdem sie von dem Herrn bereits abserviert waren, gnadenlos abwimmelte und ihrem Chef somit den Rücken freihielt – freihalten musste. Sie verabscheute das sündige Treiben der Männer. Und leider griff dieses sündige Verhalten auch schon auf viele Frauen über. Schließlich musste es ja irgendwelche Huren geben, die sich mit solchen Ehebrechern abgaben. Sie war nur froh, dass sie nie an einen solchen Windhund geraten war. An den Galgen gehörten sie alle, wetterte sie in Gedanken. An erster Stelle dieser Delaney… der ordnete einfach nur an, die und die Frau nicht mehr durchstellen und das wars. Dass sie sich dann mit diesen Huren telefonisch abgeben musste und sich dabei fast mit beschmutzt fühlte, nein, daran dachte er nicht, das wusste der Kerl nicht zu schätzen. Die arme kleine Louise, dachte sie voller Mitgefühl. Ein so liebevolles naives Mädchen, so durch und durch vertrauensselig und gutherzig. Wie konnte Mister Lombard ein so Zartbesaitetes Wesen nur an einen solchen Kerl geben?! Aber Jack Delaney war genau der Typ Mann, der Jeremiah Lombard damals auch war. Wahrscheinlich hatte er in Jack Delaney so eine Art Sohnersatz gesehen. Aber anders als Delaney Louise, hatte Lombard ihrer Meinung nach die junge Helen Silverstone wirklich von Herzen geliebt. Außerdem war Lombard schon etwas reifer, immerhi! n war er neunzehn Jahre älter als die junge Helen gewesen. Am Anfang liebte er sie noch mit allem was dazugehörte. Leidenschaft, Sehnsucht und Verehrung. Ansonsten hätte Abraham Silverstone ihm nie seine geliebte Helen zur Frau gegeben, dessen war sie sich sicher. Aber im Laufe der Jahre hatten die ersten beiden Dinge wohl nachgelassen, aber verehrt und auf seine Art geliebt hatte Lombard Helen Silverstone immer. Marianne hatte das gespürt, wenn er von Helen erzählte oder sie bat, Blumen oder Schmuck zu Helens Geburtstag oder dem gemeinsamen Hochzeitstag zu besorgen. Nie hatte er ein wichtiges Datum, das Helen betraf, vergessen. Aber natürlich, er war ein Mann wie viele andere und hatte sich irgendwann dem Teufel verschrieben und später zu irgendwelchen dummen Affären hinreißen lassen. Mariannes Lippen wurden noch schmaler, als sie es ohnehin schon waren. Wäre die arme Louise nur länger als zehn Jahre von Helen erzogen worden, dann wäre die Saat Gottes, die Helen in sie gepflanzt hatte, zu voller Größe erblüht, dann wäre sie nie auf die billigen Schmeicheleien dieses Delaney reingefallen, führte sie ihre Gedanken bitter fort. Jedem in der Firma war von Anfang an klar, dass der Kerl es nur auf Louises Erbe abgesehen hatte. Louises Schönheit war von innerer Natur. Sie war keins von diesen hohlen Barbie-Puppen Weibchen, die Jack Delaney ansonsten bevorzugte. Auch Lombard war klar, worauf Jack wirklich scharf war, glaubte Marianne. Aber für ihn war das wichtigste, dass die Bank fortbestand, noch erfolgreicher wurde und Louise von so einem Kerl wie Delaney einen strammen Jungen bekam, der den Familienbetrieb fortführen konnte. Lombards größte Angst war es, Louise könnte als alte Jungfer enden und die Generationenkette abreißen. Nur die kleine Louise schien überhaupt nicht zu begreifen, was vor sich ging. Sie, die nie von Männern umschwärmt war, wurde von Jack Delaney plötzlich mit Komplimenten überschüttet, er ging mit ihr shoppen und kaufte ihr Kleider, die sie sich nie getraut hätte allein zu kaufen. Er verwöhnte s! ie mit L iebkosungen und Unternehmungen. Das arme Kind hatte ja gar keine Chance mal einen klaren Gedanken zu fassen, so setzte der Kerl ihr zu, grummelte Marianne. Und kaum hatte sie sich versehen, war Lombard schon dabei die Hochzeit zu organisieren und Gott und der Welt von der bevorstehenden Vermählung seiner Tochter mit dem erfolgreichen Banker Jack Delaney zu erzählen. Marianne kannte Louise von Geburt an. Sie hatte das schüchterne, liebe Mädchen immer sehr gemocht. Und sie hatte mit ihr gelitten, als damals das Schreckliche mit Helen, ihrer Mutter, passiert war und die Kleine mit ihren gerade zehn Jahren von einem Tag zum anderen nur noch mit ihrem Vater dastand. Dabei war Helen es gewesen, die immer und überall mit Louise zusammen gewesen war, die sie erzog und ihr die Werte des Lebens so gut wie möglich vermittelt hatte. Helen war eine gläubige Katholikin gewesen und hatte auch ihre Tochter in dem Sinne erzogen. Louise hatte schon mit vier oder fünf Jahren alle zehn Gebote aufsagen können und auch die Erklärungen dazu. Sie sprach jeden Abend ein Gebet vor dem Schlafengehen und ging sonntags mit ihrer Mutter zur Messe. Natürlich ohne Jeremiah Lombard. Er hatte für die gläubige Ader seiner Frau und der Tochter wenig übrig. Helen war es anzurechnen, dass Louise ein so gutes, frommes und gebildetes Kind geworden war, beschloss Marianne mit trotziger Miene. Nach Helens Tod war Marianne oft auch privat bei den Lombards im Hause, immer, wenn Louise aus dem Internat zu Hause war, und versuchte sich so gut wie möglich um Louise zu kümmern. Seit dem Tod ihrer Mutter kam Louise nicht mehr gern in ihr Elternhaus, denn dort war es, wo sie Helen tot vorgefunden hatte. Marianne fühlte sich für das Mädchen mitverantwortlich und versuchte sie vor dem Bösen in der Welt so gut wie möglich zu schützen. Vor allem achtete sie wie Helen auf Louises christliche Erziehung. Und genau dass schien Jeremiah Lombard irgendwann zuviel zu werden. Als seine Tochter mit über zwanzig noch immer keinen einzigen Verehrer mit nach Hause geb! racht ha tte, schrieb er das Mariannes übertriebenem Eifer zu, die junge Frau allzu sehr vor den Männern zu warnen und alles, was mit Sexualität zu tun hatte, als schlecht und schmutzig darzustellen. Er unterband den persönlichen Kontakt zwischen Marianne und Louise, aber die beiden telefonierten dennoch heimlich häufig miteinander und Marianne hatte es sich unerschütterlich zur Aufgabe gemacht, immer auf Louise aufzupassen.
Bis Jack Delaney auftauchte war ihr das auch gelungen. Die Sekretärin war so versunken in ihren Erinnerungen, dass sie erst gar nicht mitbekam, wie das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte.
„Lombard und Groming, Vorzimmer Mister Delaney. Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“ meldete sie sich routiniert mit monotoner Stimme.
„Hier spricht Penny Harper, Miss Simmons“, hörte Marianne die angespannte Stimme ihrer Kollegin aus der Kreditabteilung. „Ich möchte gern mit Mister Delaney sprechen.“
„Oh, Miss Harper“, tat Marianne überrascht. „Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser und Sie können Montag wieder arbeiten kommen“, konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen. Seit einer Woche macht diese Faulenzerin krank, ohne eine Krankschreibung zu schicken, dachte sie vorwurfsvoll. Aber gewisse Damen hier in der Firma können offensichtlich kommen und gehen wann sie wollen, fügte sie mit schon wieder aufsteigender Wut gegenüber Jack Delaney in Gedanken hinzu. Penny Harper antwortete nicht auf Mariannes Frage. „Mister Delaney ist gerade…“, wollte sie eben Penny Harper den Anweisungen Ihres Chefs folgend abwimmeln, wie sie es bereits seit Tagen musste, als ihr eine hervorragende Idee kam, wie sie Jack Delaney eins auswischen konnte, „…in seinem Büro. Ich stelle Sie durch“, beendete sie den Satz und drückte auf die Leitung ihres Chefs.
„Ja?“ kam es knapp aus dem Hörer.
„Miss Harper will Sie schon wieder sprechen, Mister Delaney“, tat sie zerknirscht. „Ich hab versucht, sie abzuweisen, aber sie lässt einfach nicht locker“, fügte sie mit gespielt sorgenvoller Stimme hinzu. „Sie hat gedroht, in die Firma zu kommen und Krach zu schlagen, wenn ich sie nicht durchstelle. Was sollte ich tun?“ log sie das Blaue vom Himmel.
„Schon gut“, presste Jack hervor, „ich nehme das Gespräch an“.
Mit einem verschmitzten Grinsen drückte Marianne einen Finger auf die Gabel ihres Telefons, um ihn dann gleich wieder wegzunehmen. Sie legte eine Hand auf die Sprechmuschel und drückte den Hörer fest an ihr Ohr, um auch jedes Wort des Gespräches zwischen den beiden verstehen zu können. Dabei schickte sie gedanklich ein Stoßgebet an den lieben Gott. „Ich weiß, ich sollte nicht lügen und anderer Leute Gespräche mithören, Herr. Aber was sind meine kleinen Sünden im Gegensatz zu deren unverzeihlichen Sünden?“ Es war eine rein rhetorische Frage!

Penny Harper war nicht nur fuchsteufelswild über Jacks Verhalten ihr gegenüber, sondern seit heute früh geradezu verzweifelt. Nachdem sie Jack die Pistole auf die Brust gesetzt hatte, damit er sich endlich zwischen ihr und seiner Frau entschied, hatte er sie fallengelassen wie eine heiße Kartoffel. Und nun hatte sie auch noch festgestellt, dass sie von ihm schwanger ist! Heute früh hatte sie sich einen Test aus einer Apotheke in einem anderen Ort geholt und war sofort wieder nach Hause gefahren. Wenige Minuten später hatte sie die grausame Gewissheit, nicht nur verlassen, sondern auch noch unverheiratet schwanger zu sein! Ihr bisher so strahlendes Partyleben war zusammen gestürzt wie ein Kartenhaus.
„Penny“, hörte sie Jacks vorwurfsvolle Stimme, “ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht mehr anrufen“.
„Jack“, wimmerte sie, „ich musste mit dir reden. Es ist einfach furchtbar, Jack“, rief sie mit brüchiger Stimme. „Ich… ich bin schwanger!“ Wie durch Watte gesprochen kamen die Worte bei Jack an. Verdammte Scheiße. Dieses kleine Miststück will mir einen Balg unterjubeln, war sein erster wütender Gedanke.
„Von mir?“ fragte er und erniedrigte seine Exgeliebte damit noch mehr als er es ohnehin schon getan hatte.
„Natürlich von dir, du Schwein“, platzte es aus Penny heraus. „Du weißt genau, dass ich in den letzten Monaten nur mit dir zusammen war“, fuhr sie aufgeregt fort. „Jack, wir lieben uns doch“, versuchte sie verzweifelt, ihn zu erweichen. Welch hoffnungsloses Unterfangen. „Wir müssen heiraten, Jack. Wir bekommen ein Kind“, beschwor sie ihn wie eine Ertrinkende, die um Rettung flehte. „Louise hat doch euer Kind nach dem Tod ihres Vater verloren“, eiferte sie, „du würdest also nur eine Ehe beenden, die ohnehin kaputt ist. Du würdest keine Familie verlassen. Aber wenn du mich verlässt, verlässt du die Frau, die deinen Sohn erwartet, Jack! Ich kann mit Louise reden. Sie wird es verstehen.“
Jack fuhr sich stöhnend mit einer Hand übers Gesicht, bevor er zum finalen Schlag ausholte. „Hör zu, Penny, ich hab dich bereits verlassen, schon vor einer Woche, als ich noch nichts von deiner Schwangerschaft wusste“, erklärte er ihr wie einem kleinen, nervigen Kind. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass diese plötzliche Schwangerschaft irgendetwas daran ändert?“ Penny hörte wie versteinert zu. „Penny“, setzte Jack erneut an, „wir leben nicht mehr im Mittelalter. Also fahr irgendwo hin und lass es wegmachen“, empfahl er ihr kaltschnäuzig.
„Es ist zu spät“, schrie sie ins Telefon. „Es ist zu spät, Jack. Verdammt noch mal, wir leben in einem stockkonservativen katholischen Ort. Wenn du mir nicht hilfst, werde ich Louise alles erzählen. Was glaubst du, wie ich hier noch leben soll mit einem unehelichen Kind?“ Ihre Stimme überschlug sich, sie war kurz vor einer Hysterie. Nun platzte auch Jack der Kragen.
„Verdammte Schlampe“, brüllte er außer sich, „jetzt fällt dir ein, wo du lebst? Jetzt? Nachdem du´s monatelang mit mir wie eine läufige Hündin getrieben hast? Das einzige was ich dir verspreche, du Dreckstück, ist, dass, wenn du nicht aus der Stadt und aus meinem Leben verschwindest, ich dich fix und fertig machen werde. Ich werde deinen Ruf so durch den Dreck ziehen, jeden Hebel in Bewegung setzen, dass sie dich geteert und gefedert aus unserer Stadt hinausjagen werden. Und wag es nicht, auch nur in die Nähe meiner Frau zu kommen. Hast du das kapiert, Penny?“ donnerte er und knallte den Hörer auf die Gabel. Fassungslos ließ auch Marianne im gleichen Moment ihren Hörer leise auf die Gabel sinken. Sie lehnte sich wie betäubt in ihrem Stuhl zurück. „Die Lippen der fremden Frau sind süß wie Honig und ihre Kehle ist glatter als Öl. Hernach aber ist sie bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidiges Schwert…“, zitierte sie wie betäubt aus der Bibel.

Jacks Atem ging schwer, sein Gesicht war rot angelaufen vor Aufregung. Er hatte nicht mal das Klopfen an seiner Bürotür gehört, geschweige denn, dass Henry Groming eingetreten war und lässig an der Tür gelehnt stand, da er während des Telefonats mit dem Rücken zu ihm gewand saß. Sekundenlang starrte Jack ihn aus großen verwirrten Augen an, bevor er schnell wieder zu seiner Fassung zurückfand.
„Teern und Federn?“ spöttelte Henry mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ich dachte, diese Art, lästige Zeitgenossen loszuwerden, sei ein wenig aus der Mode. Aber, na ja, in Creek County könnte das durchaus noch angewendet werden“.
„Henry“, rief Jack, wieder ganz der beherrschte Bankdirektor, „sei froh, dass du dich nie mit aufdringlichen Frauen herumschlagen musst. Glaub mir, in solchen Momenten wünschte ich mir manchmal so desinteressiert an dem weiblichen Geschlecht zu sein wie du“, ließ er eine seiner bevorzugten Spitzen Henry gegenüber los. Er liebte es, Henry unterschwellig zu unterstellen, er sei homosexuell. Natürlich wusste er, dass das nicht der Wahrheit entsprach, schließlich hatte Henry alles versucht – jedenfalls auf seine zurückhaltende Weise – Louise zu bekommen. Aber er hasste es, wenn Henry ihm gegenüber den Moralisten herauskehrte und drehte den Spieß daher allzu gern um. Henry wusste auch, dass Jack ihn manchmal vor anderen Mitarbeitern Henriette nannte. Innerlich kochte Henry vor Wut über Jacks Frechheiten und er wäre ihm dafür am liebsten an die Gurgel gegangen. Aber Henry war zu intelligent, um so primitiv zu reagieren. Lieber bot er sich einen verbalen Zweikampf mit seinem Kontrahenten. „Übrigens, Henry, toll, toll, toll, das du an den Geburtstag der Kleinen aus der Kreditkontenabteilung gedacht hast“, fuhr Jack mit leicht näselnder Stimme fort. „Ein herrlich farbenfroher Strauß…“
„Taylor“, erwiderte Henry beherrscht.
„Wie bitte?“ fragte Jack erstaunt.
„Sie heißt Taylor, Sandra Taylor und sie arbeitet bereits seit drei Jahren für uns“, erklärte er ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gute Mitarbeiter solltest du wirklich beim Namen kennen“, warf er ihm aus schmalen Lippen vor.
Jack lehnte sich breitschultrig in seinem Sessel zurück und grinste überheblich. „Leider ist mein Kopf so voll mit wichtiger Arbeit“, tat er bedauernd, „außerdem habe ich einfach nicht dein Namensgedächtnis.“
Henry schob die Hände in die Hosentaschen und schritt auf das große Panoramafenster des Büros zu. Er stand jetzt mit dem Rücken zu Jack, der seiner Bewegung mit einer halben Drehung im Sessel gefolgt war. „Apropos wichtige Arbeit und Namensgedächtnis“, sagte er in gefährlich leisem Ton. „Hab ich eben richtig verstanden? Penny? War Penny Harper deine Telefonpartnerin eben? Die aus unserer Firma?“
Jack spannte sich augenblicklich an. Dieser Henry war wirklich ein verdammt gerissener Kerl, wenn er wollte. „Ja…“, antwortete er und brauchte nur Bruchteile einer Sekunde, um sich etwas plausibles zu überlegen. „Sie hat angerufen, um sich auch für die nächste Woche noch krank zu melden“, log er ohne mit der Wimper zu zucken. Ruckartig drehte sich Henry ihm zu. Auf seinen Gesichtszügen war eindeutig abzulesen, dass er seinem Gegenüber kein Wort glaubte.
„Und deshalb willst du sie gleich Teern und Federn und aus der Stadt jagen lassen“, spöttelte er, „bin gespannt, was die Gewerkschaft dazu sagt“, trieb er sein ganz persönliches Vergnügen weiter. Er genoss es, wie Jack sich drehte und wand unter seiner überlegenen Miene. Aber so leicht war Jack nicht in die Enge zu treiben. Aufseufzend lehnte er sich zurück und grinste Henry frech an.
„Böser Junge, belauscht einfach Daddys Gespräche“, sagte er kopfschüttelnd und wandte sich der Mappe mit den zu unterzeichnenden Unterlagen zu, die Marianne ihm vorhin auf den Tisch gelegt hatte. „Sonst noch was, Henry?“ wollte er den lästigen Besucher endlich loswerden.
„Eigentlich wollte ich nur Fragen, wie es Louise geht“, gestand er wahrheitsgemäß. Seit er gehört hatte, dass sie nach dem Tod ihres Vaters eine Fehlgeburt hatte und seitdem in einem Sanatorium betreut und therapiert wurde, machte er sich Sorgen um sie. Er hatte einmal versucht, sie zu besuchen, wurde aber von der Leiterin, Dr. Parker, abgewiesen. Sie verbot jegliche Besuche. „Louise braucht zur Zeit völlige Ruhe“, erklärte sie ihm. „Ich erlaube nur Mister Delaney alle zwei Wochen einmal kurz zu kommen, damit Louise nicht ganz den Bezug zur Außenwelt verliert.“ Ohne Louise auch nur gesehen zu haben musste er wieder abziehen.

Jacks Tonfall wurde friedfertiger, fast herablassend. „Ach Henry“, seufzte er, „seit Louise mich geheiratet hat anstatt dich, kannst du es wohl nicht lassen, dir ständig Sorgen um sie zu machen“, sagte er ohne von seinen Unterlagen aufzublicken. „Sie ist in besten Händen und wird bald wieder nach Hause kommen können“, informierte er Henry. „Die Psychologin, die sie betreut, kennt Louise schon von damals, als ihre Mutter gestorben war“, fuhr er beiläufig fort. „Louise ist ja schon ein alter Hase, was Therapien angeht. Sie wird auch diese überstehen und dann ist alles wieder gut“, endete er und zeigte seinem Gegenüber ein schiefes Lächeln.
Wie Henry diesen Kerl verabscheute. Dies war wieder so ein Moment, in dem er ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Stattdessen drehte er sich auf dem Absatz um und verließ mit langen Schritten Jacks Büro. Jack lachte kurz auf, als er ihm nachsah, um sich dann wieder ganz seiner Arbeit zu widmen. Allerdings so richtig konnte er sich nicht mehr darauf konzentrieren. Und überhaupt war irgendwie die ganze gute Laune im Hinblick auf die heute stattfindenden Einstellungsgespräche wie weggeblasen. Das lag nur an dieser verdammten Penny, dachte er missmutig.

Henry ging äußerlich gelassen, aber innerlich kochend vor Wut zurück in sein Büro. Vielleicht zum ersten Mal in seiner beruflichen Laufbahn ließ er die Tür hinter sich krachend ins Schloss fallen. Er eilte zum Bürofenster und legte die Handflächen und die Stirn dagegen, um sich abzukühlen. Ja, Jack hatte Recht. Er hatte es nie verkraften können, dass Louise damals nicht ihn sondern diesen Hans Dampf in allen Gassen geheiratet hatte. Wie konnte sie nur? Es passte so gar nicht zu ihr, sich für so einen Mann zu entscheiden. Aber Henry war sicher, dass ihr Vater dahinter steckte. Vielleicht hatte er sie mit irgendetwas unter Druck gesetzt. Tränen brannten in seinen Augen, doch er ließ ihnen keinen freien Lauf. Viel mehr als enttäuschte Liebe, machte ihm Louise derzeitiger Zustand traurig. Er hatte diese Frau wirklich von Herzen geliebt. Und deshalb wollte er sie einfach nur glücklich sehen, selbst wenn es mit diesem Dreckskerl gewesen wäre. Aber er hatte von Anfang an geahnt, dass dieses Schwein sie nur unglücklich machen konnte. Schamlos trieb er es mit jeder jungen Frau, die ihm über den Weg lief. Vornehmlich Frauen aus der Bank. Für diese dummen Hühner war er der Big Boss, von dem sie sich erhofften, er würde ihrer Karriere einen kräftigen Stoß nach vorne geben oder sie glaubten gar, sie könnten den großen Weiberhelden Jack Delaney zähmen und er würde in ihren Armen zum braven Lämmchen werden. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Wie konnten sie nur so dumm sein? All das war Henry im Grunde völlig egal. Einzig und allein Louise hatte für ihn gezählt. Louise, sie war die Liebe seines Lebens gewesen. Er hatte sie schon als Junge geliebt, wenn sie gemeinsam im Baumhaus gesessen und sich alles erzählt hatten. Ihre Augen waren so strahlend und hellwach, ihr Geist so blitzgescheit. Wie oft hatte er ihr eine wilde braune Locke aus der verschwitzten Stirn gestrichen? Natürlich hatte er sich in späteren Jahren auch mal mit anderen Mädchen getroffen. Aber sie erschienen ihm eine wie die andere fad und langweilig. Mit ! keiner v erband ihn auch nur annähernd eine solche Vertrautheit wie mit Louise. Es war, als lebte in ihr und in ihm ein und dieselbe Seele. Zwischen ihnen hatten Blicke gereicht, um zu wissen, was der andere dachte und fühlte. Und so wurde Henry jedes Mal klarer, wenn er Louise in der Bank oder manchmal zufällig in der Stadt traf, dass ihre Seele litt, dass sie allmählich neben diesem Mann zugrunde ging. Er hatte sich manchmal sogar getraut, sie darauf anzusprechen. Ob sie glücklich mit Jack sei, ob er sie gut behandelt, so wie sie es verdiene. Aber Louise war ein viel zu anständiger Mensch, um über den Mann, den sie geheiratet hatte herzuziehen. Lieber litt sie still und leise vor sich hin. Und das machte Henry langsam kaputt. Er konnte es kaum mehr ertragen. Dieser Jack Delaney musste einfach fort, fort aus ihrem Leben, fort aus unser aller Leben. Am liebsten hätte er sich einfach eine Pistole besorgt und ihn abgeknallt. Aber dieses Stück Dreck war es nicht wert, dass er für ihn in den Knast ging. Und letztendlich war es einfach nicht Henrys Art, schwere Probleme so brachialisch zu lösen. Nein, da musste er sich schon etwas Subtileres ausdenken…


Penny Harpers Tränen waren versiegt, nachdem sie sicher eine Stunde lang vor dem Telefon gesessen hatte, die Hände noch immer um den Hörer auf der Gabel geklammert und Tränenströme vergossen hatte. Jetzt, erst jetzt, hatte sie wirklich begriffen, wer und was Jack Delaney war. Ein mieses dreckiges Schwein, der sie nur benutzt hatte, um sie dann wie ein lästiges Insekt von der Jacke zu schnippen und sie in ihrer ganzen aussichtslosen Situation gnadenlos im Stich zu lassen. Außer den Tränen, die endlos ihre Wangen hinab gelaufen waren, hatte sich die ganze Zeit nichts in ihrem Gesicht oder an ihrem Körper bewegt. Sie war versteinert. Es war unbegreiflich in welche Lage dieses Schwein sie gebracht hatte. Ihre Karriere, Ihr Ruf, ihr Leben – alles war hin.
Sie schrak unwillkürlich zusammen, als das Telefon neben ihr schrill klingelte.
Anfänglich war sie sehr argwöhnisch, als sie hörte, wer anrief. Aber nachdem sie gehört hatte, was Henry Groming von ihr wollte und dass er sie diesbezüglich gerne aufsuchen würde, sagte sie zu.

Henry hatte sein Auto um die Ecke geparkt, damit später niemand behaupten könne, er habe Kontakt zu Penny Harper gehabt. In einer solchen Kleinstadt fiel ein fast neuer schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben schon auf. Und Tratscherei gab´s hier auch zur Genüge. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sagte er sich und musste selbst lächeln über diese alberne Redewendung. Überhaupt hatte Henry an diesem Nachmittag öfter gelächelt als in den ganzen letzten Wochen zusammen. Dabei hatte der Tag so mies angefangen, nachdem er in Jacks Büro gewesen war.
Penny Harper empfing ihn mit einem etwas misstrauischen, aber durchaus interessierten und neugierigem Blick in den Augen. Nach kurzem Zögern bat sie ihn einzutreten und schloss die Tür leise hinter ihm.
Henry verbrachte etwa eine Stunde in ihrer Wohnung, länger brauchte er nicht. Genauso eilig, wie er ihr Haus betreten hatte, wollte er es auch wieder verlassen. Bloß nicht gesehen werden, war sein Hauptanliegen dabei. Doch ausgerechnet kurz vor dem Ausgang des Mehrfamilienhauses stieß er fast mit einer alten Dame zusammen, die umständlich versuchte, ihren Einkaufskarren die Treppen hinaufzuziehen. „Entschuldigung“, murmelte er und senkte augenblicklich das Gesicht. Niemand durfte ihn erkennen. Fast fluchtartig verließ er nach dem Zusammenstoß das Haus und eilte zu seinem Auto, um zurück ins Büro zu kehren.
Penny stand noch lange mit einem boshaften Grinsen auf dem Gesicht an die geschlossene Tür gelehnt da. Henry Groming hatte ihr den Strick geliefert, an den sie Jack Delaney aufknüpfen konnte.



Es war ein sonniger Aprilnachmittag. Louise hatte lange am offenen Fenster ihres Sanatoriumszimmers gesessen und die vom Blütenduft durchtränke Luft in sich aufgesogen. Alles wirkte so friedlich. Schmetterlinge flogen im Zick Zack an ihren Augen vorbei, Bienen summten sich von Blüte zu Blüte und der hellblaue Himmel wies nicht ein Wölkchen auf. Endlich schaffte es Louise und raffte sich auf. Sie klemmte ihre Staffelei unter den linken Arm, Pinsel und Farbenpalette nahm sie in die rechte Hand. Es war ein idealer Tag, um in den weitläufigen Park zu gehen und zu malen. Louise hatte die Malerei immer geliebt. Sie war eine gute Malerin gewesen und hatte mal geschafft, eine Ausstellung ihrer Bilder in einer Galerie unterzubringen. Doch in letzter Zeit hatte sie immer nur das Bedürfnis nach einem einzigen Motiv, und sie hatte keine Lust, auf künstlerischen Wert oder gute Techniken zu achten. Leichten Schrittes lief sie quer über den Rasen bis zu ihrem Lieblingsplatz fast am Ende des großen Parks. Dort konnte sie sitzen, ihren Gedanken nachhängen und malen. Hier war sie in ihrer eigenen kleinen friedlichen Welt, wo sie ungestört all die Geschehnisse der letzten Monate verarbeiten und überwinden konnte. Sie musste endlich wieder gesund werden und zu Jack nach Hause gehen. Sicher vermisste er sie schon furchtbar. Die Fehlgeburt hatte ihn schließlich auch sehr getroffen. Sie war nur froh, dass jedenfalls er stark und stabil war und trotz allem seiner Arbeit weiterhin nachgehen konnte. Und er hatte nie ein böses Wort zu ihr gesagt darüber, dass sie im Gegensatz zu ihm Hilfe brauchte, um psychisch mit dem Tod des Vaters und der anschließenden Fehlgeburt fertig zu werden. Während sie gedankenverloren auf der Leinwand herumpinselte, legte sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht und sie summte leise eine kleine Melodie. „Na komm, kleiner Frosch, wir wollen Fliegen fangen… summ, summ,summ, schau dich doch mal um, brumm,brumm, brumm, da komm´ die Fliegen schon…“ Sie sah das Bild ihrer Mutter vor s! ich.  222;Weißt du noch, Mama“, sagte sie und hielt den Kopf ein wenig schräg, um ihre Malerei aus einer anderen Perspektive zu betrachten, „das Lied haben wir immer gesungen, wenn wir morgens in den Garten gegangen sind“. Sie konnte förmlich spüren, wie ihre Mutter sie auf den Arm nahm und unter dem Apfelbaum im Kreis drehte. Sie hatten so ausgiebig gelacht. „Wann hab ich das letzte Mal so gelacht?“ fragte sie sich und schaute jetzt zufrieden auf ihr fertiges Bild. „Na, wie gefällt dir dein Meisterwerk?“ lachte sie. „Es ist furchtbar“, hörte sie plötzlich Kate sagen. Louise schrak unwillkürlich zusammen und bekam das bekannte bedrückende Gefühl, das sie immer beschlich, wenn Kate auftauchte.
„Wieso?“ traute sich Louise dennoch zu fragen. „Immer dasselbe alberne Motiv“, erwiderte Kate abfällig. „Sonne, grüne Wiese, blauer Himmel und immer wieder dieser unvermeidliche Regenbogen!“ Kate schüttelte sich angewidert. „Warum muss immer dieser dämliche Regenbogen auf jedem Bild von dir auftauchen?“ fuhr sie Louise an. Louises Stimme wurde immer eingeschüchterter und heller. „Ich mag die Farben des Regenbogens“, versuchte sie sich zu verteidigen.
„Dummes Ding“, spie Kate aus, „weißt du denn nicht, wie ein Regenbogen entsteht? Ganz sicher nicht, wenn der Himmel nur blau ist und nur die Sonne scheint“, sagte sie lehrmeisterhaft. „Dazu benötigt es auch Regen, Kind!“
„Das weiß ich selbst“, verteidigte sich Louise trotzig. „Der Regen ist ja auch da. Man sieht ihn nur nicht. Aber der Regen ist immer da, wo die Sonne scheint und man glaubt der Himmel sei einfach nur blau. Der Regen ist böse und muss sich überall einmischen. Ich hasse den Regen, deshalb male ich ihn nicht. Aber, weil ich weiß, dass er eigentlich da ist, kann ich auch einen Regenbogen malen. Der Regenbogen ist das einzig Gute, das der Regen hervorbringt“, erklärte sie der entnervten Kate.
„Großer Gott, was für einen Unsinn du manchmal zusammenredest“, kommentierte sie nur und warf Louise einen strengen Blick zu. „Du solltest dein malerisches Talent nicht mit solchen Schmiereien vergeuden“, rügte sie in vorwurfsvollem Ton. „Warum malst du keine christlichen Bilder? Bilder an denen sich ein reines christliches Herz wie meines erfreuen kann?“ Ihre Augenbrauen waren unwillig zusammen gezogen, während sie Louise fragend anblickte. Louise antwortete nicht. Verstohlen blickte sie an Kate herab. Wie immer hatte sie ihre olivgrüne Hose und das ärmellose Hemd in derselben Farbe an. Sie sah immer aus wie ein Soldat. „Ich bin eine Kriegerin“, hatte sie Louise einmal bezüglich ihrer Kleidung erklärt. Sie hasste es, wenn Kate sie mit ihrer scharfen Stimme immer runterputzte und ihre Überlegenheit herauskehrte. Louise betrachtete die Welt als etwas Schönes und Gutes, nicht wie Kate, die nur Misstrauen und Groll gegen alles und jeden hegte. Kate hatte auch keinerlei Verständnis für Menschen, die Sünden begingen oder begangen hatten. Selbst nicht, wenn diese ihre Sünden bereuten. Kate verdammte alle, die gegen die Gebote Gottes verstießen. Sie hasste und verfluchte sie. Vielleicht war sie deshalb hier im Sanatorium, hatte Louise einmal überlegt. Kate war so ganz anders als Louises Mutter. Helen Lombard war ebenfalls eine tiefgläubige Frau gewesen, die nach bestem Wissen und Gewissen versuchte, Gottes Gebote einzuhalten. Sie ging regelmäßig zur Messe und hatte Louise den Glauben nahe gebracht. Sie erzog sie sehr religiös aber ohne mit dem erhobenen Finger. Sie war ein fröhlicher, positiver Mensch, jedenfalls meistens. „Leider schmort die Arme trotz allem in der Hölle“, hatte Kate einmal gesagt. „Aber die größere Schuld daran trägt nicht mal sie selbst, sondern dein Vater“, setzte sie erklärend hinzu. „Das Höllenfeuer, in dem er jetzt schmort“, fuhr sie selbstgerecht fort, „ist auf jeden Fall heißer und grausamer als! das dei ner Mutter“. Louise war in Tränen ausgebrochen an jenem Tag. Warum musste Kate ihr immer alles sagen, was sie dachte? Andererseits war Kate ihre engste Vertraute. Die einzige, mit der sie über alles hatte reden können.
Louise hörte dumpfe Schritte über den Rasen eilen. Sie drehte sich um und erkannte Dr. Sibyll Parker, ihre Psychologin. Unwillkürlich musste Louise lächeln. Dr. Parkers Atem ging ein wenig schnaufend, wie sie da so herbeigeeilt kam. Sie war sichtlich gealtert, seit sie vor Jahren Louises psychiatrische Betreuung übernommen hatte, wenn Louise in den Ferien in Creek County war. Louise hatte Jahre gebraucht, um mit dem Tod ihrer Mutter fertig zu werden. Sie war erst zehn Jahre alt gewesen, als sie den wichtigsten Menschen ihres Lebens verloren hatte. Nicht leicht für ein kleines Mädchen.
„Louise“, rief Dr. Parker schon von weitem. „Louise, du bekommst heute abend Besuch“. Dr. Parker lächelte aufmunternd.
„Schon wieder?“ fragte Louise überrascht.
„Halt den Mund“, zischte Kate ihr zu und warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
„Aber Louise“, tadelte Dr. Parker sie mit gespielter Strenge, „Jack war doch schon seit über einer Woche nicht mehr hier. Ich dachte, du würdest dich freuen, dass er endlich mal wieder Zeit hat zu kommen bei all seiner Arbeit?!“
Louise Gesicht erstrahlte. „Natürlich freue ich mich, wenn Jack kommt“, rief sie jubelnd, um sofort einen kritischen Blick an sich hinabzuwerfen. „Meine Güte“, sagte sie aufgeregt, „wie ich aussehe! Ich muss unbedingt Duschen gehen und mir ein schöneres Kleid anziehen“, beschloss sie euphorisch. „Zieh dir lieber etwas an, das dein Dekolleté nicht so zeigt und deine Knie bedeckt“, mischte sich Kate beleidigt ein. „Du läufst manchmal rum, wie eins der billigen Flittchen, die bei euch in der Bank arbeiten und denen dein Mann hinterher jagt “, setzte sie bissig hinzu. Doch Louise war zu glücklich über die Nachricht von Jacks Besuch, um auf ihre Unkerei zu hören. Sie wusste, dass Kate Jack nicht ausstehen konnte und ihn für den schlimmsten aller Sünder hielt. Aber sie hatte es bisher nicht geschafft, Louise gegen Jack aufzubringen – noch nicht.
Dr. Parker winkte Louise zu sich heran. „Komm“, rief sie aus einiger Entfernung, „du musst dich beeilen“. Louise ließ Kate einfach stehen und rannte mit fliegenden Röcken Richtung Sanatorium. Sie wollte jetzt nicht mehr mit Kate reden. Sie wollte sich nur noch auf Jack freuen.





Zur gleichen Zeit, in der eine teuflische Intrige gegen Jack ausgebrütet wurde, fuhr dieser gerade den weiten Weg hinaus aus der Stadt zum abgelegenen Parker Sanatorium, in dem sich seine Frau seit nunmehr zwei Monaten aufhielt. Obwohl ihm die Drohungen von Penny heut morgen am Telefon noch immer leicht auf den Magen drückten, machte er sich nicht wirklich Sorgen. Noch an diesem Abend wollte er sie aufsuchen und mit ihr über den Preis reden. Er war sich sicher, dass Pennys sogenannte „Ehre“ einen Preis hatte, wenn es auch nicht gerade billig würde. Aber das letzte was er brauchen konnte, war ein Skandal in der Öffentlichkeit. Wie würde das denn aussehen?! Die arme Louise Lombard-Delaney im Sanatorium, um mit dem Tod des Vaters und dem Verlust ihres ersten Babys fertig zu werden, er, Jack, hatte gerade erst offiziell die höchste Position in der Bank übernommen, Dank des Erbes seiner Frau und dann kommt raus, dass er ein Verhältnis mit einer Angestellten hatte, die dann auch noch von ihm schwanger wurde und er, der böse, berechnende Geschäftsmann ließ sie einfach fallen. Er durfte gar nicht daran denken, wie die Presse ihn filetieren würde und wie ein Geschäftspartner nach dem anderen sich distanzieren würde oder am Ende gar darauf bestehen würde, Henry Groming möge die Leitung der Bank übernehmen, ansonsten würde ein kollektiver Entzug der investierten Finanzmittel drohen. Schon bei den Gedanken an all das, wurde Jacks Magen noch flauer. Eilig schaltete er das Radio ein, um diese dunklen Gespenster aus seinem Kopf zu vertreiben. „Bleib ruhig, Jack“, sagte er sich eindringlich, „es ist alles gut. Louise liebt dich und schwebt ohnehin zur Zeit in ganz anderen psychischen Sphären, und Penny Harper ist in der Männerwelt von Creek County nicht gerade ein unbeschriebenes Blatt. Selbst wenn sie den Mund aufriss, würde ihr kaum jemand Glauben schenken. Louise schon gar nicht. Sie war so herrlich naiv und gutgläubig. Die Fassade vom blitzsauberen, fleißigen Geschäftsmann hatte bei ih! r ebenso gehalten wie bei der gesamten besseren Gesellschaft der Stadt. Wer war da schon Penny Harper!“ Er warf einen kurzen Seitenblick auf den Beifahrersitz. Hatte er auch alles, was er Louise mitbringen sollte? Sie hatte ihn deshalb extra vorhin noch mal angerufen. Ihre Lieblingspralinen, Obst, einen Umschlag mit Bargeld und ihr geliebtes Perrier Mineralwasser – ja, er hatte an alles gedacht. Ihr Anruf hatte ihn beruhigt. Sie klang genauso wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass Penny igendwie mit ihr Kontakt aufgenommen hatte. Im Grunde war das ja auch unmöglich. Er hatte mit Dr. Parker vereinbart, dass niemand außer ihm selbst Louise besuchen durfte. Nicht einmal die Telefonnummer ihres Zimmer war irgendjemandem bekannt außer ihm. Und er hatte sie nicht irgendwo aufgeschrieben, sondern ausschließlich in seinem Handy gespeichert. Penny konnte sie nicht kennen.
Schon als Jack durch die große elegante Eingangshalle des Parker Sanatoriums schritt, kam ihm Louise von der Terrasse her entgegen gerannt. Völlig außer Atem stürzte sie sich in seine Arme.
„Oh, Jack“, rief sie nach Luft ringend, „ich hab dich so schrecklich vermisst“.
„Mich oder dein Perrier?“ scherzte er und presste sie fest an sich. Überglücklich fiel sie in sein Lachen ein und führte ihn hinaus auf die Veranda.
„Lass uns draußen sitzen, ja? Es ist ein so herrlicher Nachmittag“, bat sie und hakte sich vergnügt bei ihm unter. Er streichelte ihr über die Hand und sah ihr in die Augen.
„Du siehst viel besser aus, Schatz“, sagte er in gespielter Freude. Eigentlich hätte er erwartet, dass sie von all den Medikamten, die Dr. Parker ihr gab, weniger Energie geladen wäre.
„Es geht mir auch viel besser, Jack“, erwiderte sie mit strahlenden Augen. „Vielleicht liegt es an der Frühlingssonne oder vielleicht auch daran, dass du da bist“, gestand sie ihm ein. Ihr Gesicht nahm unendlich weiche Züge an.
Jack küsste sie zart auf die Wange, um sich dann mit einem erleichterten Seufzer in dem bequemen Gartensessel zurückzulehnen. Jetzt war er ganz sicher, dass die gute Louise von nichts eine Ahnung hatte. „Deine Lieblingspralinen und den Umschlag mit dem Geld lege ich dir auf den Stuhl hier“, sagte er und wies auf einen weiteren Gartenstuhl an ihrem Tisch. „Hast du das ganze Geld vom letzten Mal eigentlich schon ausgegeben?“ fragte er amüsiert und blickte sich um. „Wofür kann man hier überhaupt Geld ausgeben?“
„Ich hab mir von einem der Pfleger ein paar luftige Sommerkleider aus der Stadt mitbringen lassen“, erklärte sie mit einem Schulterzucken. „Dann mal ein paar Zeitschriften hier, Shampoo oder Cremes da…“, fuhr sie unbeirrt fort. „Die Pfleger sind sehr lieb, sie nehmen mir alles mit, was ich brauche“. Diese Erklärung schien Jack zu reichen. Wenn er bedachte, was er in letzter Zeit für Sarah ausgeben hatte, dann waren Louises Geldausgaben Peanuts. Manchmal fragte sich Jack, wie Sarah eigentlich ihrem Mann die ganzen Geschenke erklärte. Aber viel dachte er nicht darüber nach. War schließlich ihr Problem. Hauptsache der Trottel merkte nicht, mit wem sich seine Frau amüsierte.
„Dann wollen wir mal jetzt die Korken knallen lassen“, schlug er vergnügt vor und stellte zwei der vier mitgebrachten Perrierflaschen auf den Tisch. „Damit Dr. Parker mich nicht auch gleich hierbehält, müssen wir vorerst damit vorlieb nehmen“, tat er bedauernd. „Den Champagner sparen wir uns dann für zu Hause auf…“, setzte er mit leicht rauher Stimme hinzu und ließ ihr einen vielsagenden Blick zukommen. Louises Wangen röteten sich leicht und sie stupste Jack spielerisch an der Schulter.
„Habt ihr hier irgendwo einen Flaschenöffner?“ fragte er und blickte sich auf den anderen Tischen um.
„Nein“, erwiderte Louise. „Hast du vergessen, wo wir hier sind?“ flüsterte sie kichernd. „Du wirst hier absolut nichts finden, mit dem man sich auch nur annähernd verletzen kann“, erklärte sie ihm amüsiert über seinen verblüfften Gesichtsausdruck.
„Das hab ich bisher noch gar nicht mitbekommen“, meinte er wahrheitsgemäß.
„Bisher hast du mir das Perrier ja auch immer nur mitgenommen und ich hab´s dann später allein auf meinem Zimmer getrunken“, klärte sie ihn auf.
„Stimmt“, sagte er, „aber jetzt erklär mir auch noch, wie man sich mit einem Flaschenöffner ernsthaft verletzen kann?“ Um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.
„Lach nicht, Jack“, ermahnte sie ihn halbherzig. „Du hast keine Ahnung, wie viel richtig schwer gestörte Menschen hier in Behandlung sind“, fuhr sie eifrig fort. „Viele haben bereits mehr als einen Selbstmordversuch hinter sich, andere halten sich für Winston Churchill oder Theodore Roosevelt“. Auch Louise konnte sich jetzt ein kleines Kichern nicht mehr verkneifen.
„Na und? So lange kein Hitler dabei ist…“ entgegnete Jack und tat gelassen.
„Du bist unmöglich“, presste sie auflachend hervor.
„Aber wie öffnest du denn nun auf deinem Zimmer die Flaschen?“ fragte Jack schließlich, da er noch immer eine der Flaschen in der Hand hielt.
„Mit meinem Zimmerschlüssel“, verriet sie ihm flüsternd und blickte sich verstohlen um. „Aber den hab ich jetzt nicht dabei. Hast du irgendeinen Schlüssel?“
Jack kramte in seinen Taschen herum und zog einen Schlüssel mit einem Porscheanhänger hervor. Begierig blickte Louise darauf. „Vergiss es“, sagte er kopfschüttelnd, „wenn der abbricht, muss ich tatsächlich hier bleiben“. Wusste ich´s doch, dachte Louise einen kurzen Moment lang triumphierend. Jack suchte weiter seine Taschen ab, zog schließlich den Haustürschlüssel und den Büroschlüssel hervor.
„Der Haustürschlüssel nicht“, bestimmte er. „Sonst sitz ich vielleicht heut nacht auf der Straße. Bleibt nur der Büroschlüssel, den kannst du nehmen“, schlug er gnädig vor. „Ich hab noch einen zweiten im Büro und außerdem sitzt Marianne ohnehin Tag und Nacht in der Firma um aufzupassen, dass ich keine Fehler mache“, setzte er mit einem schrägen Lächeln hinzu. Louise griff nach dem Büroschlüssel und öffnete mit einer gekonnten Bewegung beide Perrierflaschen. „Voilá“, rief sie Applaus heischend und nahm sofort einen kräftigen Schluck von ihrem Lieblingsgetränk. Jack stieß leicht mit seiner gegen ihre Flasche und verkündete: „Auf deine baldige Genesung, mein Schatz!“
Kurz darauf merkte er, wie Louise sichtlich ermüdete und ihr die Erschöpfung ins Gesicht stand. „Ich gehe jetzt besser, Liebling“, tat er mitfühlend, dabei hatte er die ganze Zeit schon verstohlen auf seine Armbanduhr geschaut. Die Zeit drängte. „Wir wollen nicht riskieren, dass du dich überanstrengst.“
„Lieb von dir, Schatz“, erwiderte Louise und konnte sich ein Gähnen nicht verkneifen. „Es sind die Medikamente, weißt du“, setzte sie erklärend hinzu. „Sie machen einen nach jedem bisschen wahnsinnig müde.“ Jack küsste sie erneut auf die Wange und stand auf.
„Schlaf dich schön aus, Louise. Ich komm dich bald wieder besuchen“, endete er und schritt eilig von der Terrasse in die Eingangshalle, um zielstrebig auf den Ausgang zu steuern.
„Jack“, wurde er vom Ende des Ganges gerufen. „Jack, ich müsste einen Moment mit Ihnen reden“, rief Dr. Parker und kam so schnell es ihr möglich war mit ihrem etwas gewichtigen Körper auf ihn zu. Jack konnte sich denken, worum es ging. Aber seit ihrem gestrigen Telefonat gab es in dieser Angelegenheit noch nichts Neues. Er hatte jetzt einfach weder die Zeit noch die Lust darüber zu reden. Draußen dämmerte es bereits und er hatte noch wichtige Dinge zu erledigen. Lächelnd winkte er Dr. Parker zu. „Entschuldigen Sie, Doc“, tat er hektisch, „ich rufe Sie morgen an. Dringende Geschäfte“, rief er und war bereits zur Tür heraus, bevor Dr. Parker ihn erreicht hatte. Sorgenvoll blickte sie ihm nach. Jedesmal wenn sie mit ihm über ihre Vereinbarung reden wollte, war er verschwunden, bevor sie ihm auch nur ansatzweise sagen konnte, wie sehr die Sache drängte.
Ohne von Dr. Parker bemerkt zu werden, schlich sich Louise auf ihr Zimmer. Zufrieden lächelte sie vor sich hin.




Jack fuhr zu schnell, aber es war ihm egal. Er hatte heute Abend noch wichtiges zu erledigen. Über sein Auto-Headset rief er bei Penny an. Die Sache mit ihr wollte er als erstes erledigen. Nach dem dritten Klingeln nahm sie ab. „Jack hier“, sagte er knapp, „ich werde gleich zu dir kommen, dann sollten wir noch mal über alles reden“, schlug er vor und versuchte, versöhnlich zu klingen.
„Du kannst gerne kommen, Jack“, erwiderte sie in einem Tonfall, der bei Jack sofort alle Alarmglocken schrillen ließ. „Aber ich glaube kaum, dass du mir ein Angebot machen wirst, das ich akzeptieren kann“.
„Penny“, insistierte er, „mach doch bitte keine Szene draus. Wir waren uns doch beide von Anfang an einig, dass es nur eine Affäre ist. Und nun ist sie eben vorbei“. Er zwang sich, einen ruhigen Ton beizubehalten. „Denk doch auch mal an deine Zukunft und an deinen Job…“, versuchte er, leichten Druck auf sie auszuüben. Jedoch zwecklos.
Ein verächtliches Lachen schall an sein Ohr. „Oh, ich denke an meine Zukunft, Jack“, rief sie triumphierend. „Vielleicht solltest du besser an deinen Job denken“, endete sie. In der Leitung klickte es. Jack konnte kaum fassen, dass sie einfach aufgelegt hatte. Was ging da vor sich? Warum war sie plötzlich so siegessicher, und was meinte sie damit, er solle an seinen Job denken? Schnaufend fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. Er hasste es, wenn er nicht wusste, was vor sich ging.



„Ich brauche heute Abend wieder Ihren Wagen“, sagte sie mit kalter Stimme und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.
Der Mann ihr gegenüber grinste schief. „Gleicher Preis?“ fragte er mit gierigem Blick in den Augen. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, schon so schnell wieder an Geld zu kommen. Erst vorgestern hatte er im Casino gnadenlos verloren, dabei hatte er gehofft, seinen Einsatz mindestens zu verdoppeln, um endlich die Kredithaie bezahlen zu können, die ihm auf den Fersen waren. Sie waren brutal und eiskalt. Sie hatten schon gedroht, seine Frau oder eines seiner Kinder zu schnappen, wenn er nicht endlich seine Schuld begliche.
„Gleicher Preis“, antwortete sie ungerührt und warf ihm einen prall gefüllten Umschlag hin. Im Gegenzug dazu warf er ihr seine Autoschlüssel zu. „Immer nett, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Madame“, grinste er schmierig und warf verstohlen einen Blick in den Umschlag.
„Miss“, korrigierte sie ihn scharf. „Und denken Sie daran, mir hier den Rücken freizuhalten!“ setzte sie nicht minder bedrohlich hinzu. Er salutierte wie ein Soldat vor seinem General und verließ das Zimmer. Genüsslich rauchte sie ihre Zigarette zu Ende, bevor sie sich auf den Weg machte.



William Winthorp der Dritte war wütend und nervös, als er in seinem Sitzungszimmer die Vorstandsmitglieder seines Computer Imperiums empfing. Eigentlich hatte er geplant, bereits seit einer Stunde im Flugzeug nach Tokio zu sitzen, wo ihn wichtige zukünftige Geschäftspartner erwarteten. Dann jedoch war wie aus dem Nichts das Chaos in der Firma ausgebrochen. Es war die Rede von Betriebsspionage, die von einem leitenden Geschäftsführer begangen worden war und deren Aufklärung keinen Aufschub duldete. Bei William hatte das Telefon nicht mehr aufgehört zu klingeln und eine sofortige Vorstandssitzung war einberufen worden. Er als Vorstandsvorsitzender konnte und wollte da nicht fehlen. Er war so am Routieren, dass er nicht einmal dazu gekommen war, Sarah Bescheid zu sagen. Aber das eilte auch nicht. Die Sitzung würde sicher bis in die Nacht hinein gehen. Er konnte ihr Morgen früh alles erzählen. Als das Telefon auf seinem Schreibtisch erneut klingelte, kam sein ohnehin erhöhter Blutdruck gleich wieder in Wallung. Er riss geradezu den Hörer von der Gabel. „Sofia, ich habe Ihnen doch gesagt, keine Gespräche mehr!“ donnerte er in die Sprechmuschel. Sekundenlang schien seine Sekretärin so erschrocken, dass sie kein Wort herausbrachte. „Was ist denn, Sofia?“ fragte William ungehalten, als sie nichts sagte.
„Entschuldigen Sie, Mister Winthorp“, kam es schließlich von der jungen, eingeschüchterten Frau, „ich weiß, dass Sie nicht gestört werden wollten, aber ich glaube, dieses Gespräch sollten Sie annehmen“, fuhr sie mutiger geworden fort. „Es ist eine Frau am Apparat, die ihren Namen nicht nennen will“, erklärte sie. „Aber sie sagte es ginge um Leben und Tod und um Ihre Frau…“
William fühlte sich, als hätte jemand mit einer Fernbedienung in seinem Kopf auf ein ganz anderes Programm geschaltet. „Um meine Frau?“ wiederholte er verwirrt. „Also gut, stellen Sie durch“.
Minutenlang lauschte er stumm den Ausführungen der Anruferin. Jegliches Blut wich ihm aus dem Gesicht und seine Lippen wurden schmal vor Zorn.
„Gut“, sagte er schließlich nach einer Weile, „treffen wir uns in einer Stunde“. Er legte den Hörer zurück auf die Gabel. Die Fassungslosigkeit in seinem Blick wich einem unbändigen Hass. Er sprang von seinem Stuhl auf, griff nach seinem Jackett und verließ mit langen Schritten das Büro. Ohne ein Wort der Erklärung eilte er an den wartenden Vorstandsmitgliedern und dann an seiner Sekretärin vorbei. Wenn William Winthorp den Verdacht hatte, von Menschen, die ihm nahe stehen, hintergangen worden zu sein, konnte er kein Halten. Er war berüchtigt für seine cholerischen Ausbrüche, wenn es um geschäftliche Angelegenheiten ging. Aber handelte es sich um Verrat auf privater Ebene wurde er zum zerstörerischen Vulkan.

Sie wartete bereits auf dem ausgemachten Parkplatz und rauchte eine Zigarette, als sie den dunkelgrünen Jaguar von William Winthorp auf den Parkplatz biegen und genau hinter ihr halten sah. Sie schnippte den Rest ihrer Zigarette zum Seitenfenster hinaus und wollte dieses eben wieder hochdrehen, als der Hebel abbrach. „Verdammte Schrottkiste“, fluchte sie und warf den Hebel gleich hinter ihrer Zigarette her. Dann öffnete sie ihre Fahrertür und ging zu Winthorps edler Karosse hinüber. Sie öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben den überrascht dreinblickenden Computer Millionär. „Ich kenne Sie“, sagte er verblüfft.
„Natürlich kennen Sie mich“, erwiderte sie. „Deshalb können Sie mir auch das glauben, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe“. Sie beugte sich noch ein wenig dichter zu ihn hinüber und begann zu erzählen.


Kaum hatte sich Jack von dem Gespräch mit Penny erholt, als sein Handy klingelte.
„Jack, hier ist Sarah“, hörte er die Stimme seiner derzeitigen Gespielin. „Wir müssen uns sofort treffen, es ist etwas furchtbares passiert“. Sie klang völlig durcheinander, ja verängstigt.
„Was ist denn los, Sarah?“ fragte er und seine Brust begann sich zusammen zu schnüren.
„Mein Mann“, presste sie hervor, „er weiß über uns Bescheid.“ Ihr Atem ging schwer und er konnte das Zittern ihres Körpers förmlich hören. „Verstehst du?“ rief sie einer Hysterie nah. „Er weiß alles von uns!“
„Sarah“, versuchte er sie zu beruhigen, obwohl er selbst Unruhe in sich aufkommen spürte, „das kann nicht sein. Er war doch immer weit weg auf Reisen, wenn wir uns getroffen haben. Und von der Wohnung weiß absolut niemand etwas, du musst dich irren“.
„Verdammt noch mal, Jack“, kreischte sie. „Ich bin keine Psychopathin wie deine Frau! William weiß alles“. Sie schluchzte auf, während Jack sämtliches Blut aus dem Gesicht wich. Er sah sich im Rückspiegel. Sein Gesicht war weiß wie eine Wand und unter den Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet. Was war das nur für ein verfluchter Tag? fragte er sich. Dann kam ihm ein Gedanke. „Von wem weiß er es?“ fragte er sie aus blassen Lippen.
„Was weiß ich! Irgendein verdammter Schnüffler wird´s ihm verraten haben“, erwiderte sie heulend.
„Er hat dich beschatten lassen?“ fragte Jack fassungslos. „Aber warum? Wodurch ist er misstrauisch geworden, ihr seid doch schon seit fünf Jahren verheiratet und ich bin bestimmt nicht dein erster Liebhaber“, sagte er mit kalter Stimme. Aber Sarah war viel zu verängstigt, um sich in ihrem Stolz verletzt zu fühlen.
„Ich hab keine Ahnung“, kam es wimmernd zurück. „Wir müssen uns sofort irgendwo treffen. Wir müssen uns eine gemeinsame Geschichte ausdenken, die ich ihm auftischen kann, irgendwas mit deiner Bank oder so…“. Sie hörte sich an wie eine Ertrinkende, die nach irgendeinem Stohhalm suchte, der sie retten sollte.
Die Geschenke! Kam es Jack wie ein Geistesblitz. Bestimmt sind ihm diese verdammten Geschenke aufgefallen. Dabei hatte er Sarah so oft gebeten, vorsichtig zu sein, die Ringe, Ketten und Kleider, die er ihr im Laufe der letzten Zeit gekauft hatte besser in ihrem Liebesnest zu lassen und nicht mit nach Hause zu nehmen oder damit in der Öffentlichkeit herum zu laufen. Hecktisch warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. „Können wir das nicht auf morgen früh verschieben?“ fragte er entnervt.
„Bist du wahnsinnig“, schrie sie ihm ins Ohr. „Wenn er nach Hause kommt, muss ich ihm eine perfekte Story auftischen“, sagte sie und klang schon wieder hysterisch. „Ich bin einfach im Moment nicht in der Lage, mir allein etwas auszudenken. Schließlich betrifft dich das Ganze genauso“, drohte sie jetzt unterschwellig. „Oder möchtest du erleben, wie William Winthorp der Dritte seine gesamten Finanzen aus der Bank entfernt? Dann kannst du gleich wieder deine Sieben Sachen packen und in die nächste Stadt – ach was sag ich – in einen weit entfernten Bundesstaat ziehen“, klärte sie ihn über Konsequenzen auf, die ihm natürlich längst klar waren. „William ist kein Mann, der so einen Verrat auf sich sitzen lässt, Jack“, fuhr sie beschwörend fort. „Er wird dich fertig machen, dich und deine ganze Bank!“ Jack spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Warum hatte er sich nur mit dieser verdammten Schlampe eingelassen? Dachte er mit aufkommender Wut.
„Also gut, Sarah“, lenkte er schließlich ein. „Ich bin in fünfzehn Minuten am Stadtrand. Wir treffen uns in diesem kleinen Café am Meer. Du weißt schon welches ich meine“, sagte er. Er traute sich schon gar nicht mehr, konkrete Dinge am Handy zu sagen. Wer weiß, vielleicht ließ dieser verdammte Winthorp sogar sein Telefon abhören. Einfluss genug, um so etwas zu veranlassen, hatte er allemal.
„In fünfzehn Minuten“, bestätigte Sarah knapp und legte auf.




Marianne Simmons kontrollierte noch einmal ihre Handtasche, ob sie auch alles beisammen hatte. Dann warf sie einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz vor sechs. Zeit zu gehen. Sie erhob ihren schlanken drahtigen Körper und wollte eben nach ihrem leichten Frühlingsjackett greifen, als das Telefon klingelte. Sie überlegte, ob sie überhaupt noch rangehen sollte. Aufseufzend griff sie dann anstatt nach ihrer Jacke nach dem Telefonhörer. „Lombard´s und Groming, Vorzimmer Mister De… „
„Stellen Sie mich zu Delaney durch, sofort“, wurde sie barsch unterbrochen.
„Wer spricht denn da bitte?“ fragte sie erschrocken über den Tonfall des Anrufers.
„William Winthorp! Und jetzt stellen Sie mich augenblicklich zu diesem Mistkerl durch“, brüllte der ihr wohlbekannte Mann. Marianne brauchte nur Bruchteile von Sekunden, um zu begreifen. Winthorp hatte herausbekommen, dass da zwischen seiner Frau und Jack Delaney etwas lief. Anders war sein aufgebrachtes Verhalten nicht zu erklären, folgerte sie. Jetzt galt es einen kühlen Kopf zu behalten.
„Mister Delaney ist nicht im Haus, Mister Winthorp“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
„Wo ist er?“ kam es knapp zurück.
„Soweit ich weiß, besucht er seine Frau im Sanatorium“, erwiderte Marianne und klammerte ihre Hand so fest um den Telefonhörer, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
„Kommt er heute noch mal ins Büro?“ zischte Winthorp sie an.
Marianne überlegte nur einen kurzen Moment. „Er sagte mir heute Nachmittag, dass er nach dem Besuch ins Büro zurückkommen wolle, allerdings…“ Sie hörte ein plötzliches Klicken in der Leitung. Winthorp hatte einfach aufgelegt. Offensichtlich war es genau das, was er hören wollte. Marianne zitterte am ganzen Körper vor Aufregung. Der verdammte Winthorp! Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass er den beiden auf die Schliche kommen würde. Woher nur konnte er davon wissen? Marianne legte den Hörer gar nicht erst auf, sondern wählte sofort Jacks Handynummer.
„Mister Delaney, hier spricht Miss Simmons“, meldete sie sich und sprach unwillkürlich lauter, da sie hören konnte, dass er sich im Auto befand und die Verbindung nicht sehr deutlich war.
„Miss Simmons“, rief er entnervt , „was gibt´s denn so dringendes, dass Sie mich jetzt…“
„William Winthorp hat eben hier im Büro angerufen“, unterbrach sie ihn mit harter Stimme. „Er ist auf der Suche nach Ihnen“, fuhr sie fort und konnte geradezu hören, wie Jack die Luft einsog.
„Was haben Sie ihm gesagt?“ fragte er Schreck erfüllt.
„Ich habe ihm gesagt, dass Sie im Sanatorium seien. Wo Sie danach zu erreichen sind, wüsste ich nicht“, informierte sie ihn.
„Gut gemacht!“ rief er mit hörbarer Erleichterung.
„Es ist wohl besser, Mister Delaney, wenn Sie sich heute abend nirgendwo mehr blicken lassen“, riet ihm Marianne. „Mister Winthorp hörte sich sehr wütend an, Sie sollten ihm heute nicht mehr über den Weg laufen, bis sich sein hitziges Gemüt vielleicht etwas abgekühlt hat“. Wobei Marianne nicht wirklich glaubte, dass sich Winthorps Gemüt in dieser Angelegenheit jemals abkühlen würde.
„Ja, Sie haben recht“, erwiderte Jack gehetzt. Seine Stimme hatte keine Spur mehr ihrer sonstigen Überheblichkeit, wenn er mit seiner Sekretärin sprach. Ohne ein weiteres Wort legte Marianne auf. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie war stets ein planmäßig vorgehender Mensch und konnte unvorhergesehene Veränderungen nicht ausstehen. Um sich einen Moment zu sammeln, ließ sie sich wieder auf ihren Bürostuhl nieder, als Henry Groming, der einzige, der außer ihr noch im Büro war, ihr Zimmer betrat. Marianne starrte ihn einen Moment lang verwirrt an, was er sofort registrierte.
„Marianne“, sagte er erschrocken, „Sie sehen ja aus, als wären Sie einem Geist begegnet“. Marianne fasste sich augenblicklich.
„Das nicht gerade“, sagte sie mit sorgenvoller Miene, „aber der Anruf, der mich eben erreichte, war nicht weniger erschreckend“, fügte sie hinzu und legte unwillkürlich eine Hand auf ihr Dekolleté, als fiele es ihr schwer zu atmen.
Henry füllte einen Plastikbecher mit Wasser aus dem Wasserspender, der Mariannes Schreibtisch gegenüber stand. „Trinken Sie erst einmal einen Schluck“, riet er ihr. „Und dann sagen Sie, was passiert ist“.
Marianne nahm einen tiefen Zug von dem Wasser und lehnte sich dann aufseufzend zurück. „Immer diese verdammten Affären von Mister Delaney“, begann sie aus schmalen Lippen zu erzählen. „Er hat seit Wochen ein Verhältnis mit Sarah Winthorp“, fuhr sie fort und beruhigte sich allmählich. Ihr Verstand arbeitete wieder glasklar. Unbemerkt von Henry fixierte sie ihn genau, bevor sie fortfuhr. „Sie wissen schon“, meinte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, „diese junge aufgedonnerte Frau von William Winthorp“.
„William Winthorp der Dritte? Der, der Millionen auf unserer Bank liegen hat?“ fragte Henry fassungslos und konnte kaum glauben, welch kostbare Information Marianne ihm da gerade lieferte.
„Genau der“, bestätigte Marianne und blickte Henry direkt in die Augen. „Die beiden treffen sich regelmäßig in einem Appartement in der Harringtonstreet 35“, fuhr sie ungeniert fort. „Mister Delaney hat das Appartement unter einem Decknamen angemietet. Er hat sich so etwas originelles wie John Smith einfallen lassen.“ Ihre Augenbrauen zogen sich spöttisch nach oben, während sich auf Henrys Gesicht ein kleines Lächeln abzeichnete. Marianne nahm erneut einen Schluck von dem kühlen Wasser. Dann fuhr sie fort. „Naja“, meinte sie mit einem Schulterzucken, „und nun scheint William Winthorp von der Sache Wind bekommen zu haben. Jedenfalls rief er eben völlig außer sich vor Wut hier an und verlangte, Mister Delaney zu sprechen. Als ich ihm sagte, er sei nicht da, wollte er wissen, wo er ist und ob er noch mal ins Büro käme“, erklärte sie mit resigniertem Gesichtsausdruck. „Mir fiel so schnell nichts ein, also hab ich einfach gesagt, dass Mister Delaney vorgehabt hätte, noch ins Büro zu kommen. Daraufhin hat Winthorp einfach aufgelegt“. Marianne fror plötzlich und sie rieb mit ihren Händen an den Oberarmen.
Henry legte ihr mitfühlend eine Hand auf die Schulter. „Sie haben alles richtig gemacht, Marianne“, versuchte er die verstörte Sekretärin zu beruhigen.
„Aber was, wenn er tatsächlich gleich hier auftaucht?“ fragte sie ängstlich.
„Hören Sie, Marianne“, sagte Henry lächelnd. „Sie machen jetzt Feierabend. Ich habe ohnehin noch einiges zu tun. Wenn also Mister William Winthorp der Dritte tatsächlich wie ein wilder Stier hier hereinstürzt bin ich da und werde ihn beruhigen“, versprach er zuversichtlich. „Mir wird schon etwas einfallen“. Marianne schien beruhigt und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie griff nach Jacke und Handtasche und strich sich abschließend den Rock zurecht. Henry hatte sie sekundenlang fragend beobachtet. Dann konnte er nicht umhin, sie noch einmal anzusprechen.
„Sagen Sie, Marianne“, sagte er und kratzte sich nachdenklich mit einem Finger an der Schläfe, „woher wissen Sie eigentlich die Sache mit dem Appartement und dem Scheinnamen und alles? Sie sind nicht gerade Jacks Vertraute?“
Marianne straffte unwillkürlich die Schultern und brachte ein kleines stolzes Lächeln hervor. „Mister Groming“, antwortete sie selbstbewusst, „ich bin seit über vierzig Jahren in dieser Firma. Wenn auch nur ein Cent der Firmengelder das Haus verlässt, weiß ich, wer ihn entfernt hat und wo er gutgeschrieben wurde. Geschweige denn ein regelmäßiger Mietscheck!“
Henry blickte sie erst verblüfft, dann grinsend an. „Wenn Jack wüsste, was für eine blitzgescheite, gerissene Frau er hier sitzen hat…“, sagte er voller Bewunderung in der Stimme.
„Wenn er das wüsste“, erwiderte Marianne und grinste ebenfalls, „würde er mich noch lieber rausschmeißen als sowieso schon. Und es würde ihm genauso wenig gelingen wie bisher – dafür hat der großartige Abraham Silverstone gesorgt!“ endete sie und schritt fast triumphierend aus ihrem Büro.
Henry hatte die Hände in den Hosentaschen und blickte ihr lächelnd nach. Was für eine Frau! Dachte er. Und durch sie hab ich jetzt genau die Informationen, die mir noch fehlten. Von Sarah Winthorp wusste er schon länger, aber nicht, wo sich das uminöse Liebesnest der beiden befand. Danke, Marianne, fügte er in Gedanken hinzu.

William Winthorp ließ nicht lange auf sich warten. Bereits fünfzehn Minuten nach seinem Anruf in Jacks Büro tauchte er blind vor Wut am gläsernen Eingang von Lombard & Groming auf. Natürlich war bereits Bankschluss und somit die Tür verriegelt. Aber Henry erwartete ihn im Foyer und eilte nun zum Eingang, um zu verhindern, dass der rasende Millionär weiter daran rüttelte und womöglich noch den Alarm auslöste. Nachdem Henry das Schloss entriegelt hatte, stürmte er in die Bank an Henry vorbei und brüllte durch die menschenleere Halle. „Wo ist dieser Mistkerl, wo hat er sich verkrochen?“ Henry war ihm hinterher gerannt und legte ihm nun behutsam eine Hand auf die Schulter.
„William“, sagte er betont ruhig, „beruhige dich erst einmal. Komm, wir fahren hinauf in mein Büro und reden über alles“.
Mit blutunterlaufenen Augen starrte Winthorp ihn an. „Was soll das?“ fuhr er ihn barsch an. „Ich will mich weder beruhigen, noch mit dir reden, Henry. Ich will wissen, wo dieses Schwein Delaney ist!“
Henry bemühte sich weiterhin, ruhig zu bleiben.
„Er ist nicht hier, William“, erwiderte er, um sofort hinzuzufügen: „Aber vielleicht kommt er noch. Bis dahin lass uns einen Drink in meinem Büro nehmen“, forderte er ihn mit einem aufmunternden Lächeln auf. „Ich weiß, worum´s geht, William. Und vielleicht kann ich dir weiterhelfen.“
Winthorp blickte ihn entgeistert an. „Du weißt worum es geht?“ fragte er mit erneut aufsteigender Wut. „Anscheinend weiß jeder in der Stadt, dass meine Frau mir Hörner aufgesetzt hat, nur ich hab´s als letzter erfahren!“
Henry legte seinen Arm um Winthorps Schulter und führte ihn sanft zum Aufzug. „Unsinn, William“, beschwichtigte er ihn. „Ich glaube, außer mir weiß niemand davon.“
Winthorp schaute ihn aus zusammen gekniffenen Augen an. Glaubt er das wirklich? Fragte er sich. „Hast du eine Ahnung“, murmelte er ohne dass Henry auf diese Bemerkung einging.
Nachdem Henry dem zornbebenden Mann und sich selbst einen Whiskey on the rocks eingeschenkt hatte, reichte er seinem Gegenüber ein Glas. „Hier William, trink das und beruhig dich erst mal“, empfahl er ihm.
Winthorp leerte das Glas mit einem Zug, stellte es laut auf Henrys Schreibtisch und wandte sich diesem direkt zu. „Hör zu, Henry“, begann er, wobei sein Blick Entschlossenheit zeigte, „du bist ein anständiger Kerl. Ich hab dich immer gemocht. Du bist fleißig und korrekt, was deine Arbeit betrifft und absolut vertrauenswürdig und loyal, wenn es um Freundschaften geht. Ich wünschte, du hättest nach Jeremiahs Tod die Führung der Bank übernommen und nicht dieser schmierige Delaney. Aber es ist wie es ist“, verkündete er mit Kälte in der Stimme und wandte sich zum Gehen. „Ich werde Delaney finden, ob du mir nun dabei hilfst oder nicht!“
Henry überlegte nicht lange. „Es gibt da eine Wohnung“, sagte er und nippte an seinem Whiskey. „Sie liegt in der Harringtonstreet Nummer 35. Die hat ein Typ angemietet, der sich John Smith nennt“, bei diesen Worten zog sich seine rechte Augenbraue in die Höhe und ein kleines Lächeln umspielte seinen Mund. „Originell, nicht wahr? Jedenfalls hab ich gehört, dass dieser Smith verdammt viel Ähnlichkeit mit unserem guten Jack hat…“. Henry leerte sein Glas und sah Winthorp abwartend an. Dieser nickte nur kurz und ging an Henry vorbei zur Bürotür. Bevor er hinausging, drehte er sich noch einmal zu Henry um.
„Ich werde Jack Delaney so eine verpassen, dass er die nächsten Wochen aus der Schnabeltasse trinken muss“, zischte er aus zusammen gebissenen Zähnen, „und danach, Henry, werde ich meine sämtlichen Finanzen aus dieser Bank ziehen und auch all meinen Freunden empfehlen, dasselbe zu tun.“
Henrys Gesicht wurde kreidebleich. „Aber, William…“, wollte er eben widersprechen, als dieser abwehrend eine Hand in die Höhe hob.
„Es tut mir leid um dich, Junge“, fuhr er unbarmherzig fort, „du kannst danach gern einen gutbezahlten Posten in meiner Firma haben“, fügte er ernst hinzu, „aber Lombard & Groming wird bald so bankrott sein, dass ihr alte Damen darum anflehen müsst, ihre spärlichen Renten bei euch anzulegen!“ Damit ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen und stürmte davon.
Niedergeschmettert ließ sich Henry in seinen Sessel fallen. Damit hatte er nicht gerechnet. Der verdammte Winthorp war so gekränkt in seiner Ehre, dass es ihm nicht reichte, Jack fertig zu machen. Er wollte alles, was mit ihm zusammenhing dem Erdboden gleich machen. Henry schlug die Hände vors Gesicht. Er musste einen Ausweg finden, um das zu verhindern. Winthorp würde mit seinem Rachefeldzug nicht nur die Bank seines geliebten Onkels zugrunde richten, er würde außerdem alle Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit treiben. Er würde Louise finanziell ruinieren. Mein Gott, Louise, wie sollte sie mit dem ganzen Desaster und der Schande fertig werden? Sie war schon angeschlagen genug durch die Geschehnisse der letzten Monate. Hatte sie nicht Jahre gebraucht, um den schrecklichen Tod ihrer Mutter zu verarbeiten und die Umstände, unter denen sie damals Helen Lombard vorgefunden hatte? Ein erst zehnjähriges Mädchen kommt unbeschwert von der Schule heim, sucht nach der Mutter und findet sie dann erhängt am Apfelbaum im Garten, genau unter ihrem geliebten Baumhaus. Seine Gedanken schweiften fünfzehn Jahre zurück in die Vergangenheit.
Henry war damals ebenfalls noch ein Junge. An jenem Tag hatte ihn sein Onkel mit ins Büro genommen. Das Büro war frisch renoviert worden und Onkel Sam meinte, es fehlten ein paar hübsche Bilder seines Neffen darin. Voller Freude und Eifer hatte sich Henry daran gemacht, neben seinem Onkel am Schreibtisch die kuriosesten Bilder zu malen, die er seinem Onkel dann als Börsenkurven verkaufen wollte. Onkel Sam hatte gelacht und sich bedankt für die hohen Werte, die der dreizehnjährige Henry dabei Lombard & Groming zugedacht hatte. Dann klingelte Sam Gromings Telefon auf dem Schreibtisch. Gutgelaunt nahm der Banker den Hörer ab, um dann Minuten später aschfahl und mit leerem Blick den Hörer wieder aufzulegen. Henry spürte sofort, dass etwas furchtbares passiert sein musste. Er traute sich jedoch nicht, seinen Onkel anzusprechen. Reglos saß Sam Groming da, bevor er sich von seinem Sessel erhob. „Komm Henry“, forderte er seinen Neffen mit belegter Stimme auf. „Wir müssen sofort zu den Lombards raus fahren“. Es war als legte sich eine eiskalte Hand um Henrys Herz. War etwa mit Louise etwas geschehen? Doch noch immer traute er sich nicht, seinen wie abwesend wirkenden Onkel zu fragen, was eigentlich geschehen war. Wortlos fuhren sie in Sam Gromings Auto zum Haus der Lombards. Bereits in der Auffahrt sahen sie mehrere Polizeiwagen, einen Krankenwagen sowie einen Rettungshubschrauber. Henrys Augen waren unnatürlich weit offen, wie er die Szenerie betrachtete und neben seinem Onkel zur Haustür schritt. Kurz bevor sie durch die offene Tür treten konnten, kamen ihnen zwei Sanitäter entgegengelaufen, die zwischen sich eine Bahre trugen. Henry glaubte, sein Herz würde stehen bleiben, als er Louise darauf liegen sah. Doch Henrys wacher Verstand sagte ihm sofort, dass sie nicht tot war. Sie trug eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht und ihre Augäpfel bewegten sich unter den geschlossenen Lidern. Gleich hinter den beiden Sänitern folgten zwei weitere, die ebenfalls eine Bahre zwischen sich befördert! en. Ein menschlicher Körper lag darauf, jedoch nicht wie bei Louise mit Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, sondern bis über die Haare von einem Tuch verdeckt. Um wen es sich bei der Leiche handelte, wusste Henry zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Während er noch immer der Bahre mit Louise darauf mit den Blicken folgte, schritt er hinter seinem Onkel ins Haus. Niedergeschlagen, kreidebleich und mit rot geränderten Augen kam ihnen Jeremiah Lombard entgegen. Die beiden Männer nahmen sich in die Arme. Das hatte Henry noch nie bei den beiden gesehen. Umso bewusster wurde ihm, wie schwerwiegend die Geschehnisse waren. Niemand schien mehr von Henry Notiz zu nehmen, als er hinter den beiden Männern in ein großes abgedunkeltes Arbeitszimmer gingen, in dem sich riesige Bücherregale aus Eichenholz, sowie ein massiger Schreibtisch und ein Sessel aus braunem glänzenden Leder passend zur Zweiercouch an einer der Wände befanden. Sam Groming und Jeremiah Lombard setzten sich auf die Couch und begannen leise miteinander zu reden, während sich Henry neben die Couch auf den Boden kauerte. Wie versteinert lauschte er dem Gespräch der beiden Bankchefs.
„Die Haushälterin hat heute ihren freien Tag“, begann Jeremiah Lombard seinem Freund zu erzählen. „Wahrscheinlich hat sie es deshalb heute getan. Sie konnte nicht wissen, dass ausgerechnet Louise sie finden würde. Eigentlich wollte ich die Kleine heute Mittag von der Schule abholen, deshalb bat ich dich, die für heute Mittag angesetzte Besprechung mit den Abteilungsleitern zu übernehmen“, erklärte er. „Aber als ich an der Schule ankam, sagte mir die Lehrerin, dass die letzte Unterrichtsstunde ausfallen musste, weil eine Kollegin plötzlich erkrankt sei“, fuhr er kopfschüttelnd fort. „Die Lehrerin hatte versucht, Helen zu erreichen, aber hier zu Hause nahm niemand das Telefon ab. Wahrscheinlich war´s da schon passiert…“ Jeremiah Lombard musste hart schlucken und rieb sich müde über die Augen. Sam Groming erhob sich und schenkte ihnen beiden ein Glas Whiskey ein, ohne Eis oder Wasser, einfach pur. Er reichte seinem Freund eines der Gläser und setzte sich dann wieder neben ihn. Jeremiah kippte die brennende Flüssigkeit mit einem Mal hinunter und verzog kurz das Gesicht. Dann verlor sich sein Blick in dem glänzenden Glas. „Danach versuchte die Lehrerin mich im Büro zu erreichen, aber ich war schon unterwegs“, setzte er seine Erzählung fort. „Naja, du kennst ja unsere kleine Louise“, meinte er mit dem Anflug eines Lächelns, das aber sofort wieder erstarb, „sie ist ein Trotzköpfchen und bestand darauf, die zwei Stationen nach Hause auch schon allein mit dem Bus fahren zu können. Da sie das ab und zu von Helen erlaubt bekommen hatte, ließ die Lehrerin sie gehen, zumal sie wusste, dass man sich in dieser Beziehung auf Louise verlassen konnte.“ Jeremiah drehte das Glas zwischen seinen Händen hin und her. „Auf Louises Klingeln öffnete niemand, also ging sie ums Haus herum, kletterte über den Zaun in den Garten, weil sie hoffte, dass bei solch sonnigem Wetter die Gartentür offen stünde.“ Jeremiah verließ fast die Sp! rache be i dem, was nun kam. „Und da hat sie dann Helen am Baum gesehen.“ Er ließ das Glas aus den Händen fallen und schlug diese dann vors Gesicht. Henry konnte ein Schluchzen hören, das er sein Leben lang nicht vergessen wird. Es kam aus tiefster gequälter Seele eines gebrochenen Mannes. Sein Onkel Sam legte ihm mit etwas hölzerner Bewegung einen Arm um die Schulter.
„Es ist meine Schuld, Sam“, schluchzte Jeremiah Lombard in seine Hände. „Sie war schon seit langer Zeit depressiv. Es…es war als hatte sie eine Mauer um sich herum gebaut. Ich kam nicht mehr an sie heran. Die einzigen Male, wenn ich sie hab Lachen sehen, war, wenn sie mit Louise zusammen war“, brach es aus ihm heraus. „Sobald das Kind nicht in der Nähe war, versank sie in düsteres Grübeln und redete kaum noch mit mir.“ Er wischte sich mit dem Handrücken die feuchten Wangen ab. „Es ist meine Schuld, Sam“, wiederholte er, was Henry dazu bewog, aus seinem Versteck ein wenig hervor zu schauen, um das Gesicht des Erzählers zu betrachten. Es war seine Schuld? Grübelte der Junge erschrocken. Hatte er seine Frau etwa umgebracht. Henry entschloss sich, keinen Mucks von sich zu geben und einfach weiter zu lauschen. Er war sich absolut darüber bewusst, dass der Bann brechen würde, sollte er sich zu Wort melden. Aber er wollte die ganze Geschichte unbedingt hören.
„Ich hab so viele Fehler gemacht, Sam“, fuhr Jeremiah dann auch fort und ließ den Kopf noch ein wenig mehr sinken. „Ich hätte ihr mehr Aufmerksamkeit schenken müssen“, gestand er ein. „Sie hat all diese kleinen unbedeutenden Affären, die ich hatte, viel zu ernst genommen. Mein Gott, ich bin nur ein Mann, ein schwacher, fehlerhafter Mann“, sagte er und machte eine wegwerfende Bewegung mit der rechten Hand.
Was denn für Affären, überlegte Henry mit in Falten gelegter Stirn. Was sind denn überhaupt Affären? Grübelte er wütend. Er hasste es, wenn er etwas nicht verstand. Und ausgerechnet jetzt, wo er es als wichtig empfand, alles zu verstehen.
„Sie hat aber immer gewusst, dass du sie liebst, Jeremiah“, versuchte Sam Groming seinen Freund zu beruhigen.
„Ich weiß nicht, Sam“, widersprach dieser jedoch. „Sie konnte nicht wie ich unterscheiden zwischen Liebe und kleinen Sexabenteuern.“
Henry lief knallrot an auf seinem Lauscherposten.
„Sie hat immer wieder gesagt, dass der Geist stärker sein muss als das Fleisch. Und dass wahre Liebe jegliche Gelüste besiegt. Und deshalb hat sie seit Jahren meine Liebe in Zweifel gezogen, Sam!“ Wieder brach ein lautes Aufschluchzend aus dem Mann heraus und Henry zuckte unwillkürlich zusammen. Sein Onkel starrte leer auf den Boden. Er selbst hatte Jeremiahs Eskapaden mit anderen Frauen nie recht nachvollziehen können. Helen war eine wunderschöne, charmante und intelligente Frau. Sie hatte einen wunderbaren Charakter und jeder, der sie kannte, musste sie einfach lieben. Und sie war stets eine starke Frau gewesen. Doch nun schienen sie ihre Kräfte verlassen zu haben. Jeremiahs Nachlässigkeit und seine Affären mit diversen kleinen Tippsen, Frisösen oder Verkäuferinnen müssen für sie wie Tropfen gewesen sein, die allmählich den Stein höhlten. Nun hatte sich der Stein aufgelöst und Helen hatte aufgegeben. Wie groß muss ihr Schmerz gewesen sein, dass eine gläubige Katholikin wie sie den Freitod wählte, von dem sie doch glaubte, er würde sie direkt in die Hölle befördern. Selbst die Hölle muss ihr im Moment ihrer Entscheidung zum Selbstmord erträglicher erschienen sein, als das Leben an Jeremiah Lombards Seite. Sam Groming betrachtete den eingesunkenen Mann neben sich und spürte sekundenlang Ablehnung und Abscheu in sich aufkommen. Jeder in ganz Creek County hätte die schöne, liebevolle Helen Silverstone gern zur Frau gehabt. Dieser Mann neben ihm hatte sie bekommen und es nicht zu würdigen gewusst. Sam Groming verscheuchte eilig seine Gedanken. Dies war nicht der richtige Moment für Wut und Vorwürfe.
Henry hatte die Knie an die Brust gezogen und seine Arme drumherum geschlungen. Er wartete ungeduldig auf die Fortsetzung der Geschichte. Warum war Louise auf einer Bahre davongetragen worden?
„Was ist mit Louise? Wie hat sie auf den Anblick ihrer toten Mutter reagiert?“ fragte sein Onkel zaghaft just in diesem Augenblick, als hätte er Henrys Gedanken erraten.
Jeremiah Lombard hob den Kopf ein wenig und schniefte. „Minutenlang hat sie nur geschrien. Völlig von Sinnen geschrien“, antwortete er kopfschüttelnd. „Dann ist sie in Ohnmacht gefallen. So hab ich sie vorgefunden, nachdem ich von der Schule hierherkam.“ Beide Männer schwiegen betreten.
Henry traten Tränen in die Augen, als er sich seine vertraute Freundin schreiend und ohnmächtig dort draußen im Garten zu Füßen ihrer erhängten Mutter vorstellte.
Sam Groming legte erneut eine Hand auf Jeremiahs Rücken. „Alles was du dir jetzt bezüglich Helen vorwirfst, Jeremiah“, sagte er mit fester Stimme zu seinem Freund, „musst du an Louise wiedergutmachen. Sie hat jetzt nur noch dich, sie braucht dich. Du musst jetzt stark sein für sie.“ Jeremiah Lombard machte sich unwillkürlich grade. Er wischte sich erneut über die Augen und schob eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Du hast recht, Sam“, stimmte er seinem Nebenmann zu, „ich muss jetzt in erster Linie an Louise denken. „ Er nickte leicht mit dem Kopf, als wolle er damit seine eigenen Worte unterstreichen. „Mein Gott, das arme Kind“, fuhr er fort, als werde ihm die Tragweite der Geschehnisse erst jetzt richtig klar, „sie hat ihre Mutter vergöttert. Die beiden waren immer zusammen. Louise ist total auf ihre Mutter fixiert, immer gewesen.“ Sein Blick ging ins Leere als liefen Louises Kindheitsjahre gerade wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab. „Helen ging mit ihr zur Kirche, Helen kleidete sie immer wie ein Prinzesschen, sie hat ihre alle wichtigen Werte des Lebens vermittelt. Ich war nie da…“, resümierte er mit verbitterter Miene.
„Du solltest dir jemanden zur Hilfe nehmen“, schlug Sam vor. „Helen war doch oft mit deiner Sekretärin Marianne zusammen mit Louise unterwegs. Die drei haben häufig Wohltätigkeitsveranstaltungen für die Kirche organisiert und den Kinder-Bibelkreis gegründet. Soweit ich mitbekommen habe, hängt Louise an Marianne und umgekehrt. Bitte doch Marianne, ab und zu hierher zu kommen und sich um Louise zu kümmern. Ich bin sicher, sie wird dich sehr unterstützen“. Jeremiah blickte ihn nachdenklich an.
„Gute Idee, Sam“, stimmte er ihm zu. „Ich wäre dir dankbar, wenn du sie im Büro anrufst und über alles hier informierst. Ich kann das im Moment einfach nicht“, gestand er mit hängenden Schultern.
Sam Groming klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. „Selbstverständlich, Jeremiah“, erwiderte er. „Ich werde in den nächsten Tagen alles in der Firma regeln und die Belegschaft informieren. Um all diese Dinge brauchst du dich absolut nicht zu kümmern“, versprach er.
Jeremiah Lombard ging zu einem versteckten Safe gegenüber und holte einige Unterlagen daraus hervor, die Sam Groming in den nächsten Tagen brauchen würde, wenn er ihn vertrat. Henry liebte Zahlenkombinationen und beobachtete den Partner seines Onkels dabei.
Kurz darauf trottete Henry unbemerkt von allen Erwachsenen stumm und bleich hinter seinem Onkel her nach draußen. Erst da schien Sam Groming seinen Neffen wieder wahrzunehmen. „Hör zu, Henry, ich fahr dich jetzt nach Hause und dann muss ich noch mal ins Büro. Es kann spät heute Abend werden, sag das bitte deiner Tante.“ Henry nickte wortlos und dachte während der ganzen Heimfahrt nur an Louise. Er hoffte, dass es ihr bald besser ginge und sie sich wieder im Baumhaus treffen könnten, damit sie ihm wie früher alle Geheimnisse verraten konnte.
Doch Louise blieb monatelang weg. Sie wurde zuerst stationär im Krankenhaus behandelt, wobei Dr. Sybill Parker in Jeremiah Lombards Auftrag ihre Genesungsfortschritte beobachtete. Später dann brachte man sie zur Erholung weit weg auf eine Ranch, und danach kam sie in ein Internat, wo sie psychologisch betreut wurde. Allerdings noch nicht von Dr. Parker, denn sie war zu diesem Zeitpunkt noch Allgemeinmedizinerin und begann sich erst einige Wochen nach Helens Tod sich auf Psychiatrie zu spezialisieren. Nach Abschluss dieser Fachrichtung übernahm sie nicht nur Louise physische sondern auch ihre psychische Betreuung. Sybill Parker war mit der Familie Lombard sehr verbunden und zum heutigen Zeitpunkt die einzige Ärztin, die von der Familie konsultiert wurde.
Henry kehrte wieder in die Gegenwart zurück. So wie die Dinge dort laufen, wird sie unter Arbeitsmangel nicht zu leiden haben, dachte er mit bitterer Ironie.
Henry kippte den Rest seines Drinks eilig hinunter, stellte das Glas vor sich auf den Schreibtisch und griff nach seinem Jackett. Entschlossen verließ er das Büro. Er musste verhindern, dass Winthorps Eifersucht das ganze Unternehmen zugrunde richtete und Louise zu allem Überfluss auch noch ihr Vermögen verliert.


Jack bog auf dem Parkplatz des Cafés ein, in dem er sich mit Sarah verabredet hatte. Er schaltete den Motor ab und ließ sich schnaufend in seinem Fahrersitz zurückfallen. Er brauchte jetzt erst ein paar Minuten, um sich zu beruhigen. Der Adrenalinstoß, den ihm Miss Simmons Anruf eben verpasst hatte, musste er erst einmal verkraften. Er lehnte den Kopf nach hinten und schloss sekundenlang die Augen. Diese verdammten Weiber, ging es ihm durch den Kopf. Die eine hält sich nicht an die Regeln, will plötzlich eine „ernsthafte“ Beziehung, die andere ist so indiskret, dass selbst ihr zwanzig Jahre älterer Mann ihr auf die Schliche kommt und jetzt ihm nach dem Leben trachtete. Verdammt, empörte sich Jack. Warum verprügelte der Kerl nicht einfach seine untreue Frau und ließ ihn aus dem Spiel? Wenn nicht er es gewesen wäre, dann ein anderer. Es ging doch eigentlich nicht darum, mit wem diese Schlampe es trieb, sondern darum, dass sie ihm, William Winthorp dem Dritten, gewaltige Hörner aufgesetzt hatte. Jack durfte gar nicht daran denken, was morgen im Büro los sein würde. Garantiert wird Winthorp meinen Kopf fordern, überlegte er und schluckte hart. Und noch sicherer würde Henry Groming wie der Retter in der Not daher kommen und gnädigerweise die Geschäfte übernehmen. Jack kam es plötzlich wie ein Geistesblitz. Vielleicht steckte überhaupt hinter dem ganzen unser unscheinbarer Henry. Diese Hinten-rum-Taktik würde ihm gut zu Gesicht stehen. Er hatte vielleicht ein bisschen in seinem Büro rumgeschnüffelt oder das eine oder andere Gespräch mit der Plappertante Simmons geführt und schon wusste er, mit wem ich ein Verhältnis hatte. Vielleicht hat er Penny irgendeinen Floh ins Ohr gesetzt. Das erklärte auch ihren plötzlichen Stimmungswandel vorhin am Telefon. Sie klang, als hätte sie irgend einen Trumpf gegen ihn in der Hand. Und dann könnte Henry auch noch Winthorp über ihn und Sarah informiert haben. Die beiden hatten sich immer gemocht und manche kleine Abwicklung getätigt, ohne ihn, Jack, groß einzuweihe! n. Jack öffnete schlagartig die Augen und richtete sich kerzengrade in seinem Sitz auf. Natürlich! Es musste Henry sein, der hinter all dem steckte. „…Der Bank großen finanziellen oder Imageschaden zufügen, hieß, mit einem Tritt in den Hintern gefeuert werden zu können!“ rief er sich die Klausel aus dem einst von Lombard und Groming geschlossenen Vertrag ins Gedächtnis. Henry würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens die Bank übernehmen, da Winthorp und gleich danach sicher auch andere Großkunden Jacks Kopf fordern würden, und zweitens hätte er Jack vor Louise als Weiberheld und untreuen Ehemann enttarnt. Sie würde die Scheidung einreichen und dann hatte er freie Fahrt in ihr Bett und würde sie heiraten, kaum dass die Tinte auf der Scheidungsurkunde getrocknet war. „Henry, du verdammter Hurensohn!“ schimpfte Jack laut vor sich hin. Doch sogleich fühlte er sich auch wieder beruhigter und stärker. Denn nun kannte er seinen Gegner und konnte den Kampf aufnehmen. „Wollen doch mal sehen, wessen Kopf Winthorp am Ende auf einem Silbertablett präsentiert haben möchte, Henry“, sagte er mit blitzenden Augen. „Und ob Louise dir am Ende überhaupt noch `Guten Tag` sagen wird!“ Er stieg aus dem Wagen mit dem festen Entschluss, Sarah schnell abzufertigen, denn es gab jetzt wichtigere Dinge zu erledigen.



Marianne saß im Dunkeln. Sie rauchte eine Zigarette und stieß den Qualm in großen Schwarten aus. Sie rauchte nur heimlich und auch das nur selten. Sie hasste es, diese Schwäche zu haben und sie schämte sich dafür. Schwächen waren ihr ein Graus. Von jeher. Und doch war auch sie ihnen manchmal unterlegen. Ihre größte Schwäche war einst Abraham Silverstone gewesen. Er war um einiges Älter als sie. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, selbstsicher, fleißig und umsichtig. Er war ein großgewachsener Mann mit vollem graumelliertem Haar und breiten Schultern, an denen sich Marianne damals so manches Mal ausweinen konnte. Er verkörperte alles, was Marianne immer vermisst hatte. Ihre Eltern waren bitterarm und noch dazu schwere Alkoholiker gewesen. Die ersten neun Jahre ihres Lebens hatte Marianne die Hölle auf Erden gehabt. In der Schule wurde sie aufgrund ihrer schäbigen Kleidung gehänselt und zu Hause wurde sie fast allabendlich von ihrer betrunkenen Mutter geschlagen und mehrmals im Monat vom Vater sexuell missbraucht. Sie war ein sehr schmächtiges, klein gewachsenes Mädchen mit einem puppenhaft hübschen Gesicht, umrahmt von goldblondem langen welligem Haar. Sie war so verschüchtert, dass sie in der Schule nie ein Wort von sich gab, geschweige denn irgend jemandem von ihren häuslichen Tortouren erzählte. Kurz nach ihrem neunten Geburtstag dann erschien die Polizei an der Wohnung der Simmons´. Eine Nachbarin hatte angezeigt, dass sie aus der Wohnung häufig abends Kindergeschrei höre. Unglücklicherweise waren Mariannes Eltern an diesem Abend noch nicht zu betrunken, um den Polizisten eine Schmierenkommödie vorzuspielen. Sie nahmen die bleiche Marianne in die Mitte und versicherten, dass das Geschreie daher rühre, dass ihre kleine Tochter sich einfach nicht die langen dicken Haare waschen lassen wolle und jedes Mal ein Heidentheater veranstaltete, wenn die Mutter versuche, die prachtvolle Mähne nach dem Waschen zu kämmen. Die Polizisten schienen zwar ein wenig misstrauisch, zogen aber unverrichteter Dinge wied! er ab. U nd dann brach für Marianne die Hölle los. Zuerst wurde sie in ihr Zimmer gesperrt. Nebenan im Wohnzimmer betranken sich die Eltern sinnlos, um anschließend das völlig verängstigte Kind aus dem Bett zu zerren, es zu verprügeln, bis Blut aus Nase und Mund hervorquoll und schließlich verging sich der Vater wieder an ihr. Danach verschwanden beide im Schlafzimmer und ließen sich wie bewusstlos aufs Bett fallen. Marianne hatte Todesangst. Das Blut hörte nicht auf zu fließen und sie glaubte, daran ersticken zu müssen. Auf allen Vieren kroch sie zur Wohnungstür, öffnete diese mit letzter Kraft, krabbelte weiter bis zum Treppenabsatz des Hausflurs und rollte schließlich bewusstlos die Treppen hinunter. Von da an wusste sie nichts mehr. Irgendwann erwachte sie und befand sich in einem Krankenhaus. Ein Arzt saß an ihrem Bett und versuchte, das zitternde Mädchen zu beruhigen. „Es ist alles gut, Kind“, sagte er mit leiser sonorer Stimme. „Du musst jetzt erst einmal gesund werden.“ Marianne röchelte, ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich als habe sie gerade einen Dauerlauf hinter sich. „Meine Eltern“, hauchte sie, „wo sind sie?“
Der Arzt nahm einen ernsten Gesichtsausdruck an. „Deine Eltern wurden festgenommen, Marianne“, informierte er sie. „Du wirst nicht wieder zu ihnen zurück müssen“. Das erleichterte Aufseufzen des Mädchens trieb dem Arzt Tränen in die Augen. Anhand ihres körperlichen Zustandes ahnte er, was dieses kleine Wesen durchmachen musste, von ihren seelischen Qualen gar nicht zu sprechen.
„Wenn du wieder gesund bist, kommst du in ein kirchliches Kinderheim, Marianne“, erklärte er ihr mit einem mitleidigen Lächeln auf dem Gesicht. „Dort wirst du ein eigenes kleines Zimmer haben, die Schule besuchen und von liebevollen Nonnen umgeben sein.“ Für Marianne klangen diese Worte wie die Verkündung des Paradieses selbst. Nie wieder zu ihren Eltern, eine neue Schule, liebevolle Nonnen. Stumme Tränen rannen ihre weißen Wangen hinab. „Danke“, flüsterte sie und fiel wieder einen einen tiefen Schlaf, doch diesmal lag ein kleines Lächeln auf ihren Lippen.
Der Rest ihrer Kindheit verlief wunderbar. Sie wurde eine eifrige, gelehrige Schülerin, die den Nonnen auch nach Unterrichtsschluss gern zu Diensten war, sie las die Bibel mehr als einmal und beeindruckte die Nonnen gern durch Zitate daraus. Nachdem sie erfolgreich eine Sekretärinnenschule besucht hatte, entdeckte Abraham Silverstone das fleißige zuverlässige Mädchen. Er war auf der Suche nach einer Sekretärin für sein Vorzimmer. Eigentlich hatte er sich eine etwas erfahrenere Sekretärin vorgestellt, aber jedes Mal, wenn er mit seiner Frau sonntags die Messe in der Kirche neben dem Heim, in dem Marianne gelebt hatte, besuchte, wurde ihm von den Nonnen die junge Marianne Simmons ans Herz gelegt. Sie schwärmten ihm von ihrem Eifer, ihrer Zuverlässigkeit und ihrer tiefen Gläubigkeit vor und das, obwohl sie durch ihr Elternhaus einen so schweren Start ins Leben erfahren hatte. Abraham Silverstone erklärte sich schließlich bereit, Marianne für drei Monate auf Probe einzustellen. Wie nicht anders zu erwarten, bestand Marianne die Probezeit mit Bravour und erhielt anschließend ihren ersten festen Arbeitsvertrag bei der angesehenen Privatbank Silverstone & Groming.
Marianne nahm einen weiteren tiefen Zug von ihrer Zigarette, bevor sie sich erneut ihren Erinnerungen hingab, die sie in eine Zeit vor über vierzig Jahren zurückführte. Abraham Silverstone war ein guter Chef. Selbst wenn der jungen Marianne mal Fehler unterliefen, was äußerst selten vorkam, denn sie hasste es, ihren Mentor zu enttäuschen, sah Silverstone lächelnd darüber hinweg. Die junge Frau wunderte sich manchmal, wie gelassen und ausgeglichen ihr Chef immer war. Denn Schicksalsschläge verschonten auch ihn nicht. Seine Frau litt seit kurzem an Multipler Sklerose und zudem war das Paar kinderlos geblieben, obwohl sie von den Nonnen wusste, dass er und seine Frau sich nichts sehnlicher wünschten als Nachwuchs. Jeden Sonntag zündeten sie zu Füßen der Heiligen Maria eine Kerze an, damit sie ihnen doch ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen möge. Marianne war mit ihren einundzwanzig Jahren noch immer allein. Sie war bildhübsch und an Verehrern mangelte es nicht. Aber die Erfahrungen ihrer Kindheit verfolgten sie noch heute in so manchem Alptraum. Sie konnte sich nicht vorstellen, Freude daran zu finden, sich einem jungen Mann hinzugeben. Sie setzte das Wort Sex gleich mit Schmerzen, Demütigung und Pein. Der einzige Mann, von dem sie es ertragen konnte berührt zu werden, war Abraham Silverstone. Manchmal, wenn er ihr beim Schreiben eines Briefes auf der Schreibmaschine über die Schulter blickte, legte er gedankenverloren eine Hand auf ihre Schulter oder wenn er sie für eine besonders gute Arbeit lobte, strich er ihr sanft über den Arm. Seine Berührungen empfand sie nicht als widerlich und abstoßend. Manchmal wünschte sie sich sogar, sich einfach mal an seine breite Schulter zu lehnen und Trost und Sicherheit zu spüren. Und dann kam jener schicksalhafte Tag im Juli, Es war heiß und stickig in der ganzen Stadt. Die meisten Mitarbeiter der Bank kamen schon durchgeschwitzt in die Büros. Ausgerechnet an diesem Tag waren auch noch die Klimaanlagen des Firmengebäudes ausgefallen. Marianne war zum ersten Mal, seit sie ! für Abra ham Silverstone arbeitete, zu spät gekommen. In der Nacht davor hatte sie ein besonders schwerer Alptraum gequält. Ihr Vater war ihr erschienen. Er hatte mit seinem hämischen Grinsen gesagt, dass die schönen Zeiten für sie endgültig vorbei waren. Dass sie all die Jahre im Kinderheim und die anschließende Zeit bei Silverstone & Groming nur geträumt habe und dass sie von nun an in ihrer alten Wohnung leben müsse als seine Sexsklavin und Haushälterin. Er würde sie nie wieder frei lassen und ihr für immer den Mund verkleben, damit sie nie wieder schreien oder anderen ihre dreckigen Lügen auftischen kann. Schweißgebadet war sie am Morgen erwacht. Ihr Gesicht war nass von geweinten Tränen, ihr Körper zitterte noch immer. Sie brauchte eine Weile, um überhaupt zu begreifen, dass es sich um einen Alptraum und nicht um die Realität gehandelt hatte. Mit schweren müden Gliedern hatte sie sich unter die eiskalte Dusche gestellt und blieb dort solange reglos stehen, bis ihre Lippen schon blau anliefen vor Kälte. Danach trank sie noch einen sehr starken Kaffee und machte sich schließlich auf den Weg zur Arbeit.
Abraham Silverstone blickte ihr erstaunt entgegen, als sie mit noch immer feuchtem Haar sein Büro betrat. „Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, Mister Silverstone“, murmelte sie schuldbewusst. „Es wird nie wieder vorkommen“. Marianne hatte die panische Angst befallen, sie könnte vielleicht ihren geliebten Job bei Silverstone & Groming verlieren, weil sie zu spät kam.
„Kein Problem, Marianne“, erwiderte Abraham Silverstone mit einem nachsichtigen Lächeln. Aber er merkte, dass mit der jungen Frau etwas nicht stimmte. „Alles okay bei Ihnen?“ fragte er deshalb nach und legte seinen Stift zur Seite. Marianne errötete und senkte die Lider. „Alles in Ordnung, Mister Silverstone“, kam es fast flüsternd von ihr, „ich hatte nur… es… es ging mir letzte Nacht nicht so gut“, stotterte sie, „aber jetzt ist wieder alles okay“. Sie griff mit zittrigen Fingern nach den Unterlagen auf seinem Schreibtisch wie an jedem Morgen, um sie anschließénd abzutippen. „Ich hole die Zeit nach Feierabend nach“, setzte sie noch eilig hinzu und verschwand in ihr Vorzimmer, bevor ihr Chef etwas sagen konnte. Eine Rüge seinerseits hätte sie in ihrem momentanen Zustand einfach nicht ertragen können. Abraham Silverstone saß noch lange da und blickte auf die verschlossene Tür zum Vorzimmer. Die junge Frau tat ihm sehr leid. Sie wirkte immer so zerbrechlich und schutzbedürftig. Von den Nonnen des christlichen Kinderheims hatte er nur ansatzweise von ihrer schrecklichen Kindheit im Elternhaus erfahren. Und schon das Gehörte hatte Wut auf so grausame, verantwortungslose Eltern wie die Marianne Simmons´ in ihm hervorgerufen.
Als sich am späten Nachmittag die Bankbüros allmählich geleert hatten, wollte sich auch Abraham Silverstone auf den Heimweg machen. Kopfschüttelnd betrat er das Vorzimmer, in dem Marianne tatsächlich noch immer fleißig arbeitete, obwohl sie längst Feierabend gehabt hätte. „Jetzt ist aber mal Schluss, Marianne“, tadelte er sie lächelnd. „Draußen scheint noch ein wenig die Sonne und hier drinnen ist es wie im Backofen. Sie sollten rausgehen und in einem der Straßencafés einen kühlen Drink nehmen“, schlug er ihr väterlich vor.
„Ich gehe nie aus“, rutschte es ihr ungewollt heraus. Sofort röteten sich wieder ihre Wangen. Abraham Silverstone setzte seinen Aktenkoffer ab und trat hinter ihren Schreibtisch. Er legte ihr vertraulich eine Hand auf die Schulter. „Ich merke bereits seit heut morgen, dass irgend etwas mit Ihnen nicht stimmt, Marianne“, begann er zaghaft. „Möchten Sie vielleicht mit mir darüber reden?“ bot er mit sanfter Stimme an.
Vielleicht war es die zarte Berührung seiner Hand, vielleicht der Alptraum der letzten Nacht, vielleicht die Hitze des Tages, vielleicht auch alles zusammen. Marianne sprang von ihrem Stuhl auf und warf sich in Abraham Silverstones Arme. Bitterlich begann sie an seiner Schulter zu weinen und ihm von den Geistern der letzten Nacht zu erzählen. Ohne sie zu unterbrechen lauschte er ihren verzweifelten Ausführungen und strich ihr dabei immer wieder beruhigend übers Haar oder den Rücken. Marianne hatte sich noch nie im Leben so geborgen gefühlt wie in diesem Moment. Und Abraham Silverstone atmete den Duft ihrer Haare ein, spürte ihren zarten, zerbrechlichen, jungen Körper unter seiner Hand. Es stieg eine solche Erregung in ihm auf, dass er sich dafür schämte. In dem Moment hob Marianne ihm ihr verweintes hübsches Gesicht entgegen und noch bevor er sich versah, presste er seine Lippen auf ihre. Alles um die beiden herum versank in einem dunklen Nebel. Beide hatten in dem anderen das gefunden, was sie seit langem gesucht hatten. Sie liebten sich auf dem Boden des Vorzimmers immer und immer wieder bis tief in die Nacht. Marianne konnte nicht fassen, dass körperliche Liebe etwas so wundervolles sein kann. Von diesem Augenblick an war sie Abraham Silverstone völlig erlegen.
So oft es ging trafen sie sich von nun an heimlich. Marianne hatte zwar stets ein schlechtes Gewissen wegen Abrahams Ehefrau, aber er sagte ihr, dass seit Beginn ihrer Krankheit Sex nicht mehr zu seinem Eheleben gehört. Also nahm sie seiner Ehefrau nichts weg. Natürlich hoffte Marianne auf eine Hochzeit mit Abraham, gleichzeitig respektierte sie aber seine Entscheidung, sich nicht von seiner kranken Frau scheiden zu lassen. Diese Bedingung hatte er ihr von Anfang an klargemacht. Sollte seine Frau ihrer Krankheit eines Tages erliegen, würde er Marianne selbstverständlich sofort heiraten. Marianne gab sich damit zufrieden, sie hatte auch keine andere Wahl, denn ein Leben ohne Abrahams Liebe konnte sie sich nicht mehr vorstellen. Monatelang lebte sie wie in einem Rausch. Sie existierte nur für die Stunden mit ihm. Und dann wusste sie eines Tages, dass sie ein Kind von Abraham erwartete. Innerlich war sie wie zerrissen. Gab es etwas schöneres, als ein Kind von dem Mann zu erwarten, den man über alles liebte? Andererseits konnte sie unmöglich als nicht verheiratete Frau ein Kind zur Welt bringen, nicht in Creek County. Alle Menschen hätten sie betrachtet wie eine Hure, und das war das Letzte, was Marianne hätte ertragen können. Denn genau als solche hatte ihr Vater sie immer betitelt. Sie musste mit Abraham reden. Er würde eine Lösung finden. Vielleicht entschloss er sich unter diesen Umständen ja doch zu einer schnellen Scheidung von seiner Frau. Marianne raffte all ihren Mut zusammen und ging an jenem Morgen in sein Büro. Sie schloss leise die Tür hinter sich, woraufhin Abraham fragend zu ihr aufblickte.
„Ich muss dir etwas sagen“, begann sie unsicher und verhakte die Finger ineinander.
„Was gibt´s denn, mein Schatz?“ hatte er lächelnd gefragt.
„Ich… wir… bekommen ein Baby“, brachte sie mühsam um Fassung ringend hervor und senkte augenblicklich den Blick zu Boden. Abraham stand wie in Zeitlupe von seinem Stuhl auf und kam auf sie zu. Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht seinem entgegen. Sie war sicher in seinen Augen, in seinen Zügen Freude und Glück zu erkennen. Doch dann enttäuschte er sie so bitterlich…

Marianne blinzelte kurz mit den Augen durch den Rauch ihrer Zigarette. Sie warf einen Blick auf die Leuchtzeiger ihrer Armbanduhr. Dann drückte sie hektisch die Zigarette in einem Aschenbecher aus und entfernte die Kippe gleich wieder daraus. Sie hatte jetzt wichtigeres zu erledigen, als sich traurigen, alten Erinnerungen hinzugeben.


Jack hatte sich mit Sarah eine hübsche kleine Geschichte ausgedacht, die diese ihrem Mann präsentieren sollte. Dass sie ihm eine Affäre mit einem anderen Mann gestehen musste, war klar. Winthorp würde ihr nichts mehr glauben, wenn sie das leugnete. Aber sie sollte sich tränenreich damit rausreden, dass er sie einfach zu sehr vernachlässigt habe und sie sich als Frau nicht mehr attraktiv gefunden hätte und so weiter und so weiter. Was Frauen halt so jammern. Aber sie sollte ihm Henry Groming als Liebhaber verkaufen! Sie sollte ihm erzählen, er habe sie verführt und ihr verraten, dass auch William Affären hätte und sie somit auch das Recht auf einen Seitensprung habe. Und als Henry hörte, dass seine Affäre mit ihr aufgeflogen sei, habe er kurzerhand Jack die ganze Sache in die Schuhe schieben wollen, da dieser ja ohnehin als Weiberheld bekannt war, und da Henry dann freie Bahn auf den Chefposten hätte. Jack versprach Sarah dafür ein fettes Geheimkonto auf einer Schweizer Bank, falls Winthorp an Scheidung denken sollte. Jack rieb sich zufrieden die Hände, als er über den Parkplatz zu seinem Auto ging. Die Sache mit Sarah war so reibungslos verlaufen, dass er sich nun zuversichtlich auf den Weg zu Penny Harpers Appartement machte, um auch sie mit einem ähnlichen Konto zu ködern und herauszufinden, warum sie vorhin am Telefon so siegessicher geklungen hatte. Er war sich sicher, dass auch dahinter dieser verdammte Henry steckte.

Jack parkte vor Pennys Haus. Er sah von unten Licht bei ihr brennen. Immer zwei Treppen nehmend lief er bis in den zweiten Stock zu ihr hinauf. Er schwor sich, das Problem mit Penny noch heute Abend zu lösen. Er hatte es satt, sich von diesen verdammten Weibern unter Druck setzen zu lassen. Erst Penny, dann Sarah. Er durfte nicht zulassen, dass seine Ehe oder seine Karriere gefährdet wurden. Er donnerte mit der geballten Faust gegen die Tür, was einen lauten Hall im Treppenhaus hervorrief. Jack schrak leicht zusammen. „Penny, mach schon auf“, zischte er am Türspalt. Zwar hatte er noch immer den Zweitschlüssel ihres Appartements, doch der lag in einer Schublade im Büro. Eine Weile später lief er eilig die Treppen wieder hinab, als sich im ersten Stock eine Wohnungstür einen Spaltbreit öffnete. Doch Jack war zu sehr damit beschäftigt, schnellstens das Haus zu verlassen, als dass er es registrierte. Er beschloss, heute Nacht nicht in sein Zuhause am Stadtrand zu fahren, sondern in einem kleinen Hotel in der Innenstadt zu übernachten. Er wollte nicht riskieren, Winthorp in die Arme zu laufen, bevor Sarah ihm ihre Geschichte auftischen konnte. Winthorp war durchaus zuzutrauen, dass er mit geladener Knarre vor Jacks etwas abgelegenem Haus auf dessen Rückkehr wartete. Er wühlte kurz in seinen Jackentaschen. Hatte er alles Wichtige bei sich, was er brauchte? „Geldbörse, Notizbuch, Autoschlüssel…“, murmelte er vor sich hin, während er den Inhalt seiner Taschen auf den Beifahrersitz seines Autos legte. „Haustürschlüssel“, fuhr er fort, als sich seine Stirn in Falten legte. Der Büroschlüssel fehlte. Natürlich! Dachte er, ich muss sie bei Louise vergessen haben! Der Zweitschlüssel befand sich im Büro. Aber da Marianne ohnehin vor ihm dort sein würde, machte er sich darum keine weiteren Gedanken.
Kurz darauf ging dann der Notruf einer besorgten älteren Frau ein, die vermutete, ihrer jungen Nachbarin sei etwas zugestoßen.



„Ego te absolvo. In Nomini Padri et Figli et Spiritu Sankti - Amen“, sagte der Priester, nachdem Jeraldine Hope ihre Beichte abgelegt und er ihr daraufhin das Beten eines ganzen Rosenkranzes auferlegt hatte. „Ich hoffe, deine nächste Beichte wird nicht wieder ganze drei Monate dauern und vor allem nicht zu so später Stunde, Jeraldine“, setzte der Priester noch hinzu, bevor sie den Beichtstuhl verließ. Sie nickte nur kurz und hielt den Kopf demütig gesenkt. Bei ihren Arbeitszeiten war es ihr manchmal einfach erst am späten Abend möglich, Privatangelegenheiten zu erledigen. Hätten die Supermärkte nicht rund um die Uhr offen, wäre sie ohnehin längst verhungert. „Ein ganzer Rosenkranz“, grummelte sie unwirsch vor sich hin, „bloß für ein paar erotische Gedanken an einen verheirateten Kollegen“, maulte sie. „Wenn ich sie in die Tat umgesetzt hätte, na gut, aber nur fürs Denken einen ganzen Rosenkranz…“
Außerdem konnte sie es nicht ausstehen, dass der Priester sie immer bei ihrem vollen Namen nennen musste. Ihre Kollegen im Revier und sämtliche Freunde und Familienmitglieder nannten sie immer nur Jerry. Jedenfalls alle bis auf ihre Tante Joanna, die ihr diesen unmöglichen Namen verpasst hatte und der Priester, der sie getauft, ihr die Kommunion und heute eben die Beichte abgenommen hatte. Jerry Hope war bei ihrer Tante und ihrem Onkel aufgewachsen, nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als Jerry erst drei Monate alt war. So tragisch das war, hätte Jerry jedoch keine liebevolleren, gütigeren Ersatzeltern haben können als ihre Tante Joanna und ihren Onkel Moe. Nur eben die Sache mit dem Namen! Ihre Tante hatte einen Faible für hochgestochene Namen. Sie fand Jeraldine hörte sich so vornehm, so aristokratisch an. Tja, und damit passte der Name eben überhaupt nicht zum locker legerem, leicht chaotischem Lieutenant Jerry Hope. Es war ein running Gag zwischen Jerry und ihrer Tante, dass diese sie stur Jeraldine nannte, und dafür wiederum von ihrer Nichte Tante Jo genannt wurde, was diese, wie könnte es anders sein, nicht ausstehen konnte.
Jerry Hope hatte die Kirche verlassen und trat in das Dunkel der spätabendlichen Stadt. Im selben Moment ging ihr Pieper los. „Hab total vergessen, das Ding auszuschalten“, sagte sie erschrocken zu sich selbst. „Wenn das im Beichtstuhl passiert wäre…“, überlegte sie und konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen, „das hätte glatt noch einen Rosenkranz gegeben.“ Mit zusammen gekniffenen Augen blickte sie hinab auf den Pieper. Es war ihr Revier. Jerry eilte zu ihrem Auto und nahm umgehend Funkkontakt mit dem diensthabenden Officer auf. „Was gibt´s denn?“ rief sie ins Funkgerät. „Ich komme gerade von der Beichte“, fügte sie amüsiert hinzu, „brumm mir bloß nichts auf, das mich morgen gleich wieder dahin zwingt“. Es folgte ein kurzes Knacken, dann drang eine Meldung an ihr Ohr, die ihr sofort das Lächeln auf dem Gesicht gefrieren ließ.
„Wir haben eine tote Frau in ihrer Wohnung vorgefunden“, kam es knisternd aus dem Gerät. „Getötet durch Messerstiche im Brust- und Magenbereich und im Unterleib. Außerdem wurden der Toten Hände und Füße gefesselt“, informierte sie der Officer weiter. Jerry schluckte. Sie konnte sich aufgrund ihrer Erfahrungen bei der Mordkommission bildlich vorstellen, was die Kollegen da vorgefunden hatten.
„Ist der Coroner schon da?“ versuchte sie, sich an Sachlichkeit und Professionalität festzuhalten.
„Ja“, wurde ihr geantwortet. Dann gab ihr der Kollege die Adresse durch und Jerry machte sich umgehend auf den Weg zum Tatort.
„Großer Gott“, mumelte Jerry Hope. Sie hatte im Laufe ihrer Arbeit bei der Mordkommission schon einiges gesehen. Aber ein solcher Anblick war dann doch nicht alltäglich. Jerry kramte den Ausweis der Toten aus einer pinkfarbenen Lackhandtasche und warf abwechselnd Blicke auf die Leiche und den Ausweis. „Penny Harper“, rief sie ihrem Kollegen zu, der sich gerade mit jemandem von der Spurensuche unterhielt. „Fünfundzwanzig Jahre alt, lebt seit sechs Jahren hier in Creek County“, fuhr sie fort. An den Händen und Füßen der Toten waren noch die dicken Seile, mit denen sie gefesselt worden war. Überall im Wohnzimmer sah man noch Blutspuren. Die Anordnung der Blutflecken auf dem hellen Teppich ließen vermuten, wo der erste Messerstich auf das Opfer niederging, und wo sie schließlich am längsten in ihrem Todeskampf gelegen hatte. Ihr Kollege hatte sich neben sie gestellt und betrachtete ebenfalls das verschmierte Blut.
„Muss ´ne Menge Kraft gekostet haben, immer wieder auf den Körper einzustechen, Messer rausziehen und wieder drauf…“, kommentierte er und legte nachdenklich eine Hand ans Kinn.
„Eine Menge Kraft oder eine Menge Hass“, erwiderte Jerry leise.
Sie ging von Zimmer zu Zimmer und schaute nach weiteren Anzeichen von Blut. Doch erst in der Küche wurde sie fündig. Dort lagen mehrere blutverschmierte Küchentücher.
„ Conny, komm doch mal her“, rief sie ihren Kollegen. Jerry liebte die Verniedlichung von Namen, deshalb hatte sie ihren Kollegen Conrad Hayes vom ersten Tag an nur Conny genannt. „Die sollte die Spurensicherung unbedingt im Labor analysieren lassen“, meinte sie mit in Falten gelegter Stirn. „Vielleicht ist etwas von dem Blut vom Täter. Wenn ein Kampf stattgefunden hat, könnte Penny Harper ihm vielleicht eine Wunde zufügt haben“, mutmaßte sie. Conny glaubte eher, dass der Täter das Messer mit den Tüchern abgewischt hat. Er rief jedoch die Spurensicherung zu sich.
Jerry ging erneut ins Wohnzimmer und warf einen weiteren Blick auf die Tote Penny Harper. Zehn Messerstiche. Der oberste direkt unter der Kehle, der unterste wies eine klaffende Wunde über dem Schambein auf. Dazwischen waren Stiche untereinander von der Lunge über den Bauch bis zum Unterleib. Weiterhin waren zwei Stiche jeweils nebeneinander in der linken, sowie der rechten Brust festgestellt worden. Conny war ihr ins Wohnzimmer gefolgt. „Da muss jemand mächtig in Rage gewesen sein“, kommentierte er den völlig zerschnittenen Torso der Frau. Jerry warf ihm einen strafenden Blick zu, sagte aber nichts. Irgend etwas anderes beschäftigte sie gerade. Sie wusste nur selbst noch nicht, was es war. Beim Anblick der Messerstiche hatte irgendeine Alarmglocke in ihr angeschlagen. Sie kam nur nicht gleich drauf, was dieser Anblick in ihr hervorrief. Minutenlang stand sie einfach nur da, presste mit dem Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand gegen ihre Schläfe, wie sie es häufig tat, wenn sie irgendwas beschäftigte und sie nicht gleich drauf kam. Umso erschütterter schlug sie dann eine Hand auf den Mund, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel.


Lieutenant Jerry Hope betrachtete die gesamte Szenerie am Tatort wieder und wieder bis sie Conny ihre Vermutung mitteilte. „Es ist ein religiös motivierter Mord, Conny“, sagte sie leise und bat einen Kollegen der Spurensicherung, noch einmal die Decke, die gnädig über die Tote gelegt war, abzunehmen. Conny schaute sie neugierig an. „Wie kommst du darauf?“ fragte er und folgte ihrem Blick auf die Leiche. Er kannte Jerry gut genug, um zu wissen, dass sie nie vorschnell Vermutungen von sich gab.
„Sieh dir mal die Messereinstiche an“, forderte sie ihn auf und wies mit ihrem rechten Zeigefinger auf eine Wunde nach der anderen. „Zehn Messerstiche angeordnet wie ein riesiges Kreuz“, sagte sie.
Conny musste ihr zustimmen. Diese Erkenntnis machte die Ermittlungen aber nicht gerade einfacher.
„In einem erzkatholischen Nest wie unserem fällt irgendein religiöser Fanatiker nicht gerade auf…“, meinte er resigniert.
„Ich glaube nicht, dass es sich bei dem Täter um irgendeinen religiösen Fanatiker handelt“, gab Jerry ihm zu bedenken. „Also, versteh mich nicht falsch“, korrigierte sie sich, „natürlich muss der Täter schon religiös fanatisch sein, aber ich denke nicht, dass Penny Harper wahllos zum Opfer wurde“, erklärte sie ihm ihre Gedanken, was ihr im Moment gar nicht so leicht fiel. „Penny Harper muss irgendetwas getan oder gesagt haben, was einen religiösen Menschen so aufgebracht hat, dass er sie im Namen Gottes dafür gerichtet hat“.
„Du hättest Psychologin werden sollen“, sagte Conny und grinste sie schräg an.
„Du wirst lachen“, erwiderte sie, „ich wollte mal Profilerin werden fürs FBI, aber ich bin dann doch hier bei der Mordkommission hängen geblieben“. Sie zuckte gelassen mit der Schulter.
„Könnte das irgendwas mit mir zu tun haben?“ scherzte Conny und machte sich unwillkürlich grader.
„Selbstverständlich“, ging Jerry auf seinen Scherz ein, „ich wusste, dass ich in dir keinen Konkurrenten habe und neben dir immer glänzen werde“. Conny streckte ihr lachend die Zunge raus.
„Also, was hältst du von meiner Theorie?“ fragte Jerry und wurde wieder ernst.
„Ich denke, du könntest absolut recht haben“, stimmte er zu. „Wir sollten als erstes ihr privates und berufliches Umfeld durchleuchten, vielleicht stoßen wir dabei auf jemanden, der Penny nicht besonders mochte und auch noch sonntags zur Messe geht“, meinte er flapsig und machte sich auf die Suche nach Hinweisen darauf, wer Penny Harper war.


„Wer hat eigentlich die Polizei zu Penny Harpers Appartement gerufen?“ fragte Lieutenant Jerry Hope zurück im Revier ihren Kollegen Conny.
„Eine ältere Nachbarin“, erwiderte er und kramte die Zeugenaussage der Nachbarin zwischen seinen Unterlagen hervor. „Der Sergeant, der als erstes dort war, hat mit ihr gesprochen“, fügte er hinzu und hielt schließlich das Blatt mit der Aussage in die Höhe. „Hier steht´s“, fuhr er fort und begann, Jerry die Aussage vorzulesen. „Ich wollte Miss Harper am Abend ein Schüsselchen mit Suppe rauf bringen, wie ich es seit einer Woche täglich tat. Miss Harper war krankgeschrieben und sie sah wirklich sehr blass und abgemagert aus.“ Conny fuhr mit seinem Zeigefinger die gelesenen Sätze nach. „Ich wusste, dass sie zu Hause sein musste. Erstens bekomme ich immer mit, wenn jemand das Haus betritt oder verlässt“, las Conny und zog leicht amüsiert die Augenbrauen in die Höhe, „außerdem hätte mir Miss Harper Bescheid gesagt, weil sie wusste, dass ich abends die Suppe bringen würde. Sie war sehr dankbar dafür, dass ich sie versorgte. Sie hatte ja sonst niemanden in der Stadt.“ Conny hielt kurz inne und blickte zu Jerry hinüber, die ihm mit einem Kopfnicken gebot, weiter zu lesen. „Okay“, machte Conny, atmete kurz durch und fuhr fort: „Ich klingelte immer wieder und klopfte mehrfach laut gegen die Tür. Doch in der Wohnung regte sich nichts. Da wusste ich, dass etwas passiert sein musste und rief die Polizei. Die haben dann die Tür aufgebrochen und die junge Frau tot aufgefunden“, endete Conny den Bericht.
Jerry wirkte minutenlang gedankenverloren, während Conny sie erwartungsvoll anschaute. „Sie bekommt also immer mit, wenn jemand das Haus betritt oder verlässt…“, murmelte sie vor sich hin. „Hat der Sergeant denn nicht gefragt, ob sie im Laufe des späten Nachmittags oder am Abend irgend eine fremde Person im Haus bemerkt hat?“ rief sie zu Conny hinüber, der umgehend auf die Zeugenaussage schaute. „Was sagt eigentlich der Coroner? Wann ungefähr wurde Miss Harper getötet?“ setzte sie noch hinzu.
„Also der Sergeant hat nur die Aussage aufgenommen, die ich dir eben vorgelesen habe“, erwiderte Conny, wobei Jerry genervt die Augen verdrehte. „Die Todeszeit wurde vom Coroner auf neunzehn bis einundzwanzig Uhr festgesetzt“, beantwortete er ihre zweite Frage.
„Okay“, meinte Jerry mit entschlossener Miene, „dann müssen wir zwei noch einmal die Nachbarin verhören, ob ihr heute irgend etwas Ungewöhnliches im Haus aufgefallen ist“. Sie erhob sich von ihrem Drehstuhl und griff nach der abgewetzten Wildlederjacke, die sie eigentlich immer trug, ob Winter oder Sommer. Im Revier war sie schon zu Jerrys Erkennungszeichen geworden. Conny folgte ihren eiligen Schritten und chauffierte sie anschließend zu Penny Harpers Haus zurück.
„Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, Misses Kentrall“, sagte Jerry mit bedauerndem Gesichtsausdruck, „aber wir müssen Sie noch einmal belästigen.“ Sie zeigte gleichzeitig mit Conny ihre Dienstmarke durch den Türschlitz, den die ältere Dame geöffnete hatte.
„Moment“, erwiderte diese, schloss die Tür kurz und nahm die Vorhängekette von innen ab, um dann die Tür weiter zu öffnen. „Kommen Sie doch rein“, bat sie die beiden Kriminalbeamten und führte sie in ein kleines Wohnzimmer, dass vollgestellt mit alten, abgewetzten Möbeln und unendlich viel Nippes war. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich hereingelassen habe“, meinte sie, „aber heutzutage passieren so viele schreckliche Dinge und so viele Verrrückte laufen frei herum, da muss man einfach vorsichtig sein, vor allem als älterer Mensch“, erklärte sie ihre anfängliche Zögerlichkeit.
„Vollkommen richtig“, bestätigte Conny lächelnd und blickte verstohlen seine Kollegin an, als wolle er sagen: ` eine von diesen feilaufenden Verrückten bist du!` Jerry warf ihm ein knappes aufgesetztes Grinsen zu.
„Misses Kentrall“, wandte sich Jerry nun wieder ihrer Arbeit zu, „wie wir inzwischen wissen, ist Miss Harper zwischen sieben und neun Uhr am Abend ermordet worden. Sie haben dem Sergeant, der Ihre Aussage nach dem Leichenfund aufgenommen hat, gesagt, dass Sie immer mitbekommen, wenn jemand das Haus betritt oder verlässt…“
„Sie müssen mich deshalb nicht für neugierig oder penetrant halten“, fuhr ihr die Frau eilig ins Wort, „aber hier treiben sich manchmal Menschen im Hausflur herum“, sagte sie und schüttelte entrüstet mit dem Kopf, „das glauben Sie gar nicht. Und, na ja, man soll über Tote nichts Böses sagen“, fügte sie mit leiserer Stimme hinzu und beugte sich leicht zu Jerry vor, „Miss Harper hatte häufiger Männerbesuche in den letzten Jahren und manche davon zogen nicht friedlich von dannen, wenn die Geschichte aus war…“ Vielsagend zog sie die Augenbrauen in die Höhe und hielt den Blick auf Jerry gerichtet, als könnte nur eine Frau verstehen, was sie da gerade erzählte, ein junger Mann wie Conny keinesfalls.
„Ich verstehe“, meinte Jerry und startete einen neuen Versuch. „Was ich nur wissen möchte, Misses Kentrall, ist Ihnen heute während genannter Tatzeit irgend etwas Ungewöhnliches im Hausflur aufgefallen, haben Sie seltsame Geräusche aus Miss Harpers Wohnung gehört oder gar einen Fremden das Haus betreten oder verlassen gesehen“.
Misses Kentrall machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, heute ging´s hier ja zu wie im Taubenschlag“, rief sie mit wichtiger Miene aus. „Als ich nachmittags vom Einkaufen kam, hätte mich fast ein junger Mann über den Haufen gerannt. Er hat zwar irgend eine Entschuldigung vor sich hin gemurmelt, aber meinen Sie, der hätte sich angeboten, mir mit meiner Einkaufstasche behilflich zu sein? – Nein, Benehmen kann man heutzutage nicht mehr erwarten.“ Wieder machte ihr Kopf die für sie anscheinend typische resignierte Hin- und Herbewegung.
„Was meinen Sie mit jung?“ hakte Jerry nach. „Mitte Zwanzig, Mitte Dreißig, oder älter oder jünger?“ versuchte sie die Frau zu einer differenzierteren Beschreibung zu bewegen. „Wie sah er aus? Wie groß war er? Welche Kleidung trug er?“ bombardierte sie die alte Dame geradezu mit Fragen, woraufhin diese auch umgehend eine Hand auf den Brustkorb legte, als sei sie außer Atem.
„Ach Gott, was sie alles wissen wollen“, rief sie aus. „Also, ich schätze ihn auf Ende Zwanzig bis Mitte Dreißig“, begann sie ihre Ausführungen. „Tadellos gekleidet, sah aus wie ein Rechtsanwalt oder ein Bankier“, fuhr sie fort. „Seine Größe schätze ich auf 1,85 Meter bis 1,90 Meter“, sagte sie, während ihr Blick Richtung Zimmerdecke ging und sich ihre rechte Hand unter ihr Doppelkinn legte. „Er sah gut aus, das konnte ich sehen, obwohl er das Gesicht zu Boden gerichtet hielt, so als wolle er nicht erkannt werden“, mutmaßte sie. „Dabei bin ich mir sicher, dass er noch nie hier gewesen ist. Also, ich jedenfalls hab ihn noch nie in unserem Haus gesehen und auch noch nie zusammen mit Miss Harper. Seine Haare waren voll aber kurz geschnitten, dunkelblond, würde ich sagen.“ Wie um sich selbst zu bestätigen, nickte sie wieder einmal mit dem Kopf.
Jerry seufzte kaum merklich. „Diesen Mann haben Sie aber nur am Nachmittag gesehen, nicht noch einmal am Abend?“ bohrte sie hoffnungsvoll nach.
„Nein, nein!“ kam es resolut von der auskunftsfreudigen Dame. „Ganz sicher nicht. Am Abend hab ich einen ganz anderen gesehen“, fügte sie geheimnisvoll hinzu ohne aber fortzufahren. Connys Gesicht spannte sich an und seine Hände ballten sich unersichtlich für Misses Kentrall zu Fäusten. Am liebsten hätte er die Frau kräftig durchgeschüttelt. Die redet und redet und kommt erst jetzt richtig zur Sache. So als genieße sie die Aufmerksamkeit der beiden Kriminalpolizisten in vollen Zügen. Jerry warf ihm einen stechenden Blick zu, der ihm klar zu verstehen geben sollte, ruhig zu bleiben und sich jetzt nicht einzumischen. Misses Kentrall schien Jerry als Ansprechpartnerin gewählt zu haben, denn sie hatte ihren Kollegen Conny bisher noch mit keinem Blick gewürdigt.
„Wissen Sie ungefähr die Uhrzeit, wann sie diesen anderen Mann gesehen haben?“ fragte Jerry mit Engelsgeduld. „Und können Sie vielleicht auch von diesem Mann eine so genaue Beschreibung abgeben, wie von dem anderen?“
Misses Kentrall schien sich geschmeichelt zu fühlen, von Jerrys letzten Worten. Ihre Gesichtszüge wurden weicher und ein kleines Lächeln spielte um ihren faltigen Mund. „Möchten Sie nicht erst einmal eine Tasse Kaffee, Lieutenant Hope?“ fragte sie und wollte sich bereits erheben.
Doch Jerry winkte dankbar ab. „Das ist wirklich lieb von Ihnen, Misses Kentrall“, wiegelte sie den Übereifer der alten Dame ab, „aber um diese Uhrzeit trinke ich keinen Kaffee mehr, sonst schlafe ich den Rest der Nacht gar nicht mehr“, redete sie sich heraus und ahnte nicht, was sie damit angerichtet hatte. Sofort blitzte es in Misses Kentralls Augen auf.
„Ach nein“, rief sie begeistert aus, „mir geht´s genauso. Ich hätte den Kaffee jetzt auch nur für Sie gemacht, Miss Hope“, verriet sie Jerry, „ich selbst vertrage ab Mittag nur noch Tee. Aber auch der darf nicht länger als drei Minuten ziehen. Ansonsten“, ihre Hand wedelte vor ihrem Gesicht hin und her, „ kriege ich kein Auge zu. Ich hab sowieso einen entsetzlich leichten Schlaf. Bei jedem kleinen Geräusch sitze ich aufrecht im Bett. Damals als mein Mann Ernie – Gott hab ihn selig – noch lebte, ja da…“
„Misses Kentrall“, unterbrach Conny barsch ihren Redeschwall, „bitte die Beschreibung, wir haben es eilig, wir sind nämlich auf der Suche nach einem Mörder! Und je schneller wir ihn finden, desto schneller werden Sie nachts wieder ruhig schlafen können!“
Pikiert von dieser unsensiblen Unterbrechung reckte sie ihr Kinn in die Höhe. Sie warf Conny einen eiskalten Blick zu, um sich dann wortlos von ihm ab und Jerry wieder zuzuwenden.
„Die Beschreibung, Misses Kentrall, bitte“, wiederholte Jerry mit weicher Stimme und legte besänftigend ihre Hand auf Misses Kentralls. Sofort beruhigte diese sich wieder und fuhr fort.
„Ich habe diesen Mann öfter hier gesehen. Ich glaube, er war Miss Harpers Freund. Ich hab sogar mitbekommen, dass er die Wohnungstür manchmal selbst aufgeschlossen hatte“, erzählte sie wichtigtuerisch. „Aber Miss Harper hat immer ein großes Geheimnis um ihn gemacht. Nicht mal mir wollte sie erzählen, wie er heißt oder woher sie ihn kannte.“
Verständlich, dachte Conny mit mürrischem Gesicht.
„Jedenfalls hat er am frühen Abend so einen Heidenlärm oben gemacht, dass ich fast rauf gehen wollte“, erzählte sie eifrig weiter. „Aber schließlich will man sich ja auch nicht in anderer Leute Probleme einmischen“, tat sie scheinheilig.
„Natürlich nicht“, grummelte Conny vor sich hin, unbeachtet von der Erzählerin.
„Als ich dann nach einer Weile Schritte auf der Treppe hörte, hab ich meine Tür einen Spaltbreit geöffnet und ihn eilig hinunter laufen gesehen“, endete sie ihren Bericht.
„Ausgezeichnet, Misses Kentrall“, lobte Jerry ihr Gegenüber. „Wir sind sehr froh, dass Sie eine so aufmerksame Bürgerin unserer Stadt sind“. Conny blickte seine Kollegin fassungslos an. Was bezweckt sie mit dieser Schleimerei, überlegte er. Doch gleich bei Jerrys nächsten Worten begriff er.
„Wir wären Ihnen ausgesprochen dankbar, wenn Sie vielleicht morgen früh zu uns aufs Revier kommen konnten, damit wir nach Ihren Beschreibungen ein Phantombild der beiden fremden Männer erstellen können“, bat sie die vor stolz platzende Misses Kentrall.
„Aber gerne doch, Miss Hope“, rief sie freudestrahlend aus. „Ein Polizeirevier wollte ich schon immer mal von innen sehen“, setzte sie kichernd hinzu.
Jerry und Conny erhoben sich gleichzeitig und gingen zur Wohnungstür.
„Dann bis morgen früh, Misses Kentrall. Und vielen Dank noch mal“, verabschiedete sich Jerry lächelnd.
Misses Kentrall lächelte zurück, bis sie Connys Blick begegnete. Grußlos wandte sie sich von ihm ab, was Conny mit einem Kopfschütteln quittierte. Jerry stand bereits im Hausflur, als ihr noch etwas einfiel.
„Ach, Misses Kentrall“, wandte sie sich noch einmal der aufmerksamen Nachbarin zu. „Sie wissen nicht zufällig, wo Miss Harper gearbeitet hat?“
Ein triumphierendes Lächeln überzog das Gesicht der alten Dame. „Und ob ich das weiß“, erwiderte sie siegessicher. „Sie arbeitet… arbeitete“, korrigierte sie sich mit einem Anflug von Trauer, „bei Lombard & Groming, der großen Privatbank in der Innenstadt.“
„Vielen Dank“, sagte Jerry, nickte ihr noch einmal zu und lief vor Conny die Treppen hinab zum Ausgang.
Conny ließ ein lautes Schnaufen von sich. „Was für ein Hausdrachen!“ konnte er sich nicht verkneifen zu sagen. Jerry lächelte ihn nachsichtig an. „Durch solche Hausdrachen kommt man aber manchmal auf die heißesten Spuren“, erklärte sie ihm. „Wenn wir morgen die Phantombilder haben und gleichzeitig Penny Harpers berufliches und privates Umfeld durchleuchten, treffen wir vielleicht auf den heimlichen Freund, der gestern zur Tatzeit bei ihr war und der anscheinend eine ganze Menge Lärm veranstaltet hat!“ Ein wenig erschöpft, aber zufrieden strebte sie auf den Dienstwagen zu und fuhr mit ihrem Kollegen durch die Nacht zurück ins Polizeirevier.




Nachdem William Winthorp der Dritte aus dem Bankgebäude gehastet war, sprang er in sein Auto und raste zur Harringtonstreet Nummer 35. Er war so in Rage, dass er den Wagen schief auf dem Bügersteig parkte und nach dem Aussteigen einfach die Fahrertür hinter sich zuwarf ohne abzuschließen oder den Autoschlüssel auch nur mitzunehmen. Unten an der Haustür war kein Namensschild auf einen John Smith angebracht, allerdings hätte Winthorp das auch gewundert. Da es aber nur eine Wohnung im Haus gab, an der kein Namensschild angebracht war, wusste er wiederum, wo er hin musste. Mit langen Schritten nahm er die Treppe hinauf im Eiltempo. Er wollte gegen die Wohnungstür donnern oder sie, wenn nötig gewaltsam öffnen. Doch beide Alternativen ergaben sich, denn die Wohnungstür war einen winzigen Spalt breit geöffnet. Mit einem festen Stoß knallte die Tür nach innen.
„Delaney, sind Sie hier?“ rief er in das Dunkel der Wohnung und trat in den Flur. Plötzlich spürte er einen Windhauch hinter sich und schon fiel die Tür krachend ins Schloss. Winthorp riss in der ihn umgebenden totalen Dunkelheit die Augen weit auf, als ihn das Messer schon direkt unter der Kehle in den Hals gestoßen wurde. Seine Hände fassten unwillkürlich nach dem verwundeten Hals, aus dem jetzt das Blut herausschoss. Er röchelte, sank auf die Knie und fiel schließlich ganz zu Boden. Es dauerte nur noch Sekunden, bis sein Körper aufhörte zu zucken und jegliches Geräusch erstarb. Der Griff um seinen Hals erschlaffte, die Augen blieben weit aufgerissen. William Winthorp der Dritte war tot.




Doktor Sybill Parker brütete in ihrem Arbeitszimmer im Sanatorium über ihren Finanzunterlagen. Ihre dunklen kurzen Haare, zwischen denen schon einige graue Strähnchen schimmerten, waren leicht zerzaust. Sie rieb sich die schmerzende Stirn. Sie hasste die bürokratischen Dinge. Sie war Ärztin und wollte sich allein um ihre Patienten kümmern, ohne Sorgen und Geldnöte im Nacken. Egal, wie sie die Zahlen hin- und her schob, das Parker Sanatorium trug sich einfach noch nicht von selbst. Die Kosten des Baus, der medizinischen Gerätschaften und des Personals waren immens. Am liebsten hätte sie alle Unterlagen zusammen geraufft , zerknüllt und in den nächstbesten Mülleimer geschmissen. Wo war bei all diesen Zahlen, diesen Rechnungen, Mahnungen, Gewinn- und Verlustbilanzen ihre Vision verbucht? Dieses Sanatorium war der Traum ihres Lebens. Schon als Medizinstudentin hatte sie von ihrem eigenen Sanatorium geträumt, in dem sie Menschen mit schweren psychischen Problemen behandeln und heilen konnte. Die Psyche des Menschen war immer ihr Steckenpferd gewesen. Sie war als siebtes Kind eines armen Farmers aufgewachsen. Nie gab es genug zu essen, nie gab es ordentliche Schulkleidung oder Geld für spezielle Bücher, nach denen sie sich schon in ihrer Kindheit gesehnt hatte. Ihre Geschwister waren alle anders als Sybill. Die Schwestern wollten möglichst früh heiraten und Kinder haben von irgend einem Farmerssohn aus der Nachbarschaft, ihre Brüder halfen dem Vater auf dem Feld und versuchten nach und nach soviel zusammen zu sparen, um ein eigenes kleines Stück Land zu kaufen und es dann auf dem eigenen Hof ihrem Vater nachzutun. Sybill war die einzige, die es liebte, zur Schule zu gehen und zu lernen. Jede freie Minute – von denen es auf der Farm sehr wenige gab – nutzte sie, um zu lernen. Sie wollte aus aus diesem schlichten, ereignislosen Leben. Sie wollte eine berühmte Ärztin werden und im ganzen Land von den höchsten Persönlichkeiten konsultiert werden, wenn diese gesundheitliche Probleme hatten. Mit Bestno! ten abso lvierte sie die High School und erhielt anschließend ein Stipendium fürs College, da ihre Eltern ihr einen Collegebesuch unmöglich finanzieren konnten. Das College lag weit weg von der elterlichen Farm, was Sybill nur recht war. Seit Jahren konnte sie weder mit ihren Geschwistern, noch mit ihren Eltern etwas anfangen – und die nicht mit ihr. Sybills Träume und Visionen hielten sie für Spinnereien und vergeudete Zeit. Sie fanden, so unattraktiv wie Sybill war, sollte sie lieber hart daran arbeiten, einen Ehemann zu finden. Sybill hatte sich aber fest vorgenommen, sich auf keinen Fall mit irgend einem Farmerbengel einzulassen und ihm womöglich eine Schar kreischender Bälger zu gebähren und seine stinkenden Socken am Abend zu stopfen. Nein, Sie Sybill Parker, wollte nach den Sternen greifen und sie sich vom Himmel holen. Eines Tages wird ihre ganze Familie begreifen, dass sie zu Höherem geboren war als zur Frau eines Farmers.
Sybill rieb sich die müden Augen. Der Kaffee, den Frank mir eben gebracht hat, wirkt überhaupt nicht, dachte sie mürrisch. Hoffentlich hat der Trottel keinen Koffeinfreien genommen. Frank, einer ihrer Hilfspfleger, war ein netter Kerl, der sich für keine Arbeit zu gut war, aber leider war er nicht mit sonderlich viel Intelligenz bestückt. Sybill lächelte trübe und zwang sich erneut, sich den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch zuzuwenden. „Der verdammte Delaney hat mir die versprochene Finanzspritze noch immer nicht zukommen lassen“, sprach sie leise mit sich selbst. Dabei hatten wir einen festen Deal, setzte sie ärgerlich in Gedanken hinzu. Sein Schwiegervater war da viel zuverlässiger gewesen, damals als er ihr das Fachstudium zur Psychologin finanzierte und ihr später den Eigenkapitalanteil zum Bau des Sanatoriums erließ. Damals hatten sie manchmal noch Gewissensbisse befallen, als sie bei der Besprechung zur Finanzierung des Baus mit Jeremiah Lombard ein Geschäft ausgehandelt hatte, das nicht nur den wahren Grund für Helens Freitod verschleiern sollte, sondern eventuell auf Louises Rücken ausgetragen wurde. Aber letztendlich rettete Doktor Parker sich immer mit dem Gedanken an den Zweck – nämlich ihr wunderbares Sanatorium, das so vielen Menschen Halt, Geborgenheit und Heilung geben würde – der bekanntlich die Mittel heiligte.
Doch entgegen ihren Hoffnungen, trugen die Einnahmen des Sanatoriums nach all den Jahren noch immer nicht die Kosten. Sie selbst arbeitete praktisch für umsonst, stand dafür aber ihren Patienten vierundzwanzig Stunden lang zur Verfügung, da sie nicht nur in dem Sanatorium praktizierte, sondern auch wohnte. Jack Delaneys Anliegen vor zwei Monaten kam ihr da gerade recht. Er wollte, dass seine junge Frau Louise so lange wie möglich im Sanatorium blieb und keinerlei Besuch empfangen dürfe. Sybill Parker kannte Louise seit dem Tod ihrer Mutter und betreute sie später psychologisch. Seit Louise ihre Mutter an dem Baum im elterlichen Garten hatte hängen sehen, war sie psychisch sehr labil und hatte sich nie von dem Anblick erholt. Jedenfalls nicht so, wie es hätte sein sollen. Doktor Parker glaubte bis vor kurzem, es sei ihr gelungen, die Geisteskrankeit von Louise zu heilen. Doch als sie nach dem Tod ihres Vaters und dem Verlust des Babys wieder zu ihr kam, wusste sie, dass dem nicht so war. Doktor Parker musste praktisch ganz von vorn bei ihr anfangen. Und deshalb konnte sie Jacks Anliegen sogar voll vertreten, fand sie. Jack Delaney hatte ihr im Gegenzug versprochen, dem Sanatorium eine so kräftige Finanzspritze zukommen zu lassen, dass Sybill die nächsten Jahre frei von Schulden arbeiten könnte, solange bis sich der gute Ruf des Sanatoriums soweit herumgesprochen hatte, dass sie finanziell auf eigenen Beinen stehen konnte. Die Erfüllung ihres Traumes war zum Greifen nah. Wenn nur dieser verdammte Kerl endlich das Geld freimachen würde…
Entschlossen griff sie nach dem Telefon und wählte Jacks Privatnummer zu Hause. Sie ließ bestimmt zehn Mal durchklingeln, doch niemand nahm ab. Schließlich tippte sie seine Handynummer ein. Nach einer Weile meldete er sich. Seine Stimme klang erschöpft und entnervt.
„Jack, hier spricht Doktor Parker“, meldete sie sich mit harter Stimme. „Da Sie mir vorhin geschickt ausgewichen sind, muss ich Sie jetzt auf diesem Weg fragen, wann Sie endlich Ihren Teil unserer Vereinbarung erfüllen?“
Sie hörte Jack leise seufzen. „Ich bitte Sie, Sybill“, erwiderte er träge, „Sie werden schon nicht am Hungertuch nagen, wenn die Transaktion noch ein wenig dauert“.
Das Letzte, was Sybill Parker jetzt ertragen konnte, war seine spöttische Art. „Ich warne Sie, Jack“, sagte sie resolut, „ich bin nicht länger bereit, mich von Ihnen an der Nase herumführen zu lassen. Überweisen Sie das Geld oder ich werde Louise sobald wie möglich nach Hause schicken und jeden Besucher vorlassen, der sich bei mir anmeldet. In letzter Zeit waren das ziemlich viele, unter anderem Henry Groming und Marianne Simmons. Wäre es Ihnen recht, wenn Louise sich speziell mit diesen beiden unterhält, die Ihnen ja nicht gerade wohlgesonnen sind…“, drohte sie offenkundig.
Jack versteifte sich unwillkürlich. Er wusste im Moment nicht mehr ein- noch aus. Soviel Geld konnte er einfach momentan nicht locker machen. Er hatte vorerst andere Leute zu bezahlen, um überhaupt seinen Platz an der Spitze der Bank zu sichern. Und jetzt kam ihm diese abgehobene Psychologin und setzte ihn auch noch unter Druck. „Hören Sie, Sybill. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich das Geld lockermachen kann. Bitte geben Sie mir noch etwas Zeit. Es sind einige Dinge geschehen, die ich nicht vorhersehen konnte“, versuchte er sich rauszureden und sie milde zu stimmen. Doch da biss er auf Granit!
„Das ist Ihr Problem, Jack, nicht meins. Halten Sie sich an unseren Deal oder es wird mehr als eine Bombe platzen, die nicht nur Ihren sondern auch den Ruf der Familie Lombard für alle Zeiten in Grund und Boden stopfen wird!“ Damit knallte sie den Hörer auf die Gabel und fluchte aufgebracht vor sich hin. „Der Mistkerl versucht doch tatsächlich, mich zu hintergehen. Und das bei allem was ich über diese Familie weiß. Unglaublich!“ schimpfte sie und fegte mit einer wütenden Geste alle Unterlagen vom Tisch.
Jack hörte nur noch ein Knacken in der Leitung und schaltete wütend sein Handy aus. Wenn ich es nicht schaffe, die Sache mit Sarah Henry in die Schuhe zu schieben, bin ich geliefert, dachte er in einem Anflug von Verzweiflung. Dann kann ich diese alte Krähe Parker auch nicht bezahlen und sie wird mir nach Winthorp den Gnadenstoß verabreichen. „Es muss einfach klappen!“ rief er in die Stille seines einsamen Hotelzimmers.


Es war dunkel, als sie die einsame Landstraße in der alten Klapperkiste zurückfuhr. Zufrieden grinste sie vor sich hin. Das Treffen mit Winthorp hatte sich gelohnt. Er hatte genau so reagiert, wie sie es erwartet hatte. Bekam er Jack Delaney zwischen die Finger, würde er ihn vierteilen, dachte sie mit bitterer Genugtuung. Endlich würde Schluss sein mit seinem ungestraften sündigen Treiben. Er wird alles verlieren, was ihm wichtig ist. Den Chefposten bei der Bank, seinen Ruf, der ohnehin nur auf Lügen aufgebaut ist, seine Ehefrau, die ihm bisher freie Hand in der Bank gewährt hatte und all seine Liebschaften. Wenn Winthorp mit ihm fertig war, würde keine halbwegs akzeptable Frau mehr etwas mit ihm anfangen wollen. Sie summte eine leise Melodie vor sich hin.


Henry fuhr ziellos durch die beleuchteten Straßen der Innenstadt. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg aus dem Dilemma, in das Jacks Weibergeschichten nun die ganze Bank gebracht hatten. Noch mal mit Winthorp reden? Überlegte er zweifelnd. Nein, das hatte im Moment keinen Sinn. Winthorp war wie ein rasender Stier, der sich erst abreagieren musste. Auch mit Winthorps Frau hatte es keinen Sinn Kontakt aufzunehmen. Die hatte weiß Gott jetzt ihre eigenen Sorgen. Wenn Winthorp auf eine Scheidung bestehen würde und zudem ihren Ehebruch beweisen konnte, würde sie ohne einen Cent in der Tasche aus der Stadt gejagt. Henry hielt am Straßenrand an. Seine Schläfen pochten schmerzhaft. Er hätte jetzt seinen Onkel brauchen können, um mit ihm gemeinsame eine Strategie zu überlegen. Oder zumindest Jeremiah Lombard. Ihn hatte mit William Winthorp ein fast freundschaftliches Verhältnis verbunden. Wenn er mit Winthorp gesprochen hätte, wäre dieser vielleicht mit Jacks Rausschmiss aus der Bank zufrieden gewesen. Ganz sicher hätte er nicht die Existenzgrundlage eines so alten Partners zunichte gemacht. Henry musste einfach mit jemandem reden. Er sehnte sich nach der Zeit aus Kindertagen zurück, in der er zusammen mit Louise im Baumhaus gesessen hatte und sie sich gegenseitig alles erzählt hatten und dem anderen soweit möglich geholfen hatten. „Louise“, flüsterte er ihren Namen mit sanfter Stimme. Warum war sie ihm nur so in den Rücken gefallen? Er schaltete den Motor an und raste mit quietschenden Reifen die Straße hinunter. Er wusste jetzt, was er tun musste.

Während er die dunkle Landstraße entlang raste, überlegte Henry, wie er an der allgegenwärtigen Sybill Parker vorbei kommen sollte. Sie hatte ihn schon einmal abblitzen lassen, als er Louise besuchen wollte. Heute jedoch wollte er sich von nichts und niemandem abhalten lassen.
Er parkte seinen Wagen in einiger Entfernung vom hell erleuchteten Sanatoriumsparkplatz und ging zu Fuß das letzte Stück. Er hielt sich geflissentlich außerhalb jeden Lichts. Nur die Flure und das Büro der Leiterin waren noch erleuchtet. Henry wusste, wo Louises Zimmer lag, aber wie nicht anders zu erwarten, war der Haupteingang verschlossen. Henry machte sich auf den langen Weg um das Sanatorium herum bis hin zum dazugehörigen Park. Hohe Mauern, verdeckt von blühenden Bäumen und Büschen, verhinderten einen Blick in das Innere des Parks. Henry beglückwünschte sich innerlich für sein über all die Jahre hartnäckig beibehaltenes Fitnessprogramm in einem Sportcenter. Nachdem er als Kind immer sehr dünn und eher schwächlich gewesen war, hatte er als Jugendlicher angefangen, seinen Körper unnachgiebig zu trainieren und sich somit einen kräftigen Oberkörper und eine ansehnliche Kondition anzueignen. Kurz entschlossen stieg er einen der Bäume hinauf, bis er mit seinem rechten Fuß und Arm die nahegelegene Mauer erreichen konnte. Er hangelte sich auf die Mauer hinauf, während sich auf seiner Stirn kleine Schweißperlen bildeten. Sekundenlang saß er auf der Mauer und betrachete das Gelände vor sich. Das Gebäude des Sanatoriums lag etwas fünfhundert Meter entfernt. Der Park war durchsetzt von Bäumen, kleinen Hecken und Büschen, die ihm geeignete Zwischenstationen auf seinem Weg zum Gebäudekomplex bieten würden. Wagemutig sprang er von der Mauer und rollte sich gekonnt ab. In geduckter Haltung rannte er von Versteck zu Versteck im Dunkel des Frühlingsabends. Endlich war er dem Fenster von Louises Zimmer im ersten Stock so nahe, dass er einen schwachen Lichtschimmer hinter den zugezogenen Vorhängen erkennen konnte. Mit zusammen gekniffenen Augen suchte er den Boden nach kleinen Steinchen ab. Nachdem er eine Handvoll gesammelt hatte, warf er sie mit einer ausholenden Armbewegung gegen ihre Fensterscheibe. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, in der er schon befürchtete, sie könnte schlafen und ihn nicht hören, als da! nn Louis es Gesicht zwischen den Vorhängen erschien. Sie spähte zu ihm hinab ins Dunkle. Eifrig winkte er ihr mit den Armen zu. Ohne irgend eine Reaktion verschwand ihr Gesicht wieder hinter den Vorhängen. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Konnte es tatsächlich sein, dass sie nicht mit ihm reden wollte oder ihn gar nicht erkannt hatte? Während er noch verzweifelt überlegte, was zu tun sei, kam eine Gestalt aus einem Seiteneingang gehuscht und rannte auf ihn zu. Schon an der Silhouette erkannte er seine Freundin aus Kindheitstagen.

„Henry!“ flüsterte Louise, als sie ihren alten Freund erreicht hatte. „Wie kommst du denn hierher? Was tust du hier?“ Sie blickte ihn misstrauisch an.
„Ich musste einfach endlich mit dir reden, Louise“, erklärte er ihr, während seine Augen jeden Millimeter ihres Gesicht in sich aufsogen. „Ich wollte dich besuchen, aber diese verdammte Parker hat mich nicht zu dir gelassen“.
Louise machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, das alte Nilpferd glaubt immer noch, sie müsste die arme kleine Louise vor der bösen, bösen Welt da draußen beschützen“. Sie ließ ein kleines spöttisches Lachen verlauten.
Henry war mehr als überrascht, sie so reden zu hören. Das passte gar nicht zu Louise. „Ich bin froh, dass es dir so gut geht“, sagte er etwas unsicher und taxierte ihr Gesicht.
„Louise, ich muss dir etwas sagen“, begann er nun mit dem eigentlichen Grund seines Kommens, „Morgen werden möglicherweise Dinge passieren, die dich sehr ängstigen und verwirren werden.“ Ihre Augenbrauen zogen sich erstaunt in die Höhe, doch sie sagte nichts. „Jack hat Mist gebaut“, fuhr er eilig fort, „er hat sich mit William Winthorp dem Dritten, einem sehr wichtigen und vermögenden Kunden der Bank, so überworfen, dass dieser heute verkündet hat, er wolle Lombard und Groming vernichten…“ Henry hielt kurz inne, um zu sehen, wie Louise reagierte, ob er ihr weitere Wahrheiten zumuten konnte. Doch sie wirkte keinesfalls niedergeschmettert, nicht einmal besorgt. Mit wachen aber ruhigen Augen lauschte sie seinem Bericht. „Jack hat…“, er zögerte, dann brach es aus ihm heraus,“…wie konntest du diesen Mann nur heiraten?“ fragte er plötzlich und schaute sie verletzt an. „Er ist ein Weiberheld, ein Glücksritter“, rief er aus. „Er passt überhaupt nicht zu dir!“
Louise lächelte ihn ungerührt an und blickte hinab auf ihre Füße, die in albernen rosafarbenen Pantoletten steckten. „Es gibt vieles, was du nicht weißt und nicht verstehst, Henry“, erwiderte sie leise. „Ich weiß genau, was Jack treibt und mit wem. Mach dir wegen Winthorp keine Gedanken – ich selbst hab ihn auf Jack gehetzt.“
Henry war wie vom Donner gerührt. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit. „Du hast einen Stein ins Rollen gebracht, der nicht mehr aufzuhalten ist“, warf er ihr vor, versuchte aber, nicht allzu hart zu klingen.
„Jack Delaney ist ein Schwein, genau wie mein Vater eins war. Es musste sein!“ beharrte sie mit kalter Stimme.
„Warum hast du dann nicht einfach die Scheidung eingereicht?“ fragte er grollend. „Das hätte unsere Bank nicht gefährdet!“
Doch noch bevor er weiter auf Antworten drängen konnte, schaltete sich plötzlich in der Halle des Sanatoriums das Deckenlicht an und Doktor Parker kam mit müden schweren Schritten im Morgenmantel durch die Halle. Louise warf einen schnellen Blick in die Halle und flüchtete sich in die Dunkelheit. „Ich muss jetzt gehen. Irgendwann wirst du alles verstehen“, rief sie ihm noch zu und rannte durch den Seiteneingang zurück ins Sanatorium. Henry versteckte sich hinter dem nahe gelegenen Busch und beobachtete, wie Doktor Sybill Parker suchend in den Park blickte. Nachdem sie nichts verdächtiges bemerkt hatte, verschwand sie wieder. Kurz darauf verließ Henry ungesehen das Sanatoriumsgelände.


Am darauf folgenden Morgen machten sich Jerry Hope und ihr Kollege Conrad Hayes auf den Weg zu Lombard & Groming, Penny Harpers Arbeitgeber, noch bevor Misses Kentrall ins Polizeirevier kam.
„Kriminalpolizei, guten Morgen“, stellte sich Jerry bei Jack Delaneys Sekretärin vor und zeigte ihre Polizeimarke. „Mein Name ist Jerry Hope, das ist mein Kollege Conrad Hayes“, fügte sie hinzu und deutete auf den neben ihr Stehenden, der ebenfalls seine Polizeimarke vor Marianne Simmons Nase hielt. „Wir möchten gern mit Mister Delaney sprechen“, sagte Jerry mit fester Stimme.
„Ja, natürlich“, erwiderte Marianne und blickte leicht nervös von einem zum anderen. Mit der Kriminalpolizei hat man schließlich nicht alle Tage zu tun. Marianne erhob sich und öffnete vor den beiden Kriminalbeamten Jacks Bürotür. Sie streckte nur den Kopf herein. „Entschuldigen Sie, Mister Delaney“, sagte sie mit leiser aber eindringlicher Stimme. „Hier sind zwei Lieutenants von der Kriminalpolizei, die Sie sprechen möchte“.
Jack sah an diesem Morgen ohnehin ziemlich mitgenommen aus. Die halbe Nacht lang hatte er gegrübelt, wie er aus der verflixten Geschichte mit Sarah Winthorp herauskam und danach quälten ihn solche Kopfschmerzen, dass er letztendlich nur zirka zwei Stunden geschlafen hatte. Unter seinen Augen schimmerten dunkle Ränder und von seinem Hinterkopf stand eine widerspenstige Haarsträhne ab.
„Worum geht´s denn?“ fragte Jack und versuchte möglichst unbeteiligt zu klingen. Marianne zuckte nur mit einer Schulter und gab schließlich den Weg für die beiden Polizisten frei. Jack erhob sich von seinem Sessel und trat Jerry und Conny mit aufgesetztem Lächeln entgegen.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie freundlich und reichte ihnen nacheinander die Hand. „Bitte nehmen Sie doch Platz“, bat er und wies auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch. Die beiden Beamten folgten seinem Angebot und setzten sich, während Jack hinter seinem Schreibtisch wieder Platz nahm. „Was kann ich für Sie tun?“ fragte er und versuchte sie nacheinander offen und interessiert anzublicken.
„Wir sind hier wegen einer Ihrer Angestellten, Mister Delaney“, begann Jerry und atmete einmal tief durch. „Penny Harper, sie arbeitet in einer Ihrer Abteilungen“.
Jack musste alle Kraft zusammen nehmen, um nicht erschrocken zurückzuweichen, bei der Erwähnung seiner Exgeliebten. „Ja, sie ist in der Kreditoren Abteilung“, klärte er seine Gegenüber auf. „Allerdings ist sie glaube ich, seit über einer Woche krankgeschrieben. Ist etwas mit ihr?“ setzte er mit gespielt sorgenvoller Miene hinzu.
„Ja, sie ist tot“, erwiderte Conny in seiner typisch direkten Art. Jerry seufzte innerlich auf. Musste er immer die Hammermethode verwenden? Fragte sie sich ärgerlich.
„Wie bitte? Was sagen Sie da?“ rief Jack schockiert und fassungslos aus. „Um Gottes Willen, wie… wann?“ Er brachte die Worte kaum klar heraus.
„Sie wurde ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Gestern Abend“, sagte Jerry Hope mit ernster Miene.
Jack war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er bekam ein flaues Gefühl im Magen.
Jacks plötzliche Blässe fiel Jerry auf. „Mister Delaney?“ fragte sie den völlig verwirrt dreinblickenden Mann.
„Ja…ja“, erwiderte Jack und blinzelte, als kehre er mit seinen Gedanken erst jetzt wieder zurück. Jerry hätte nur zu gern gewusst, wo er in den letzten Sekunden geistig gewesen war. „Das ist einfach furchtbar, eine so junge Frau, und dann ermordet…“, versuchte er, seine Fassung zurück zu gewinnen.
„Können Sie uns sagen, mit wem sie hier in der Firma näheren Kontakt hatte, vielleicht sogar eine Freundschaft? Oder wissen Sie eventuell etwas aus ihrem Privatleben?“ fragte Jerry und hielt ihren Blick starr auf Jack gerichtet. „Hatte Sie einen Freund, von dem Sie wissen?“
Jack fühlte sich unwohl unter den kritischen Blicken der jungen Polizistin. Unwillkürlich schaute er an ihr vorbei, als müsse er überlegen. „Also, ihr Abteilungsleiter ist Henry Groming, vielleicht kann er Ihnen näheres sagen. Ich als Bankdirektor habe ehrlich gesagt weniger Kontakt zu den einzelnen Mitarbeitern – leider“, erklärte er mit bedauernder Miene und machte eine ausholende Handbewegung über seinen Schreibtisch. „Die ganze Arbeit lässt mir einfach kaum Luft für solche Dinge“, setzte er seufzend hinzu.
„Und wo finden wir Mister Groming?“ fragte Conny.
„Meine Sekretärin, Miss Simmons, wird Sie gerne zu ihm führen“, erwiderte Jack mit verbindlichem Lächeln. Er hatte sich jetzt wieder ganz unter Kontrolle. Er erhob sich von seinem Stuhl und führte die beiden Kriminalbeamten zur Bürotür. „Miss Simmons“, rief er Marianne zu, nachdem er die Tür geöffnet hatte, „seien Sie doch bitte so nett und führen Sie Lieutenant Hope und Lieutenant Hayes in Mister Gromings Büro“, bat er Marianne mit einem freundlichen Lächeln.
Marianne nickte und lief vor den beiden Polizisten her in Richtung Henry Gromings Büro.
„Kannten Sie Penny Harper näher, Miss Simmons?“ fragte Jerry und lief ein wenig schneller, um mit Marianne Schritt halten zu können. Abrupt blieb Marianne stehen. Mit geweiteten Augen starrte sie die junge Polizistin an. „Kannten?“ fragte sie knapp.
„Miss Harper wurde gestern am späten Abend tot in ihrer Wohnung aufgefunden“, teilte Jerry Hope ihr mit.
„Oh, mein Gott“, stieß Marianne erschrocken aus und schlug sich unvermittelt eine Hand vor den Mund. „War sie so krank?“ fragte sie ungläubig.
„Bis sie ermordet wurde eigentlich nicht!“ konnte Conny es wieder nicht lassen. Diesmal beließ es Jerry nicht bei einem strafenden Blick. Sie kniff den direkt neben ihr stehenden Kollegen schmerzhaft aber nicht erkennbar für Marianne in den Arm. Er verzog kurz das Gesicht, gab aber keinen Ton von sich. Marianne stand noch immer wie versteinert da. „Ermordet?“ brachte sie mühsam hervor. „Großer Gott, von wem?“ fragte sie und blickte zwischen den beiden Polizisten hin und her.
„Das wissen wir noch nicht“, gestand Jerry ein. „Deshalb möchte ich ja gern wissen, ob Sie Miss Harper näher kannten und uns vielleicht sagen können, ob sie Feinde hatte, mit wem sie verkehrte, privat und beruflich. Wissen Sie, ob sie mit irgend einem Mann zusammen war?“ fragte sie die verwirrte Sekretärin.
„Leider haben Miss Harper und ich keinen engen Kontakt gepflegt“, antwortete Marianne wahrheitsgemäß. „Sie war ja auch so viel jünger als ich. Was sollte sie mit einer alten Frau wie mir schon anfangen?“ Marianne brachte ein bitteres Lächeln hervor.
„Ich finde, Sie sehen nicht aus wie eine alte Frau“, widersprach Jerry ehrlich. „Treiben Sie Sport?“ fragte sie lächelnd.
„Ach, gar nicht“, erklärte Marianne mit einer abwinkenden Handbewegung. „Mutter Natur hat´s nur gut mit mir gemeint“. Sie hatten inzwischen Henry Gromings Büro erreicht. Marianne klopfte kurz an und öffnete dann die Tür. Sie schaute in ein leeres Zimmer. „Mister Groming scheint noch nicht im Hause zu sein“, informierte sie die beiden Polizisten bedauernd. Sie warf einen kritischen Blick auf ihre Armbanduhr. „Komisch“, murmelte sie, “eigentlich ist Mister Groming um diese Uhrzeit immer schon da. Naja“, machte sie mit einem kleinen Schulterzucken, „er wird sicher bald eintreffen. Kann ich Ihnen inzwischen eine Tasse Kaffee anbieten?“ schlug sie lächelnd vor.
„Gerne“, rief Conny sofort erfreut aus, wurde aber von seiner Kollegin korrigiert.
„Tut mir leid“, lehnte Jerry Hope dankend ab, „wir müssen umgehend zurück aufs Revier. Wir werden Mister Groming nachher noch einmal aufsuchen“, sagte sie. „Bitte informieren Sie Mister Groming darüber, dass wir ihn gegen Mittag gern in seinem Büro sprechen möchten“, endete sie und zog ihren Nebenmann sanft mit sich. Unwillig folgte Conny ihr.
„Nach der Nacht hätte ich wirklich einen Kaffee gebrauchen können“, maulte er Jerry im Lift hinunter an.
„Wir brauchen aber erst einmal die Phantombilder von Misses Kentrall“, klärte sie ihren beleidigten Kollegen auf. „Die sind jetzt das wichtigste“.
„Das wichtigste ist, dass ich nicht vor Müdigkeit in einem Banklift einschlafe“, grummelte Conny vor sich hin und verschränkte wie ein eingeschnapptes Kind die Arme vor der Brust. Jerry lächelte ihn nachsichtig an. Conny hatte ja nicht Unrecht. Die Nacht war tatsächlich verdammt kurz gewesen.


Jack saß wie gelähmt in seinem Sessel. Tausend Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Er raufte sich verzweifelt die Haare. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei drauf kam, dass sie in den letzten Monaten einen festen Liebhaber hatte und dann gnadenlos Jagd auf diesen machen würde. Über kurz oder lang werden sie herausfinden, dass ich derjenige bin, überlegte er nervös und sprang von seinem Sessel auf, um ans Fenster zu treten. Er legte die Handflächen gegen die kühle Scheibe. „Es ist unmöglich alle Spuren, die zu mir führen würden zu beseitigen“, redete er leise mit sich selbst. Ruckartig wandte er sich um und schritt auf seinen Schreibtisch zu. Er riss die unterste Schublade auf, in der sich der Zweitschlüssel zu ihrer Wohnung befand. Er fischte ihn unter einigen Unterlagen hervor und betrachtete ihn in der geöffneten Hand. Es kam ihm vor, als hielte er etwas schweres unangenehmes in der Hand. „Das Ding muss weg hier“, beschloss er, ließ den Schlüssel aber vorerst zurück in die Schublade gleiten. Später würde er ihn in irgendeinen Mülleimer werfen. Hektisch überlegte er, was er noch würde beseitigen müssen, um so lange wie möglich von der Polizei unentdeckt zu bleiben, als plötzlich die Tür zu seinem Büro aufgerissen wurde. Henry kam hereingestürmt.
„Ist es wahr, dass Penny Harper tot ist?“ spie er Jack entgegen. „Ermordet?“
Jack lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als habe Henry ihn bei seinen Gedanken ertappt.
„Ja, die Polizei war eben hier. Sie wollten auch mit dir sprechen, aber du warst ja noch nicht da“, erwiderte Jack mit zusammen gezogenen Augenbrauen.
Henry stürzte auf den ihn verhassten Mann zu. „Hast du etwas damit zu tun, du verdammtes Schwein?“ presste er zwischen blassen Lippen hervor und packte Jack am Revers seines Jacketts.
Jack stieß ihn massiv von sich. „Bist du irre?“ brüllte er ihn an, machte aber unwillkürlich einige Schritte rückwärts. „Du magst mich für ein Schwein halten, aber ein Mörder bin ich bestimmt nicht!“
„Du hast dich doch gestern morgen am Telefon mit ihr gestritten“, warf Henry seinem Gegenüber vor. „Du wolltest sie loswerden, weil du dir eine neue Gespielin ausgesucht hast“, fuhr er rasend vor Wut fort. „Aber Penny wollte sich nicht mir nichts, dir nichts von dir abspeisen lassen. Ich wette, sie hat dir gedroht, stimmt´s?“ Er machte wieder einen Schritt auf Jack zu. „Und da hast du Angst bekommen“, mutmaßte er mit bedrohlich leiser Stimme. „Angst um deinen Posten, Angst um dein Ansehen und Angst um deine Ehe mit Louise. Da blieb dir nur noch eins – Penny Harper zu beseitigen! War´s nicht so, Jack?“ Seine Augen durchbohrten Jack Delaney, doch dieser war kein so leicht einzuschüchternder Mann.
Kaum merklich machte er den Rücken gerade und hielt Henrys Blick stand. „Natürlich wollte ich Penny Harper loswerden, aber…“, wollte er eben entgegnen, als er Marianne in der Tür seines Büros bemerkte. Schlagartig hielt er inne. „Was wollen Sie, Miss Simmons?“ fauchte er sie an. Marianne stand stocksteif da und starrte ihren Chef an. Jack hätte platzen können vor Wut darüber, dass sie einfach nur dastand und ihn anstarrte wie eine wilde Bestie. „Was wollen Sie?“ brüllte er jetzt und schien damit die erschrockene Sekretärin aus ihrer Starre zu reißen.
„Ich, … äh, Lieutenant Jerry Hope hat eben angerufen und gefragt, ob Mister Groming inzwischen eingetroffen sei. Sie würde ihn gern schon jetzt aufsuchen, wenn es geht“, stotterte sie eingeschüchtert und blickte Henry betroffen an.
„Lieutenant Jerry Hope?“ fragte Henry verständnislos.
„Sie ermittelt in dem Mordfall Penny Harper“, klärte Marianne ihn auf.
Henry war ein wenig mulmig zumute, schließlich war er gestern bei Penny gewesen. „Gut“, erwiderte er jedoch mit gestrafften Schultern. „Geben Sie mir die Durchwahl zum Lieutenant, ich werde ihn selbst zurückrufen“. Er ging auf Marianne zu, um gemeinsam mit ihr Jacks Büro zu verlassen, doch zuvor wandte er sich noch einmal an seinen Kontrahenten. „Wir reden noch darüber, Jack. Ich bin noch nicht mit dir fertig!“ drohte er ihm. Jack hatte inzwischen zu seiner üblichen Überheblichkeit zurückgefunden.
„Pluster dich nicht so auf, Henry“, antwortete er ihm flapsig, „ich bin auch noch nicht fertig mit dir.“ Henry bedachte ihn mit einem fragenden Blick, sagte jedoch nichts mehr, sondern verließ mit Marianne das Büro.
„Ich notiere Ihnen schnell die Nummer“, sagte sie und reichte ihm kurz darauf einen kleinen Zettel. „Es handelt sich dabei übrigens nicht um einen ihn sondern um eine sie“, setzte die eifrige Sekretärin hinzu. „Jerry Hope ist ein weiblicher Lieutenant.“
„Oh“, machte Henry nur, nahm den Zettel entgegen und verschwand hinüber in sein Büro.



Misses Kentrall wartete bereits aufgekratzt an Jerry Hopes Schreibtisch, als diese mit Conrad Hayes ins Revier zurückkehrte. Im Schlepptau hatte Jerry den Computerfachmann der Abteilung, der die Phantombilder erstellte.
„Guten Morgen, Misses Kentrall“, begrüßte Jerry sie lächelnd. „Wir können uns gleich an die Arbeit machen. Bitte gehen Sie mit diesem jungen Mann“, forderte sie die alte Dame freundlich auf und wies auf ihren Kollegen Pat, „und beschreiben Sie ihm die beiden Männer, die Sie gestern im Haus gesehen haben. Achten Sie dabei bitte auf jedes Detail, schon eine kleine Narbe oder ein Leberfleck an einer bestimmten Stelle kann manchmal den entscheidenden Hinweis geben“, klärte sie die aufmerksam zuhörende Frau auf. Misses Kentrall stand kerzengrade da mit ernster Miene, als sei sie ein Soldat, der eben Order von seinem Vorgesetzten bekommt. „Also dann“, endete Jerry und lächelte zwischen Pat und Misses Kentrall hin und her, „gutes Gelingen!“
Sie wiederum bat Conny, einen Augenblick bei ihr am Schreibtisch Platz zu nehmen. Sie wollte gern mit ihm über den vorangegangenen Besuch bei Lombard´s und Groming sprechen.
„Was gibt´s denn?“ fragte Conny seine Kollegin und ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen.
„Wie fandest du diesen Delaney?“ fragte sie ihn direkt heraus.
„Ziemlich arrogant“, erwiderte er nachdenklich. „Seine Reaktion auf Penny Harpers Tod wirkte irgendwie gespielt, nicht ehrlich betroffen“.
Doch Jerry wollte auf etwas anderes hinaus. „Ist dir aufgefallen, dass er gar nicht gefragt hat, wer Harper getötet hat? Und dass er einmal sekundenlang wie weggetreten wirkte?“
„Naja, wenn man als Chef erfährt, dass einer seiner Mitarbeiter getötet wurde, halte ich es für relativ normal, dass man etwas von der Rolle ist“, gab er ihr zu bedenken.
„Delaney macht aber auf mich nicht den Eindruck, dass er sich sonderlich mit seinen Angestellten beschäftigt, dass hat er ja sogar selbst bestätigt“, blieb Jerry kritisch. „Erinnere dich an seine ausholende Handbewegung, als er uns von all seiner Arbeit vorjammerte, die ihm leider nicht ermöglicht, viel Kontakt mit seinen Angestellten zu haben“. Jerrys Stimme troff vor Sarkasmus.
„Kann alles sein, Jerry“, gab Conrad Hayes schließlich nach, „aber Menschen sind nun mal unterschiedlich. Der eine reagiert auf solche tragischen Mitteilungen beherrscht, der andere bricht völlig zusammen…“. Er schüttelte zweifelnd mit dem Kopf. „Wir müssen erst mehr über Harper wissen, bevor wir solchen Eindrücken Gewicht beimessen sollten oder nicht“, empfahl er seiner Kollegin, die jetzt zustimmend nickte.
„Richtig“, bestätigte sie. „Deshalb möchte ich jetzt auch erst mal auf die Phantombilder warten und dann mit Harpers direktem Vorgesetzten, diesem Henry Groming, reden. Misses Kentrall sagte, dass der fremde Mann gestern im Hausflur wie ein Anwalt oder Banker aussah“, meinte sie schulterzuckend, „wer weiß, vielleicht handelt es sich bei Miss Harpers geheimer Liebesgeschichte ja um die klassische Konstellation Chef – Angestellte“.
Conny grinste sie an. „Hast du wieder einen von deinen Liebesromanen gelesen?“ neckte er sie. Jerry streckte ihm scherzhaft die Zunge raus. Conny wusste von Jerrys Schwäche für Groschenromane, vor allem die historischen Liebesgeschichten hatten es ihr angetan.



Doktor Sybill Parker saß gedankenverloren an ihrem Schreibtisch. Was war da gestern Abend im Park los gewesen, überlegte sie und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen über die müden Augenlider. Sie war gegen Abend tatsächlich an ihrem Schreibtisch eingeschlafen. Sicher, sie war überarbeitet und die finanziellen Sorgen drückten ihr mächtig auf die Seele, aber in den letzten Wochen war es ihr mehrfach passiert, dass sie bereits am frühen Abend einfach wie erschlagen einschlief, egal, ob sie am Schreibtisch saß oder in ihrem Lesesessel Unterlagen durchging. Sie hoffte nur, dass sie nicht krank war. „Ich muss mich mal wieder richtig durchchecken lassen“, beschloss sie schließlich und notierte auf ihrer Schreibtischunterlage, dass sie einen Termin bei Professor Cunningham vereinbaren musste. Ihn kannte sie schon aus ihrer Zeit als Studentin. Er war ein glänzender Diagnostiker und hervorragender Internist. Wenn irgend eine Krankheit in ihr schlummerte, würde er sie finden.
Irgendwann zu später Stunde war sie dann aus ihrem komaartigen Schlaf erwacht und hatte unten im Garten leise Stimmen gehört. Sie war mit bleischweren Beinen nach untern gegangen und hatte in den dunklen Park hinausgeschaut, jedoch niemanden entdecken können. Um der Sache weiter nachzugehen, war sie viel zu erschöpft und müde. Sie ging zurück in ihr Zimmer und legte sich dann endgültig in ihr weiches bequemes Bett.
Gähnend reckte sie sich, trank dann einen Schluck des starken Kaffees, den Frank ihr heute früh aufgebrüht hatte und holte die Unterlagen der nächsten Patientin hervor, die sie jetzt erwartete. Just in dem Moment klopfte es kurz an der Tür, bevor sie geöffnet wurde. Dr. Parker beobachtete die eintretende Frau Sekunden lang. Das Gesicht der jungen Frau war angespannt, die wilde Lockenmähne hatte sie zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden und die Schulter waren gestrafft. Dr. Parker nickte kurz und bat die Patienten mit einer Handbewegung, auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.
„Guten Morgen, Kate“, sagte sie und lehnte sich leicht auf den Schreibtisch, „wie geht es dir?“
Ihr Gegenüber blickte absichtlich an der Psychologin vorbei zum Fenster hinaus. „Wenn Sie mich endlich aus diesem Irrenhaus entlassen würden, ginge es mir entschieden besser!“ erwiderte sie provokativ und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wo ist Louise?“ fragte Dr. Parker ruhig.
„Die schläft“, kam es knapp zurück.
Die Psychologin lehnte sich noch ein wenig mehr über den Tisch und schnupperte mit gerümpfter Nase. „Du hast geraucht?“ meinte sie und vermied geflissentlich, vorwurfsvoll zu klingen, denn sie wusste, wie die junge Frau auf Vorwürfe reagierte.
Statt einer Antwort kam nur ein gleichgültiges Schulterzucken.
„Du weißt, dass Louise Zigarettenrauch hasst“, fuhr Dr. Parker fort. „Warum ärgerst du sie damit? Du rauchst doch nur, um sie zu ärgern, stimmt´s?“ Sie versuchte in mildes Lächeln, das aber nicht erwidert wurde.
„Ich rauche, wann´s mir passt“, antwortete die Patienten und richtete sich unwillkürlich auf in ihrem Stuhl. „Es ist mir völlig egal, was Louise davon hält. Schließlich hat sie sich auch nie nach mir gerichtet. Nicht mal in Fragen größter Wichtigkeit!“ Ihr Blick war jetzt angriffslustig auf die Ärztin gerichtet.
„Louise muss dich nicht um Erlaubnis fragen, Kate“, widersprach Dr. Parker. „Es ist ihr Leben.“
Kate sprang von ihrem Stuhl auf. „Und genau das ist nicht wahr“, spie sie der noch immer ruhig wirkenden Psychologin entgegen. Diese kannte Kate gut genug, um zu wissen, wie impulsiv sie sein konnte. Nur wenn sie ruhig blieb konnte auch die Patientin sich wieder beruhigen. „Louise ist ein naives, einfältiges zehnjähriges Mädchen“, fuhr Kate wütend fort. „Ihre geistige Entwicklung ist an dem Tag stehen geblieben, an dem sie Helen an dem Baum hängend vorgefunden hat, und Sie wissen das, Dr. Parker. Ich bin diejenige, die erwachsen geworden ist, die Louise ein eigenständiges Leben überhaupt nur ermöglicht hat, die sie nicht wie eine zurückgebliebene Idiotin hat dastehen lassen!“
Dr. Sybill Parker lehnte sich nachdenklich in ihrem Stuhl zurück. „Du hast nicht das Recht, so etwas zu sagen, Kate“, setzte sie ruhig an. „Nachdem Helen damals gestorben ist, wurde Louise einfach nicht mit der Situation fertig. Sie wollte die Augen verschließen vor der Realität, sie wollte das Leben ohne ihre Mutter nicht akzeptieren. Deshalb hat sie sich in ein Schneckenhaus verkrochen – jedenfalls ein Teil von ihr. Du bist der Teil von ihr, der sich nicht verkrochen hat, der stärkere Teil von ihr, der mit der Realität fertig wurde und das aktive Leben irgendwann wieder aufgenommen hat. Du bist Louise, Kate!“ redete sie energisch auf die junge Frau ein, die jetzt so heftig mit dem Kopf schüttelte, dass sich der Haarknoten löste und ihre hellbraunen Locken wild umherflogen. „Du hast kein Recht, dich weiterhin von ihr abzuspalten. Und du musst endlich begreifen, dass du nur komplett bist, wenn du Louise so akzeptierst wie sie ist. Sie ist der gefühlvolle, weiche, mitfühlende Teil von dir. Eigenschaften, die du nicht hast. Aber nur Stärken und Schwächen machen einen Menschen vollkommen. Wenn du dich nicht wieder mit Louise vereinigst, wirst du nie ein gesunder zufriedener Mensch werden.“ Das Gesicht der Psychologin nahm einen weichen Zug an, während sie aufgestanden und um den Schreibtisch herum auf die zitternde Frau zugegangen war. „Weck jetzt Louise auf und rede mit ihr, vereinige dich mit ihr. Schick sie nicht schlafen, wenn sie etwas sagt oder tut, was dir nicht passt. Louise ist gut, so wie sie ist, und du bist gut, so wie du bist. Ihr seid eins, Kate.“ Sie wollte sanft nach der Schulter der jungen Frau greifen, als diese wie von der Tarantel gestochen aufsprang.
„Ach ja?“ schrie sie mit wutverzerrter Miene. „Louise ist gut, so wie sie ist? Dass ich nicht lache“. Sie entfernte sich von der Psychologin. „Louise hat mich nicht zu Rate gezogen, als sie diesen eiskalten, berechnenden Delaney geheiratet hat. Sie hat auf ihren miesen Vater gehört, ganz wie es sich für ein braves Töchterchen gehört. Es kann nur einer überleben, entweder Louise oder ich. Sie weckt mich nie von alleine. Ich muss immer auf sie aufpassen und wenn ich es mal nicht tue, macht sie nur Blödsinn!“ Mit einer ausholenden Bewegung fegte sie die Lampe von Dr. Parkers Schreibtisch.
„Kate“, beharrte die Psychologin und ging wiederum auf sie zu, „ihr ward längst vereint. Jahrelang habt ihr harmonisch miteinander gelebt. Ihr ward beide wach und habt gemeinsam Situationen beurteilt und dann gemeinsam entschieden. Begreif doch, dass es dich ohne Louise nicht geben kann. Du kannst sie nicht aus eurem Körper und eurer Seele verbannen. Sie gehört zu dir!“ Fast flehentlich blickte sie durch die Lockenmähne der jungen Frau hindurch, um ihre Augen sehen zu können. „Willst du mir nicht endlich erzählen, wodurch ihr euch wieder getrennt habt?“ fuhr sie leise fort. „Was hat dich dazu bewogen, dich wieder von Louise abzuspalten?“
Die Augen der Patientin funkelten angriffslustig und verbittert zugleich. „Ich hab mich nicht abgespaltet. Es war Louise, die alles kaputt gemacht hat“, erwiderte sie mit gefährlich leiser Stimme. „Sie hat diesen Delaney geheiratet, weil ihr Vater es für richtig hielt. Er wollte Jack als Nachfolger und hat dafür seine Tochter verkauft. Louise hat mich einfach ausgeblendet und den Kerl geheiratet. Monatelang während sie mit ihm ausging und ihn schließlich heiratete, war ich nicht mal vorhanden in ihrem Bewusstsein. Erst als sie einige Monate nach der Trauung – es war der Tag, an dem Jeremiah Lombard seinen Herzinfarkt erlitt – das Familienstammbuch, das sie bei der Trauung in der City Hall benötigt hatte, zurück in den Safe ihres Vaters legen wollte und darin den Abschiedsbrief ihrer Mutter fand, da brach unsere kleine, naive Louise wieder zusammen und ich durfte wieder übernehmen“. Sie ließ einen verächtlichen Schnaufer hören, ging auf das Fenster zu, verschränkte die Arme vor der Brust und kehrte somit Dr. Parker den Rücken zu.
Die Psychologin stand wie erstarrt da. „Helen Lombard hat einen Abschiedsbrief hinterlassen? Davon hatte ich keine Ahnung“, brachte sie mühsam hervor und hielt sich mit einer Hand an der Schreibtischplatte fest.
„Woher auch“, antwortete Kate verächtlich. „Louise ist ja nachdem sie den Inhalt des Briefes gelesen hatte in Ohnmacht gefallen und hat mir wieder alles Unangenehme überlassen“.
„Aber du musst wach gewesen sein, als sie ihr Elternhaus betreten hat“, widersprach Dr. Parker. „Louise hat dieses Haus nach Helens Tod nie wieder allein betreten. Wenn sie das doch getan hat, dann nur, wenn du wach warst und mit ihr geredet hast.“ Abwartend blickte sie Kate an, die sich ihr zugewandt hatte.
„Dasselbe habe ich sie auch gefragt, denn ich wusste, dass dieser Hasenfuss nie allein ins Haus gegangen wäre. Sie sagte, Marianne sei bei ihr gewesen, weil Louise sie darum gebeten hatte“.
Das war eine Erklärung, dachte Dr. Parker. Sie wusste, dass Louise ohne Kate nicht die Kraft hatte, sich den Erinnerungen an Helens Tod zu stellen. Dr. Parker zögerte, doch dann fragte sie:“Weißt du, was in dem Brief stand?“ Sie wagte kaum zu atmen.
Kate machte einige Schritte direkt auf sie zu und fixierte sie aus schmalen Augen. „Ja, Dr. Parker, ich weiß, was in dem Brief stand, und ich habe noch jedes einzelne Wort im Gedächtnis!“ Sie tippte mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand gegen ihre Schläfe. „Als Louise das Familienbuch für die Trauung brauchte, hatte Jeremiah es ihr gebracht und er hatte sie auch gebeten, es ihm wieder zurückzugeben. Er wollte nicht, dass sie je von diesem Brief erfuhr. Aber Louise hatte vor Helens Tod manchmal von der Treppe aus ihren Vater im Arbeitszimmer heimlich beobachtet. Und wie Sie vielleicht wissen, hatte Louise immer eine Schwäche für Zahlen. Sie liebte es, sich Zahlenreihen zu merken, indem sie Verbindungen herstellte zwischen den einzelnen Zahlen. Und so konnte sie sich auch die Kombination des Safes merken“, erklärte sie fast triumphierend. „Die Kombination war 30961815. Sie merkte sich die Drei und alles Folgende ergab sich daraus. Drei minus Drei ergibt Null, Drei mal drei macht Neun, dann wieder Neun minus Drei macht sechs, diese wieder mal Drei genommen ergibt Achtzehn und davon nahm sie wieder drei minus und hatte die Fünfzehn“. Kate lächelte die erstaunte Psychologin an. „Sie hatte sich nur die erste Zahl merken müssen und dann immer minus und mal nehmen müssen, gar nicht dumm, was?“
Dr. Parker versuchte an diesem Punkt fortzufahren. „Siehst du?“ erwiderte sie, „Louise hat ebenso viele Qualitäten wie du. Ihr müsst wieder eine Einheit bilden, damit ihr in friedlicher Koexistenz leben könnt.“
Doch Kate war zu clever, um auf Sybill Parkers Ablenkungsmanöver hereinzufallen. „Sie wollen mir sagen, wie Louise und ich leben sollen, Doktor Parker?“ fragte sie mit spöttischer Miene. „Jemand der Dinge getan hat, die moralisch so verwerflich sind, dass er meiner Meinung nach aus der Ärzteschaft ausgeschlossen gehört? Machen Sie sich nicht lächerlich!“ Jegliches Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Hasserfüllt blickte sie die erschrockene Psychologin an. „Was gibt Ihnen Jack Delaney dafür, dass Sie mich hier festhalten?“ spie sie ihr entgegen. „Ist es genauso viel wie Jeremiah Lombard Ihnen gegeben hat dafür, dass Sie die Wahrheit über Helens Freitod verschwiegen und verschleiert haben?“ Kate rückte noch ein wenig näher an die nach Luft schnappende Ärztin heran. „Warum hat Jeremiah diesen Abschiedsbrief überhaupt aufbewahrt? Hat er Sie ebenso damit erpresst wie Sie ihn? Welches miese Spielchen habt Ihr zwei Euch da ausgedacht?“ Am liebsten hätte sie Dr. Parker am Kragen gepackt, doch diese Genugtuung wollte sie ihr nicht geben, denn dann hätte sie sie umgehend in eine Zwangsjacke stecken lassen. „Auf jeden Fall war es ein Spielchen, das auf Louises Kosten ging“ , fuhr sie knallhart fort. „Ihr wurde die geliebte Mutter genommen, ihr wurde nie gesagt, warum Helen sich wirklich umgebracht hatte. Mich gibt es nur, weil ihr ein kleines zehnjähriges Mädchen nicht bedacht habt bei Euren Plänen.“ Wutschnaubend wandte sie sich zur Tür, um den Raum zu verlassen, bevor sie doch noch in Versuchung geriet, sich an der verlogenen Ärztin zu vergreifen. Doch bevor sie zur Tür heraus war, drehte sie sich ein letztes Mal um. „Machen Sie sich um mich und Louise keine Gedanken. Wenn ich spüre, dass Louise stark genug ist, werde ich zulassen, dass sie wach ist auch wenn´s mal brenzlig wird. Sie sollten sich lieber um sich selbst und Ihre Zukunft Gedanken machen“, endete sie mit bedrohlicher Stimme. Sybill Parker stand kre! idebleic h wie erstarrt da. Ihr jahrelanges Psychologiestudium war in diesem Moment wie weggewischt. Sie stand vor einer schizoiden Persönlichkeit und brachte nicht ein Wort mehr hervor. Sie konnte es einfach nicht fassen. Louises zweites Ich hatte sie, Doktor Sybill Parker, in der Hand! Wie konnte das passieren? Helen hatte ganz sicher keinen Abschiedsbrief hinterlassen und wenn, hätte Jeremiah ihn längst vernichtet, damit nicht die Gefahr bestand, Helens Selbstmordgründe könnten je herauskommen. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.




Pat kam mit Misses Kentrall im Schlepptau herüber zu Lieutenant Jerry Hope und ihrem Kollegen Conrad Hayes. In seiner Hand hielt er zwei DIN A4 große Blätter, die er nun seufzend auf Jerry Hopes Schreibtisch warf. Misses Kentrall stand schräg hinter ihm und konnte seinen entnervten Gesichtsausdruck nicht sehen. „Es ist vollbracht“, flüsterte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Jerry lächelte ihn verständnisvoll an. „Vielen Dank für Ihre Mitarbeit, Misses Kentrall“, sagte sie pflichtschuldig an die Nachbarin der getöteten Penny Harper gerichtet. Diese wischte sich schnaufend mit einem Taschentuch den schweißnassen Hals ab.
„Gern geschehen, Miss Hope“, sagte sie. „Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich mir die ganze Sache nicht so schwierig vorgestellt hatte“, gestand sie mit leicht beleidigter Miene ein. Fragend blickte Jerry zwischen ihr und Pat hin- und her.
„Inwiefern?“ fragte sie.
Misses Kentrall wedelte nun mit dem Taschentuch frische Luft in ihr schwammiges Gesicht. „Naja, es ist halt doch ganz anders, jemanden allgemein zu beschreiben als so detailgenau, wie Ihr Kollege es von mir verlangt hat“, erklärte sie mit einem abschätzenden Seitenblick auf den armen Pat.
„Nur so können wir verhindern, dass nicht der Falsche in Verdacht gerät, Misses Kentrall. Das wollen Sie doch sicher auch nicht oder?“ mischte sich Conny mürrisch ein. Misses Kentrall erwiderte darauf nichts, versah Conny jedoch mit demselben abschätzenden Blick wie seinen Kollegen Pat.
„Noch einmal, Dankeschön für Ihre Mühe, Misses Kentrall“, warf Jerry beschwichtigend ein. „Ein Officer wird Sie nach Hause fahren“, endete sie und nickte einem an der Tür stehenden Officer zu. „Falls wir weitere Fragen haben, wenden wir uns vielleicht noch einmal an Sie.“
„Ich helfe Ihnen immer gern weiter, Miss Hope“, antwortete die schwitzende Dame lächelnd an Jerry gewand, bevor sie ihr Kinn in die Höhe reckte und grußlose Blicke auf Pat und Conny warf. An der Seite des Officers rauschte sie aus dem Revier. Lächelnd sahen sich die drei Polizisten an, als das Telefon auf Jerrys Schreibtisch klingelte.
„Hope“, meldete sich Jerry knapp.
„Guten Tag, spreche ich mit Lieutenant Jerry Hope?“ kam es aus dem Hörer. Nachdem Jerry dies bestätigte, fuhr der Anrufer fort. „Mein Name ist Henry Groming, ich bin Abteilungsleiter bei Lombard & Groming. Sie wollten mit mir sprechen, Lieutenant?“
Jerry richtete sich unwillkürlich in ihrem Stuhl auf. „Ja, Mister Groming. Ich würde Sie gern in Ihrem Büro aufsuchen. Wenn es geht, jetzt gleich“, erwiderte Jerry mit fester Stimme.
„Gut, ich erwarte Sie“, bestätigte Henry und legte auf. Er verharrte Sekunden lang mit der Hand auf dem Telefon. Warum konnte sie ihre Fragen nicht einfach am Telefon stellen? Fragte er sich mit einem flauen Gefühl im Magen. Andererseits war es vielleicht ganz normal, Befragungen in einem Mordfall persönlich vorzunehmen.
Endlich konnte sich Jerry an die Besichtigung der Phantombilder machen. Conny hatte sich neben sie gesetzt und gemeinsam betrachteten sie nun die beiden Männergesichter, die nach Misses Kentralls Beschreibungen entstanden waren. Sie brauchten nicht lange, bis sie sich lächelnd ansahen.
„Denkst du, was ich denke?“ fragte Jerry ihren Kollegen grinsend.
„Der eine Kerl hat verdammt viel Ähnlichkeit mit Mister Jack Delaney, meine ich“, erwiderte Conny.
„Das meine ich auch!“ bestätigte Jerry, stand von ihrem Stuhl auf und griff nach ihrer Wildlederjacke. „Wir sollten jetzt eine kleine Arbeitsaufteilung vornehmen, Conny“, schlug Jerry vor. „Du siehst zu, was du über Jack Delaneys Privat- und Geschäftsleben rausfinden kannst, während ich Harpers Abteilungsleiter Henry Groming einen Besuch abstatte. Danach treffen wir uns hier im Revier wieder und besprechen alles weitere, okay?“ Conny nickte bejahend und sprang ebenfalls von seinem Stuhl auf. Wenn es um Recherchen ging, war Conrad Hayes unschlagbar. Er hatte zu allem und jedem Kontakte, zur High Society ebenso wie zur Unterwelt.


„Nehmen Sie doch Platz, Lieutenant“, bat Henry die junge Polizistin, die soeben sein Büro betreten und ihren Dienstausweis vorgezeigt hatte. Jerry folgte seinem Angebot, während sie aber die ganze Zeit ihre Augen auf sein Gesicht gerichtet hielt. Sie hatte ihn sofort erkannt. Misses Kentrall und Pat hatten wirklich gute Arbeit geleistet. Henry Groming war eindeutig der Mann auf dem anderen Phantombild. Ein Bankdirektor und ein Abteilungsleiter derselben Bank waren also gestern Nachmittag beziehungsweise gestern Abend beim Opfer gewesen. Nun fragte sich nur noch, in welcher Beziehung sie zu Penny Harper standen und was sie bei ihr getan oder nicht getan hatten.
„Ich habe schon gehört, was mit der armen Miss Harper geschehen ist“, fuhr Henry mit betroffener Miene fort. „Ermordet… stimmt das?“ fragte er.
Jerry Hope nickte. „Ja, auf bestialische Weise durch mehrere Messerstiche“, erwiderte sie und wartete seine Reaktion ab. Henry Augen weiteten sich schockiert.
„Messerstiche?“ presste er hervor. „Sie meinen, der Täter hat auf die arme Penny mehrfach eingestochen?“ Er konnte kaum fassen, was er da hörte.
„Geradezu zerfleischt“, meinte Jerry, „und noch dazu an Händen und Füßen gefesselt“, fuhr sie fort. „Der Täter hat sie geradezu hingerichtet.“
Henry spürte wie sich sein Magen zusammen schnürte. „Oh, mein Gott“, stöhnte er auf. „Wie entsetzlich.“
„Wo Sie gerade von Gott sprechen“, nutzte Jerry den Moment seiner offensichtlichen Fassungslosigkeit, „sind Sie ein gläubiger Mensch, Mister Groming?“ fragte sie und lehnte sich kaum merklich ein wenig nach vorn.
„Ob ich was? Natürlich bin ich ein gläubiger Mensch, Lieutenant“, erwiderte Henry überrascht. „Aber, was meinen Sie damit?“
„Nichts“, speiste Jerry ihn knapp ab. „Ich frage mich nur gerade, was Sie gestern Nachmittag bei Miss Harper wollten? Sie werden kaum einen Krankenbesuch abgestattet haben. Erstens war Miss Harper vor ihrem Tod nicht so krank, dass ein solcher Besuch nötig gewesen wäre, zweitens dürfte es doch eher unüblich sein, dass ein Abteilungsleiter eine krankgeschriebene Mitarbeiterin zu Hause besucht – es sei denn, es gab einen persönlichen Kontakt zwischen Ihnen und Miss Harper…“ Ihre Augen waren stechend auf ihn gerichtet. Henry spürte, wie sich Schweiß auf seiner Stirn bildete. Wie konnte sie nur so schnell von seinem gestrigen Besuch bei Penny erfahren haben? Fragte er sich.
„Ich hatte keinen persönlichen Kontakt zu Miss Harper“, erwiderte Henry mit belegter Stimme. „Es…es gab nur eine Sache, die ich mit ihr besprechen musste“.
„Und die wäre?“ blieb Jerry hartnäckig.
„Entschuldigen Sie, Lieutenant, aber was ich mit Miss Harper zu besprechen hatte, kann unmöglich etwas mit ihrem Tod zu tun haben, deshalb ist es irrelevant“, versuchte er sich herauszureden.
Jerry platzte der Kragen. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, lehnte sich weit über den Schreibtisch zu Henry hinüber und fixierte ihn mit kalten Augen. „Was irrelevant ist oder nicht, Mister Groming, entscheide ich! Ist das klar?“ herrschte sie ihn an. „Und wenn Sie mir nicht sofort eine befriedigende Antwort geben, können wir uns gern auf dem Revier weiter unterhalten. Sie sind einer der letzten Menschen, der Penny Harper lebend gesehen haben muss, vielleicht sogar der letzte. Also wäre es ein leichtes für mich, Sie mit aufs Revier zu nehmen und Sie dort als Tatverdächtigen zu verhören.“ Sie schob sich wieder ein Stück von ihm zurück, hielt aber starr ihren Blick auf ihn gerichtet. „Also, Mister Groming, antworten Sie jetzt auf meine Frage oder nicht?“
Henry schien in sich zusammen zu sacken. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und legte dann den Kopf in den Nacken. „Okay, Lieutenant“, gab er schließlich nach. „Ich war gestern bei Penny Harper und es hatte tatsächlich nichts mit der Arbeit zu tun. Allerdings kann ich Ihnen schon jetzt sagen, dass es auch absolut nichts mit ihrem Tod zu tun hatte. Miss Harper hatte ein Verhältnis mit jemandem aus der Firma. Ich wollte sie deshalb zur Rede stellen, weil dieses Verhältnis, wäre es herausgekommen, dem Ansehen der Bank geschadet hätte“, erzählte er und hoffte vergeblich, die Polizistin würde sich damit zufrieden geben.
„Also muss es sich um eine wichtige Persönlichkeit der Bank gehandelt haben“, erwiderte Jerry. Henry nickte kaum merklich. „Und dieser Jemand heißt Jack Delaney und ist der Direktor der Bank, nicht wahr?“ beendete sie das Katz und Maus Spiel. Henry wandte ihr ruckartig sein Gesicht zu. Er war zu schockiert, um etwas zu sagen. Sie weiß viel, ging es ihm durch den Kopf. Aber von der Sache mit Winthorp und seiner Frau scheint sie nichts zu wissen. Wenn irgend möglich, wollte Henry William Winthorp aus der Sache raushalten.
„Nicht wahr?“ wiederholte Jerry Hope mit eindringlicher Stimme.
„Ja“, hauchte Henry resigniert. Es hatte keinen Sinn mehr, etwas zu verschleiern. Die Polizei schien ohnehin schon über alles Bescheid zu wissen.
Lieutenant Jerry Hope ließ sich ihr innerliches Triumphgefühl nicht anmerken. Natürlich war sie davon ausgegangen, dass Jack Delaney etwas mit Penny Harper zu tun gehabt haben musste, nachdem sie ihn so klar auf dem Phantombild erkannt hatte. Dennoch hatte sie ein wenig gepokert, als sie Henry Groming derart in die Enge trieb. Sie erhob sich von ihrem Stuhl. „Mister Groming, ich werde Sie noch einmal aufsuchen müssen und bitte Sie an dieser Stelle ebenfalls, die Stadt nicht zu verlassen, solange unsere Ermittlungen nicht abgeschlossen sind“, informierte sie ihr blass gewordenes Gegenüber. Wortlos reichten sie sich die Hand und Jerry ging sofort hinüber zu Jack Delaneys Büro. Sie fand es jedoch leer vor.
„Mister Delaney sagte er habe etwas dringendes zu erledigen, käme aber in ungefähr einer Stunde zurück ins Büro“, erklärte seine Sekretärin Marianne Simmons auf Jerrys Frage nach seinem Verbleib.
„Gut“, erwiderte sie knapp. Sie wollte noch etwas sagen, verkniff es sich aber. Vielleicht war es besser, wenn die Sekretärin nicht wusste, dass sie ihrem Chef auf den Fersen war. „Ich werde Mister Delaney später noch einmal aufsuchen“, tat Jerry unbekümmert. „Es gibt da nur noch ein, zwei Routinefragen“, spielte sie ihr erneutes Auftauchen herunter. Damit verabschiedete sie sich von der erstaunten Sekretärin und kehrte zurück ins Revier, wo sie angespannt auf Connys Rückkehr wartete.



Jack fühlte sich wie ein Tier, um das sich allmählich eine Falle zuzog. Nach dem Besuch der Polizei und den anschließenden Beschuldigungen seitens Henry musste er einfach raus aus seinem Büro. Es kam ihm vor, als drehe jemand den Sauerstoffhahn darin zu. Er brauchte frische Luft und ein wenig Ruhe zum Nachdenken. Ziellos lief er durch die Straßen. Seine Hand in der Jackentasche umklammerte sein Handy. Er wartete dringend auf einen Anruf von Sarah. Er hing völlig in der Luft, wusste überhaupt nicht mehr, woran er war. Er hielt die Ungewissheit nicht mehr aus und beschloss, sie anzurufen. Er wählte ihre Handynummer, jedoch vergeblich. Das Handy war abgeschaltet.
Was sollte er der Polizei sagen, wenn sie hinter sein Verhältnis mit Penny kamen? Er war inzwischen fünf Blocks von der Bank entfernt, als er beschloss zurück ins Büro zu gehen. Etwas anderes als Abwarten blieb ihm im Moment nicht übrig.




Louise saß im Sanatoriumspark und ließ sich von der Frühlingssonne wärmen. Vor sich hatte sie die Staffelei aufgestellt und wartete noch auf die richtige Inspiration für ein neues Bild. Sie summte vergnügt vor sich hin. „Na komm, mein Fröschlein, komm, wir wollen Fliegen fangen, summ summ summ, schau dich doch nur hier um, brumm brumm brumm, da komm die Fliegen schon…“ Gerade wollte sie ihren Pinsel in das kräftige satte Grün tauchen, um mit der üblichen Frühlingswiese anzufangen, als Kate ihr den Pinsel aus der Hand riss. Erschrocken blickte Louise sie von der Seite an. „Ich wollte eben anfangen zu malen, Kate. Gib mir den Pinsel wieder“, maulte sie wie ein kleines Kind.
„Du wirst nicht wieder diese alberne Frühlingslandschaft mit Sonne, blauem Himmel und Regenbogen malen!“ fauchte Kate sie jedoch an. „Du musst endlich mal erwachsen werden, Louise!“
„Warum sollte ich?“ fragte sie beleidigt.
„Weil ich es satt habe, ein albernes Kind mit mir herum zu schleppen“, erwiderte Kate unerbittlich. „Jetzt male ich dir mal ein Bild.“ Und sie tunkte den Pinsel in tiefes Schwarz. Sie malte einen schwarzen Baum mit schwarzen Früchten daran und an einen der Äste malte sie einen Galgen, an dem eine Frauen Silhouette zu erkennen war. „Sieh es dir an, Louise“, befahl sie, als sie spürte, dass Louise die Augen schließen wollte. „Wir kommen nie hier raus, wenn du nicht endlich den Tatsachen ins Auge siehst“, drang sie auf die verängstigte Louise ein. „Ich will aus diesem Sanatorium raus, aber das geht nur, wenn du endlich die Geschehnisse von damals begreifst und verarbeitest!“
„Ich will nicht, ich will nicht!“ kreischte Louise und versuchte mit aller Macht die Augen zu schließen. Aber Kate ließ es nicht zu.
„Sieh es dir an. Dort an jenem Baum im Garten hast du Helen gesehen, nachdem sie sich aufgehängt hat. Sie hat sich aufgehängt, verstehst du? Sie hat Selbstmord begangen!“
„Ich will davon nichts wissen. Meine Mama schmort nicht in der Hölle!“ wehrte sich Louise verzweifelt gegen Kates Worte.
„Ach hör auf, Louise“, schimpfte sie, „das hab ich neulich nur so gesagt. Ich weiß nicht, ob Helen in der Hölle schmoren muss für ihren Selbstmord. Wahrscheinlich nicht“. Kates Stimme wurde einen Hauch sanfter, was Louise sehr erstaunte. Sie hatte Kates Stimme noch nie anders gehört als wütend oder vorwurfsvoll.
„Wie meinst du das?“ fragte sie zaghaft nach.
„Ich meine, dass Jeremiah Lombard, unser Vater, an allem Schuld ist. Er trägt auch die Schuld für Helens Tat und deshalb muss er sicher auch für ihren Selbstmord in der Hölle bezahlen.“
„Weil er sie betrogen hat?“
„Weil er ein mieses Schwein war und sie mit einer tödlichen Krankheit angesteckt hat durch seine Hurerei“, spie Kate ihr entgegen. „Ich hab´s in dem Abschiedsbrief gelesen, den Jeremiah vor aller Welt geheim halten wollte. Darin hat Helen geschrieben, dass Dr. Parker HIV positiv bei Helen festgestellt hatte. Sie hatte Aids, kapierst du?“
„Nein“, hauchte Louise den Tränen nahe.
„Das ist eine tödliche Immunschwäche. Helen wäre früher oder später elendig daran gestorben, aber nicht bevor sie vielleicht jahrelang geradezu körperlich zerfallen wäre.“
Louise brach in Tränen aus. „Ist mein Vater auch an dieser Krankheit gestorben?“
„Nein, er ist tatsächlich seinem schwachen Herz erlegen, obwohl man kaum vermuten mag, dass er überhaupt so etwas wie ein Herz im Leib hatte“, setzte sie verbittert hinzu.
„Sag so etwas nicht, Kate“, flehte Louise, der alles zuviel wurde, was sie von Kate zu hören bekam. „Er war ein guter Vater, der mich nach Mamas Tod ganz allein aufgezogen hat“, wollte sie ihn verteidigen, was sofort wieder Kates Aggression erweckte.
„Allein aufgezogen?“ rief sie ungläubig. „Wie kommst du denn darauf? Nachdem wir aus dem Krankenhaus entlassen wurden, hat er uns doch sofort in dieses Psycho-Internat gesteckt. Und wenn wir zu Hause waren, hat sich Marianne um uns gekümmert, während er entweder in der Bank oder bei irgendeiner Hure war“, klärte sie ihr schwächeres Ich auf. „Nach der Therapie damals hattest die ganze Zeit du das Ruder in der Hand, Louise“, fuhr sie bitter fort. „Mich haben diese verdammten Psychologen einfach verdrängt. Und das hat Jeremiah schamlos ausgenutzt und dich mit diesem Delaney verkuppelt. Erst als du den Abschiedsbrief gefunden hattest, musste ich mich wieder einschalten, weil du die Wahrheit nicht ertragen konntest. Und deshalb pfusch mir jetzt nicht dazwischen, Louise“, warnte sie sie. „Ich will aus diesem Sanatorium raus und es allen heimzahlen, was sie uns angetan haben. Jeremiah hat seine Strafe bekommen und Jack Delaney wird seiner gerechten Strafe auch nicht entgehen! Wenn ich mit ihm fertig bin, will ich hier raus. Bis dahin können wir Dr. Parker noch weiter die Psychopathin vorspielen, die brav ihre Medikamente schluckt. Solange Jack noch da ist, will ich eh nicht in mein Haus zurück. Aber schon bald werden alle Probleme beseitigt sein und dann will ich hier raus. Deshalb musst du endlich bei mir bleiben, wach bleiben, auch wenn Dinge geschehen, die dich erschrecken!“
„Lass Jack in Ruhe“, wehrte sich Louise. „Ich liebe ihn und er liebt mich, du bist nur eifersüchtig!“
Kate verdrehte die Augen. „Du bist so unerträglich naiv, Louise“, sagte sie fast resigniert. „Jack war nur scharf auf die Bank, nicht auf dich. Und das Kind, dass du von ihm erwartet hast, durfte einfach nicht zur Welt kommen. Es war ein Kind des Teufels!“
Louise schlug die Hände vors Gesicht. „Ich wusste, dass du mich die Treppe hinabgestoßen hast!“ jammerte sie unter Tränen. „Alle haben gesagt, ich sei gestolpert, aber ich wusste, dass du es warst!“
„Eines Tages wirst du mir dankbar sein!“ entgegnete Kate trocken. Louises Tränen rührten sie nicht.



„Es passt alles zusammen“, resümierte Conny, nachdem er ebenfalls ins Revier zurückgekehrt war und sich auf den Stuhl neben seiner Kollegin fallen ließ. „In gewissen Kreisen ist Jack dafür bekannt, kein Kostverächter zu sein, was Frauen betrifft – sofern sie seinem Typ entsprechen“.
„Und der wäre?“ fragte Jerry mit abschätzendem Blick.
„Geradezu klassisch“, entgegnete Conny mit einem schrägen Grinsen, „groß, blond, schlank – und diskret. Er bevorzugt verheiratete Frauen, um von Anfang an auszuschließen, dass seine jeweilige Gespielin auf eine ernstere Beziehung hinaus will. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Penny Harper war nicht verheiratet, dafür aber sehr attraktiv, bekannt für ihr Können in bestimmten Bereichen“, fuhr er fort und zwinkerte Jerry zweideutig zu, „und zudem war sie ehrgeizig und zielstrebig. Wenn sie sich mit einem Mann einließ, dann musste er entweder ein dickes Bankkonto haben oder für sie beruflich von Vorteil sein. Auf Jack Delaney trifft beides zu. Deshalb war er für sie auf jeden Fall genau der richtige“, endete er und warf seine Notizen nachlässig auf den Schreibtisch.
„Gut“, meinte Jerry und zog nachdenklich die Stirn in Falten. „Gehen wir die Sache mal durch. Jack und Penny hatten eine Affäre miteinander. Für Jack ein nettes kleines Abenteuer für die Freizeit. Aber Penny könnte durchaus mehr gewollt haben. Vielleicht wollte sie, dass er sich scheiden ließ und sie heiratete. Für Jack kam das natürlich überhaupt nicht in Frage. Schließlich ist seine Frau Louise Lombard, die offizielle Besitzerin der Bank seit dem Tod ihres Vaters, wie es in unserer Lokalzeitung vor zwei, drei Monaten zu lesen war. Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass sie irgendwas mit Kunst zu tun hat und die Geschäfte ganz und gar ihrem Mann überlassen hat. Was will der gute Jack mehr?“ folgerte Jerry und breitete die Arme fragend auseinander.
„Und als Penny ihm die Pistole auf die Brust setzt“, führte Conny ihre Ausführungen weiter, „entweder Scheidung und anschließende Heirat mit ihr oder sie flüstert seiner Frau, was für ein Schweinehund er ist, da dreht der gute Jack durch und pustet ihr das Licht aus“.
Jerry warf ihm einen schrägen Seitenblick zu, ob seiner flapsigen Ausdrucksweise. „So in etwa“, stimmte sie ihm jedoch zu. „Komm“, forderte sie ihren Kollegen nun auf und erhob sich, „lass uns zurück zu Lombard und Groming fahren und uns Delaney schnappen“. Sie griff nach ihrer Jacke und verließ mit eiligen Schritten das Revier, gefolgt von Conrad Hayes, der fast Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
„Warum rennst du so?“ fragte er sie schnaufend, als sie am Auto angelangt waren.
„Ich möchte, dass wir in Jack Delaneys Büro sind, noch bevor er zurückkehrt. Er soll keine Chance haben, von Groming oder der Sekretärin gewarnt zu werden“, erklärte sie ihm und setzte sich angespannt auf den Beifahrersitz, während Conny den Wagen startete. „Wenn wir ihn eiskalt erwischen, kommt er vielleicht ins Schleudern und verfängt sich in Widersprüchen“.
Ohne vorherige Anmeldung traten sie in Jacks Vorzimmer, das sie aber leer vorfanden. „Um so besser“, sagte Jerry zu ihrem Kollegen und ging weiter bis in Jacks Büro, das zu Jerrys Freude ebenfalls leer war.
„Okay. Wir setzen uns jetzt seelenruhig auf die beiden Stühlen hier und warten, bis Delaney eintritt“, instruierte sie Conny und schob die Stühle so zurecht, dass Delaney sie nicht gleich beim Eintreten sehen konnte. Conny unterdrückte ein Gähnen, während sie Minutenlang auf Jacks Rückkehr warteten. Dann öffnete sich plötzlich die Bürotür und Jack kam mit leicht hängenden Schultern und einem müde wirkenden Gesicht herein. Als er die beiden Polizisten erblickte, erschrak er sich so sehr, dass jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich. „Mein Gott, haben Sie mich erschreckt“, entfuhr es ihm, als er seine linke Hand aufs Herz legte. „Was gibt es denn noch, Herrschaften?“ beruhigte er sich jedoch schnell wieder, ging hinüber zu seinem Schreibtisch und ließ sich in den bequemen Ledersessel fallen.
Jerry erhob sich aus ihrer sitzenden Position und postierte sich direkt vor Jacks Schreibtisch. „Mister Delaney“, begann sie mit einem aufgesetzten Lächeln, „warum haben Sie uns heute Vormittag verschwiegen, dass Sie mit Penny Harper ein Verhältnis hatten?“
Jack war so vor den Kopf geschlagen, dass er seine Hände um die Sessellehnen klammerte und den Rücken grade durchdrückte. „Was?“ brachte er mühsam hervor und starrte Jerry mit großen Augen an.
„Sie haben schon verstanden, Delaney“, kam es nun von Conny, der ebenfalls aufgestanden war, und sich ein wenig breitbeinig mit vor der Brust verschränkten Armen neben Jack stellte. „Sie hatten eine Affäre mit Penny Harper und Sie waren gestern Abend bei ihr“, fuhr er unbarmherzig fort, während Jerry auch die kleinste Reaktion auf Jacks Gesicht registrierte. „Ich vermute, Sie werden ihr letzter Besucher gewesen sein, Mister Delaney“, sagte Conny, woraufhin Jack unwillkürlich nach Luft schnappte, aber immer noch kein Wort heraus brachte.
„Haben Sie die Affäre gestern beendet oder schon vorher, Jack“, übernahm jetzt wieder Jerry und lehnte sich auf den Schreibtisch, um Jack durch ihre Nähe noch mehr in die Enge zu treiben. „Aber sie wollte Sie nicht gehen lassen, stimmt´s?“ fuhr sie fort. „Sie wollte mehr sein als eine Seite in Ihrem Sammelsurium von kleinen Sexgeschichten, nicht wahr?“
„Das… das ist eine Lüge“, schrie Jack auf. Seine Selbstsicherheit, seine Überheblichkeit – alles war wie weggewischt. Er fühlte sich wie ein Tier, das die Jagd verloren hatte und nun im Angesicht des Todesstoßes vor seinen Peinigern stand.
„Was ist eine Lüge?“ fragte Conny kalt. „Dass Sie gestern bei Penny waren oder dass Penny mehr sein wollte, als ein kleines Verhältnis nebenbei?“
„Alles, alles ist eine Lüge“, spie Jack den beiden Polizisten entgegen. „Ich hatte nichts mit meiner Angestellten und ich war auch nicht bei ihr!“ Er war inzwischen von seinem Sessel aufgestanden und stand nun mit dem Rücken zum großen Panoramafenster.
„Beleidigen Sie nicht meine Intelligenz“, brüllte Jerry überraschend los und donnerte mit einer Faust auf Jacks Schreibtisch. Conny konnte sich ein verstecktes Grinsen nicht verkneifen. Er liebte es, wenn Jerry von Null auf Hundert einen Verdächtigen in die Zange nahm. Er fand es immer wieder erstaunlich, wie eine so liebevolle Person wie Jerry plötzlich zum knallharten Cop mutieren konnte.
Mit einer schnellen Bewegung fischte Jerry das Phantombild von Jack aus ihrer Jacke und knallte es vor ihn auf den Tisch. „Erkennen Sie sich wieder, Mister Delaney?“ herrschte sie ihn mit blitzenden Augen an. „Sie wurden gesehen, Mister!“ setzte sie hinzu und machte sich gerade. „Eine Nachbarin, die Sie schon häufig bei Penny Harper ein- und ausgehen gesehen hat, informierte uns darüber, dass Sie auch gestern zur Tatzeit dort waren. Und dass Sie die Wohnung auch oft mit einem Schlüssel selbst öffneten. Die Zeugin sagte außerdem, Sie hätten ein ziemliches Theater gestern Abend veranstaltet. Sie waren so laut, dass die Nachbarin weiter unten Sie hören konnte“, konfrontierte Jerry den kreidebleichen Jack Schlag auf Schlag mit immer mehr erdrückenden Beweisen. „Also hören Sie auf, uns irgendeinen Mist erzählen zu wollen“, fuhr sie ihn an und holte ihre Handschellen heraus.
Jack hob wie zum Schutz die Hände in die Höhe. „Ich geb ja zu, dass ich bei ihr war“, rief er ergeben, „aber sie war nicht da. Ich habe mehrfach gegen die Tür geklopft, deshalb der Krach. Penny hat nicht geöffnet!“
„Sie hatten doch einen Schlüssel für das Appartement“, fuhr Conny ihn barsch an.
„Der war hier im Büro“, erwiderte Jack eifrig. „Ich hatte ihn nicht bei mir. Außerdem hätte ich ihn sowieso nicht benutzt“, setzte er gehetzt hinzu. „Die Sache mit Penny und mir war beendet, schon seit einer Woche!“ Verzweifelt blickte er von einem Polizisten zum anderen. Fast mitleidig blickten diese zurück. Sehr originell fanden sie seine Story nicht.
„Sie sind vorläufig festgenommen, Mister Delaney“, stellte Jerry klar und trat auf den wie in Trance wirkenden Jack zu, um die Handschellen um seine beiden Handgelenke zu legen und zu verschließen. „Mein Kollege Hayes wird Sie über Ihre Rechte aufklären“, endete sie und nickte Conny kurz zu, bevor sie in Jacks Vorzimmer trat. Die Sekretärin war noch immer nicht da, also ging Lieutenant Hope zur nächsten Tür weiter und wartete dort auf Conny, der Jack Delaney vor sich herschob. Jack ließ sich von dem Polizisten anschieben, als könne er nicht ohne dessen Hilfe vorankommen. Sein Gehirn war wie vernagelt. Es kam ihm alles wie ein Alptraum vor. Er, Jack Delaney, Direktor des renommierten Bankhauses Lombard & Groming, wurde in Handschellen aus seinem Büro geführt und stand im Verdacht, seine Angestellte und Exgeliebte Penny Harper brutal ermordet zu haben. Seine Augen waren starr, als sei er ein Blinder. Das einzige, was er dachte, war, dass, egal wie die Sache hier ausging, sein Ruf, sein Posten als Bankdirektor und wahrscheinlich auch seine lukrative Ehe wäre er los. Wie lächerlich diese Sorgen waren im Hinblick darauf, was ihm bevorstand, begriff er noch nicht. Denn noch wusste er nicht, dass der Strick um seinen Hals längst zugezogen war.




Sarah Winthorp lief in ihrem Haus herum, wie ein Tiger im Käfig. Seit gestern Abend wartete sie auf die Rückkehr ihres Mannes. Sie war wütend und verzweifelt zugleich. Nach dem Gespräch mit Jack gestern war sie mit gestrafften Schultern nach Hause gekommen, um ihrem Mann genau die Geschichte aufzutischen, die sie mit ihrem Liebhaber abgesprochen hatte. Doch William war nicht da. Anfänglich war sie noch froh darüber, hatte sie so doch die Möglichkeit, noch einen Drink zu nehmen, um ihre Nerven zu beruhigen. Doch nach dem dritten Drink wurde ihr allmählich schwindlig und das Warten wurde zur zermürbenden Probe. Immer wieder ging sie die Geschichte durch, damit ihr keine Fehler unterliefen. William war schließlich ein erfolgreicher, lebenserfahrener Geschäftsmann, der sich nicht so leicht an der Nase herumführen ließ. Stunde um Stunde verging, ohne dass er aufgetaucht war. Irgendwann war Sarah so zermürbt und erschöpft, dass sie sich auf die Wohnzimmercouch legte und einfach einschlief. Als am frühen Morgen das Sonnenlicht genau in ihr Gesicht schien, weil sie am Vorabend die Vorhänge nicht zugezogen hatte, wurde sie wach. Ihre Augen und ihr Kopf schmerzten. Mühsam setzte sie sich auf. In ihrem Mund spürte sie einen unangenehmen pelzigen Geschmack. Sie fühlte sich widerlich und entsetzlich. „William?“ rief sie mit rauher, belegter Stimme. „William, bist du da?“ Doch ihre Worte verhallten im Nichts. Quälend schwer erhob sie sich und stieg mit schwankenden Schritten die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Das Bett war unberührt, William war gar nicht nach Hause gekommen, stellte sie mit zusammengekniffenen Augen fest. Sie stolperte ins Bad und erschreckte sich vor ihrem eigenen Spiegelbild. Nachlässig entkleidete sie sich und kletterte in die mit goldenen Wasserhähnen verzierte große runde Badewanne. Sie ließ warmes Wasser einlaufen, legte den Kopf in den Nacken und nickte wieder ein. Durch das auf den Kachelboden plätschernde überlaufende Wasser kam sie wieder zu Sinnen. Erschrocken dreht! e sie de n Wasserhahn zu. Es war, als erwachte sie erst jetzt richtig. „William?“ rief sie erneut in die Leere des angrenzenden Schlafzimmers, als hätte sie nur geträumt, dass ihr Mann zuvor nicht da war. Doch wieder erhielt sie keine Antwort. Wie lange sie dort im Wasser lag, wusste sie nicht. Irgendwann mühte sie sich wieder aus der Wanne heraus, warf sich nachlässig einen Bademantel über und ging mit nassen Füssen hinüber zum ehelichen Bett. Ohne zu wissen, was sie eigentlich wollte, saß sie auf der Bettkante, als das Schrillen des Telefons sie aus ihrer Lethargie riss. Das Klingel kam ihr unnatürlich laut vor in der Stille des Hauses. Mit bleischwerer Hand ergriff sie den Hörer. „Ja“, hauchte sie in den Hörer.
„Misses Winthorp?“ vernahm Sarah eine ihr fremde Frauenstimme.
„Ja“, erwiderte sie knapp, wurde aber unwillkürlich wacher.
„Mein Name ist Jennifer“, sagte die aufgekratzt klingende Stimme. „Ich vertrete heute Sofia…“
Sarah zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Sofia? Welche Sofia?“ fragte sie.
Ein kleines Lachen war zu hören. „Die Sekretärin Ihres Mannes, Misses Winthorp“, klärte die Anruferin Sarah auf. „Die Arme ist leider erkrankt und deshalb springe ich für sie ein.“
„Ja, und?“ fragte Sarah entnervt und fuhr sich durch ihre zerzauste Frisur.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Misses Winthorp, aber Ihr Mann hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass er Sie gegen zwei Uhr nachmittags treffen möchte. Er hatte leider keine Zeit, Sie persönlich anzurufen. Sie wissen ja, wie beschäftigt er immer ist“, plapperte die Frau und raubte Sarah damit den letzten Nerv. Warum kam sie nicht endlich zur Sache?
„Und wo möchte mein Mann mich treffen?“ sagte sie in einem Ton, als spräche sie mit einem Kleinkind.
„Oh, ja…“, stotterte die Anruferin, „Moment, ich habe die Adresse aufgeschrieben“, murmelte sie und schien in irgendwelchen Papieren herumzuwühlen. „Ah, jetzt habe ich es“, rief sie lachend.
„Halleluja“, grummelte Sarah unhörbar für die Frau am anderen Ende der Leitung.
„In der Harringtonstreet Nummer 35. Er sagte, Sie wüssten schon welches Stockwerk“.
Sarah richtete sich erschrocken auf. Warum wollte William sie ausgerechnet dort treffen? Überlegte sie fieberhaft. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
„Misses Winthorp, sind Sie noch dran?“ fragte die Anruferin. Doch Sarah brachte kein Wort mehr hervor. Wie in Zeitlupe ließ sie einfach den Hörer zurück auf die Gabel gleiten. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sollte sie nur tun? Ging sie nicht hin, würde William sie fertig machen, weil er ihr Fortbleiben als Geständnis deuten würde. Aber was bezweckte er damit, sie ausgerechnet in ihrem Liebesnest zur Rede zu stellen. Womöglich hatte er Jack auch dorthin bestellt…
„Jack“, flüsterte sie. Sie musste vorher mit ihm reden. Ihr Geist war jetzt hellwach und ihr ganzer Körper stand unter Spannung. Sie riss förmlich den Hörer erneut von der Gabel und wählte Jacks Handynummer, um aber nur von einer automatischen Ansage zu hören, dass der Teilnehmer zur Zeit nicht zu erreichen sei. Sie drückte hektisch einen Finger auf die Gabel, um sofort seine Büronummer zu wählen. Doch weder Jack noch seine Sekretärin nahmen ab. In einem Anfall von Verzweiflung schmiss sie das ganze Telefon gegen die Schlafzimmerwand. „Verdammter Hurensohn!“ schrie sie. Ihrem Wutanfall fielen nach dem Telefon auch noch die Nachttischlampen sowie eine kostbare chinesische Vase zum Opfer, bis sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Sie atmete mehrmals tief durch. Sie musste in die Harringtonstreet fahren. Es blieb kein anderer Ausweg.

Kurz nach vierzehn Uhr hielt das Taxi vor dem Haus Nummer 35. Während sie aus dem Fond des Wagens stieg, blickte sich Sarah suchend um. Williams Jaguar stand schief geparkt direkt vor dem Eingang. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Vielleicht war Jack oder zumindest sein Auto auch irgendwo zu sehen. Doch weder das Eine noch das Andere konnte sie entdecken. Es beruhigte sie ein wenig. Ihr halbes Gesicht war von einer riesigen dunklen Sonnenbrille verdeckt. Außerdem trug sie einen Sommerhut mit extrem breiter Krempe. Sie wollte möglichst vermeiden, dass irgendjemand sie als die Frau erkannte, die in den letzten Wochen ziemlich häufig vor diesem Haus einem Taxi entstiegen war. Mit zaghaften Schritten ging sie die Treppen zur Wohnung hinauf, deren Tür kein Namensschild trug. Der Hausflur war hier oben sehr dämmrig. Obwohl Sarah den Schlüssel zur Wohnung unter der Fußmatte wähnte, hielt sie es für klüger, die Tür nicht damit aufzuschließen. Sie drückte mit zitterndem Finger auf die Klingel und wartete angespannt darauf, dass ihr geöffnet wurde. Doch in der Wohnung schien sich nichts zu regen. Als sie gerade erneut klingeln wollte, sah sie, dass die Tür nicht ganz geschlossen war. Sie warf einen prüfenden Blick hinter sich, bevor sie vorsichtig und langsam die Tür aufschob. „Hallo, ist da jemand?“ fragte sie leise in den dunklen Wohnungsflur. Geantwortet wurde ihr nicht. Nun stieß sie die Tür weiter auf und machte zwei Schritte hinein. „William?“ hauchte sie mit brüchiger Stimme. Die Nervosität ging ihr bis in die Haarspitzen. „William, bist du hier?“ wiederholte sie und wurde fast ärgerlich, dass er ihr offensichtlich Angst einjagen wollte. Die Wohnungstür hinter ihr schloss sich plötzlich quietschend. Sarah riss die Sonnenbrille vom Gesicht, konnte aber dennoch nichts erkennen. „William, bist du …“wollte sie eben fragen, als ein unbeschreiblicher Schmerz ihren Hals in zwei Teile zu zerreisen schien. Ihre Augen waren unnatürlich weit aufgerissen, in ihrem M! und schm eckte sie warmes Blut. Sie wollte noch etwas sagen, doch statt dessen kam nur ein würgendes Gurgeln aus ihrer Kehle. Kurz bevor sie tot zu Boden fiel, spürte sie einen zweiten unerträglichen Schmerz im Brustbereich. Das Messer war noch einmal bis zum Anschlag in sie gestoßen worden. Sarah sackte zuerst auf die Knie, dann mit dem Gesicht nach unten auf den Boden.
Nach dem zweiten Einstich wurde Sarahs lebloser Körper auf den Rücken gedreht und noch fünf weitere Male mit dem Messer traktiert. Doch da war ihr Lebenslicht bereits erloschen. Die Arme lagen weit ausgestreckt, die Beine sahen merkwürdig verdreht aus. Sie hatte nicht einmal mehr mitbekommen, dass sie der Leiche ihres Mannes genau gegenüber lag. Kurz darauf wurde die Wohnungstür lautlos geöffnet und wieder geschlossen. Diesmal hatte sie nicht gequietscht.





Die Polizisten Jerry Hope und Conrad Hayes kehrten mit dem in Handschellen gelegten Jack Delaney zurück aufs Revier. Sie baten einen Officer, Delaney für eine halbe Stunde in Gewahrsam zu nehmen, damit sie sich besprechen konnten. Aufseufzend ließen sich beide auf zwei gegenüberstehenden Stühlen nieder. „Was machen wir jetzt mit dem Kerl?“ fragte Conny seine Kollegin und strich sich über seine harten Bartstoppeln.
Jerry massierte sich leicht den Nacken und streckte die Beine aus. „Wir werden ihn gleich zusammen verhören“, antwortete sie und konnte sich ein kleines Gähnen nicht verkneifen. „Außerdem sollten wir uns sofort einen Durchsuchungsbefehl für seine Büroräume und das Haus besorgen“, fuhr sie fort und ließ nun ihre Finger einzeln knacken.
„Das übernehme ich“, erwiderte Conny und stand mühsam von seinem Stuhl auf. „Besorg du uns inzwischen zwei starke Kaffee und ein paar Donuts. Die Nacht war wirklich verdammt kurz“, schimpfte er vor sich hin, während er sich auf den Weg zu seinem Vorgesetzten machte, um die Beantragung des Durchsuchungsbefehls in Gang zu setzen.




„Lombard & Groming, Büro Mister Delaney. Guten Tag”, meldete sich Marianne, nachdem sie am späten Nachmittag ins Büro zurückgekehrt war. Trotz all der unglaublichen Geschehnisse in der Bank, über die Henry Groming sie nach ihrer Rückkehr informiert hatte, versuchte sie Haltung zu bewahren und den Geschäftsalltag weiter laufen zu lassen. Jack Delaney mag von der Polizei abgeführt worden sein, Lombard & Groming wird bestehen bleiben, dachte sie trotzig.
„Hallo Marianne, hier spricht Sybill Parker“, sagte die Anrufer, die der Sekretärin wohlbekannt war. Schon als Helen noch lebte, war Marianne ihr vorgestellt worden bei einem Kirchenbasar, den sie gemeinsam mit Helen und anderen ehrenamtlichen Helfern der Kirche organisiert hatte. Und nachdem Louise später von Dr. Parker psychologisch betreut wurde, hatten sie sich ohnehin häufig gesehen. „Kann ich Jack mal sprechen“, bat die Psychologin und klang ein wenig gehetzt.
Marianne hatte Sybill Parker nie sonderlich gemocht, doch nun musste sie sie wohl darüber aufklären, was in den letzten Stunden in der Bank los war. Marianne rieb sich mit Zeige- und Mittelfinger die Schläfe, bevor sie alles erzählte.
„Er wurde in Handschellen abgeführt?“ drang es fassungslos an Miss Simmons Ohr. „Das… das ist ja ungeheuerlich“. Die Ärztin schien völlig außer sich zu sein.
„Er soll ein Verhältnis mit Miss Harper gehabt haben“, setzte Marianne Simmons noch hinzu. „Aber als er es beenden wollte, hat Miss Harper wohl nicht mitgespielt und ihm gedroht, alles an die Öffentlichkeit zu bringen und somit auch an Louise“.
„Und das wäre dann das Ende von Jack Delaneys Karriere und seiner Ehe gewesen…“, endete Dr. Parker Mariannes Ausführungen.
„So sieht´s aus“, bestätigte die Sekretärin.
Sybill Parker war einen Moment lang sprachlos. All ihre Pläne für die Zukunft, ihre Hoffnung auf eine üppige Geldspritze seitens des Bankdirektors – alles schien wie eine Seifenblase geplatzt zu sein. Marianne nutzte diesen Moment der Stille.
„Wie geht es Louise, Dr. Parker?“ fragte sie mit sanfter Stimme. Sybill Parker antwortete nicht gleich, sie schien noch immer ihren Gedanken nachzuhängen.
„Nicht besonders, fürchte ich“, erwiderte sie dann jedoch aufseufzend. „Ihre Persönlichkeit hat schwer unter Jeremiahs Tod und der Fehlgeburt gelitten“, informierte sie Marianne, mit der sie offen darüber reden konnte, da die Sekretärin fast so etwas wie ein Familienmitglied der Lombards war und sich immer vorbildlich um Louise gekümmert hatte. Marianne bekam einen Kloß im Hals. Genau das hatte sie befürchtet und doch stets gehofft, Louise sei im Laufe der Jahre stärker und gefestigter geworden, um mit einem erneuten Schicksalsschlag fertig zu werden.
„Ist es so schlimm wie damals nach Helens Tod?“ hakte Marianne nach.
„Ich fürchte fast noch schlimmere“, bestätigte Dr. Parker. „Dass aber auch ausgerechnet sie dabei sein musste, als ihr Vater starb. Die Parallelen zu damals sind unverkennbar. Auch damals war sie die erste, die Helen fand und nun steht sie auf der Treppe in ihrem Elternhaus, als der Vater unten im Arbeitszimmer stirb… Es ist einfach alles wieder zusammen gebrochen“, erzählte Dr. Parker seufzend. „Naja, sie waren ja dabei…“, endete sie und dachte schon wieder an Delaney und was sie nun tun sollte, um ihr geliebtes Sanatorium und ihren Lebenstraum nicht zu verlieren.
„Dürfte ich Louise nicht endlich mal besuchen, Dr. Parker?“ fragte Marianne fast flehend. „Und wenn´s nur für eine halbe Stunde wäre…“
Sybill Parker überlegte einen Moment. Ihr Deal mit Jack Delaney war nun natürlich geplatzt. Er würde ihr kein Geld mehr geben können. Und wenn er jetzt von der Bildfläche verschwand, würde vorerst alles in Louise Hand liegen – beziehungsweise in ihrem starken Ich, das sich Kate nannte. Kate hasst mich, überlegte Sybill. Sie musste erst erreichen, dass Kate aus Louises Charakterstruktur verschwand, bevor sie ihr Kontakt mit vertrauten Menschen erlauben konnte. Ansonsten würde Kate garantiert überall verbreiten, was sie in Helens angeblichen Abschiedsbrief gelesen hatte und auch, was sie, Sybill, damit zu tun hatte. Ihre Reputation wäre dahin. Niemand würde auch nur einen Cent in sie investieren. Zwar war es ihr auch so nicht gelungen, einen anderen Investor als Lombard & Groming zu finden. Dennoch wollte sie sich nicht geschlagen geben. Es durfte nicht sein, dass ihr Lebenstraum in tausend Scherben zerbrach. Es konnte einfach nicht sein. „Tut mir leid, Marianne“, wiegelte sie in sachlichem Ton ab, „Louise ist einfach noch nicht gefestigt genug, um Besuch zu empfangen“.
„Ich verstehe“, sagte die verärgerte Sekretärin knapp und beendete das Gespräch.
Marianne legte den Hörer nicht einfach zurück auf die Gabel, sie knallte ihn auf. Diese überhebliche, intrigante Person will mich doch nur von Louise fernhalten! Wetterte sie innerlich. Wer weiß, was die in ihrem Irrenhaus mit Louise anstellt? Jetzt wo nicht mal mehr Delaney zu ihr kann, hat Louise keine Möglichkeit mehr, mit der Aussenwelt Kontakt aufzunehmen. Sie nahm den leeren Plastikbecher auf ihrem Schreibtisch in die linke Hand und zerquetschte ihn, bis er splitternd zerbarst.

Dr. Sybill Parker legte den Hörer ihres Telefons gar nicht erst auf, sondern tippte eilig eine Haus interne Nummer. „Frank?“ fragte sie nach ihrem Hilfspfleger, der jedoch für alle möglichen Aufgaben herhalten musste. „Sind die Medikamente schon an die Patienten verteilt worden?“
„Nein, die Schwester ist eben dabei, sie zu sortieren“, informierte sie der Hilfspfleger.
„Gut, ich muss einige Veränderungen in der Medikation von Louise Lombard-Delaney vornehmen. Bitte sagen Sie der Schwester, sie soll Louise vorerst nichts geben. Ich kümmere mich später selbst darum“, endete sie und legte endgültig den Hörer auf die Gabel. Nachdenklich blickte sie zum Fenster heraus. Weit entfernt konnte sie Louise im Park vor ihrer Staffelei sitzen sehen. Ihr Kopf bewegte sich hektisch hin und her. Sie wirkte unruhig und aufgewühlt. Die Psychologin wusste, dass Louise sich in einem aufgeregten Zwiegespräch mit sich selbst befand. Niemand würde erwarten, dass sie eine so gestörte Frau entließe. Louise brauchte ärztliche Hilfe, das war offensichtlich. „Ich muss mit ganz anderen, viel effektiveren Methoden bei ihr vorgehen“, sagte Dr. Parker mit entschlossener Miene und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe.



Henry saß in seinem Bürosessel mit dem Rücken zur Tür. Sein Körper wirkte schlaff und ausgelaugt. Seine Arme lagen reglos auf den Armlehnen, den Kopf hatte er müde in den Nacken gelegt. Er konnte kaum fassen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden alles geschehen war. Die Welt stand Kopf. Es war grausam und unbeschreiblich, was Jack seiner Exgeliebten Penny Harper angetan hatte – ihr und ihrem ungeborenen Kind! Wenige Stunden vor ihrem Tod hatte Penny ihm von der Schwangerschaft erzählt. Henry hatte anfänglich vor, mit ihr zu besprechen, wie sie gemeinsam Jacks ausserehelichen Affären an die Öffentlichkeit bringen konnten, um ihn aus der Firma zu jagen. Penny sollte dafür mit einer nicht unerheblichen Geldsumme, sowie einer leitenden Position in einer Bank in New York belohnt werden, dessen Hauptaktionär ein enger Freund Henrys war. In New York hätte sie auch problemlos ihr uneheliches Kind zur Welt bringen und aufziehen können. Penny war begeistert von dem Plan gewesen. Für sie war wichtig, aus Creek County fort zu kommen, um nicht gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden und finanziell abgesichert zu sein ebenso wie die Rache an dem Mann, der sie so eiskalt abgespeist hatte. Henry lieferte ihr beides auf einem Silbertablett. Seine guten Kontakte zur örtlichen Presse würden dann mit Penny Informationen und Fotos von Jack den Rest besorgen. Er, Henry, wäre völlig aus der Sache raus und hätte doch seinen Erzfeind Delaney auf elegante Weise ausgebootet. Dann war ihm William Winthorp dazwischen gefunkt. Verdammt, dachte er und schlug mit einer Hand auf die Armlehne. Die Geschichte mit Winthorp und seiner Frau war ungeahnt in seinen Plan geplatzt. Er raufte sich ärgerlich die Haare. Die Sache mit Winthorp wäre völlig überflüssig gewesen, wenn er gewusst hätte, dass Jack seine Exgeliebte Penny umbringen würde und sich somit sein eigenes Todesurteil beschert hatte.
Mühsam erhob er sich von seinem Sessel und ging hinüber zur Whiskyflasche, die auf einem Bord stand. Er schenkte sich ein großes Glas ohne Eis oder Wasser ein und kippte es in einem Zug herunter. Teuflische Dinge waren geschehen und doch konnte er sich ein kleines triumphierendes Lächeln nicht verkneifen.




Auf Lieutenant Jerry Hopes Schreibtisch herrschte ein Chaos. Eine große Packung Donuts lag leer neben zwei noch halb vollen Plastikbechern Kaffee. Sie hatte eben den Obduktionsbericht von Penny Harpers Leiche gelesen. Sie hatte gestern am Tatort richtig gezählt. Zehnmal war ein Messer mit einer Klingenlänge von zirka fünfzehn Zentimetern direkt von vorne mit leichter schräger Neigung nach rechts in Penny Harpers Körper gestoßen worden. Und die Messerstiche waren tatsächlich kreuzförmig angeordnet vom Oberkörper zum Unterleib und jeweils in die linke und rechte Brust. Aufgrund der Tiefe der Einstiche war der Pathologe der Meinung, die ersten beiden Messerstiche sind Penny Harper zugefügt worden, als sie noch aufrecht stand. Danach wurden die weiteren acht Einstiche der am Boden liegenden Frau zugefügt. Außerdem ging aus dem Bericht hervor, dass es sich bei dem Täter um einen Linkshänder gehandelt haben müsse.
Jerry griff auf ihrem Schreibtisch nach dem Bericht der Spurensicherung, während sie den Obduktionsbericht jedoch in der rechten Hand behielt.
„Ein gewaltsames Eindringen in die Wohnung kann ausgeschlossen werden“, las sie leise vor sich hin. Sie warf den Bericht der Spurensicherung zurück auf den Tisch und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Sie muss den Täter also hereingelassen haben“, überlegte sie laut. „Oder er ist mit einem Schlüssel allein hereingekommen…“, fügte sie hinzu und dachte an Jack Delaneys Zweitschlüssel. Noch immer nachdenklich, widmete sie sich wieder dem Obduktionsbericht in ihrer Hand zu. Und dann las die Polizistin etwas, dass ihr sekundenlang den Atem stocken ließ. Die Getötete war schwanger gewesen! Jerry Hope blickte von dem Bericht auf. Der letzte Donut, in den sie gerade gebissen hatte, blieb ihr im Hals stecken. Conny, der gerade einige Stichpunkte für das bevorstehende Verhör von Jack Delaney notierte, blickte seine Kollegin fragend an. „Was ist denn?“ hakte er sofort nach. „Ist dir was eingefallen?“
Jerry würgte das Stück Donut in ihrem Hals herunter und legte den Obduktionsbericht vor Conny. „Hier steht, dass Penny Harper schwanger war“, informierte sie ihn aus schmalen Lippen. Connys Augen weiteten sich unverzüglich.
„Das dürfte Delaneys Motiv um einiges erhärten“, sagte er verbissen. „Er wollte nicht nur seine lästige Exgeliebte loswerden, sondern auch das gemeinsame Kind, das sie unter dem Herzen trug!“ verkündete er und sprang von seinem Stuhl auf. „Ich lass den Dreckskerl jetzt holen“, sagte er seiner entschlossen dreinblickenden Kollegin.
„Moment, Conny“, hielt sie ihn kurz zurück. „Mit der Schwangerschaft konfrontieren wir ihn erst ganz zuletzt. Ich will sehen, wie er darauf reagiert. An seinem Gesicht werde ich sehen, ob er davon wusste oder nicht!“ Conny nickte bestätigend. Kurz darauf kehrte er mit einem Officer sowie Jack Delaney in Jerrys Büro zurück. Jack trug noch immer die Handschellen. Sein sonst stets akkurat nach hinten gegeltes Haar wirkte zerzaust, aus seinem Gesicht war jegliche Überheblichkeit wie weggewischt.
„Nehmen Sie ihm bitte die Handschellen ab, Officer“, bat Jerry und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie zog ihr T-Shirt unter dem Pistolenhalfter zurecht und nickte ihrem Kollegen Conrad Hayes unmerklich zu. Es war das Zeichen, das Verhör zu beginnen.
„Zu Ihrer Information“, eröffnete jedoch Jack Delaney das Wort, „ich habe meinen Anwalt angerufen, er wird gleich hier sein.“
„Haben Sie Angst, Mister Delaney?“ fragte Jerry ihn und hatte so die eigentlich mit Conny besprochene Taktik spontan geändert. Conny hielt sich zurück, denn durch die Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Jerry Hope hatte er gelernt, dass sie wesentlich schneller und effektvoller auf unvorbereitete Situationen reagieren konnte als jeder andere Polizist, den er kannte.
„Wovor sollte ich Angst haben?“ beantwortete Jack ihre Frage mit einer Gegenfrage.
„Davor, etwas zu sagen, was Sie noch mehr belasten könnte.“
Jack sagte nichts. Er hielt es für klüger, auf seinen Anwalt zu warten. Jerry lief katzenartig um ihn herum. „Wenn Sie nicht mit uns reden wollen, Mister Delaney, rede ich einfach und Sie hören zu“, durchbrach sie die sekundenlange Stille. „Sie hatten ein Verhältnis mit Penny Harper“, setzte sie an und blickte konzentriert auf den ungemütlich dasitzenden Verdächtigen. „Für Sie hatte die kleine Affäre natürlich keine Bedeutung. Sie sind mit einer reichen Bankerbin verheiratet, die Ihnen offenbar völlig freie Hand in allen geschäftlichen Dingen lässt. Penny Harper war ihr sexuelles Abenteuer Nummer…“, sie beugte sich ein wenig zu Jack hinab „…die wievielte Nummer, Mister Delaney?“ fragte sie. Jack starrte an ihr vorbei zum Fenster hinaus. „Sie haben mit ihr Schluss gemacht“, führte Jerry ihre Hypothese fort, „weil,…weil Penny Ihnen langweilig wurde oder Sie schon wieder etwas Neues laufen hatten“. Ihre Augen fixierten ihn genau und sie erkannte, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. „Gut, gehen wir mal davon aus, Sie hatten inzwischen eine neue Gespielin“, sagte sie und schritt weiterhin um ihn herum, was ihn sichtlich nervös zu machen schien. „Aber Penny ließ sich nicht einfach abspeisen. Sie wollte mehr – viel mehr?“ Die Polizistin hielt in ihrer Bewegung inne und betrachtete Jack fragend, doch dieser blieb stumm. „Vielleicht wollte sie sogar, dass Sie sich scheiden ließen, um sie zu heiraten“, überlegte sie laut, während sie Delaney ständig im Auge behielt. „Frauen haben ja häufig solche Wünsche oder Träume, weil sie…, vielleicht romantisch sind“, sagte sie mit einem Anflug von Lächeln, „…oder verliebt“. Ihre Stimme klang fast sanft. „Oder vielleicht schwanger!“ donnerte sie jetzt und schlug ihre Handflächen auf den Schreibtisch direkt vor Jack Delaney. Er zuckte vor der plötzlichen Bewegung zurück, wirkte aber Jerrys Ansich! t nach n icht erschrocken genug über die Tatsache, dass Penny Harper schwanger war.
„Penny Harper war schwanger?“ fragte Jack und spielte den Überraschten.
Ich wusste, dass er in diesem Moment den Mund aufmacht, dachte Jerry triumphierend und blickte vielsagend zu ihrem Kollegen Conny hinüber. Dieser deutete ihren Blick richtig und übernahm nun, während sich Jerry genau gegenüber von Jack setzte.
„Ja, Mister Delaney“, begann Conny und begab sich in Delaneys Blickfeld. „Penny Harper war schwanger. Und spätestens da war Ihnen klar, dass sie weg musste!“ warf er dem steif dasitzenden Mann vor. „Weg aus Ihrem Leben, weg aus Creek County – weg aus dieser Welt, stimmt´s?“
Jacks Gesichtsausdruck bekam einen Anflug seiner alten Arroganz. „Das ist lächerlich“, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Selbst wenn ich in einer solchen Situation gesteckt hätte – was nicht der Fall ist – hätte ich solche Dinge mit Geld geregelt! Ich bin Geschäftsmann, kein Mörder!“ verkündete er im Brustton der Überzeugung.
„Nur, was macht ein Geschäftsmann, wenn sich jemand nicht kaufen lässt“, mischte sich Jerry ein und beugte sich leicht über den Schreibtisch. „Jemand, der einem wirklich gefährlich werden kann, jemand, der einen ruinieren kann, und zwar richtig ruinieren“, fuhr sie fort, wobei ihre Stimme fast flüsternd war. „Angenommen es war so, wie wir glauben, Mister Delaney. Dann hätte die Geschichte mit Penny Harper Sie den Job, die Ehe und das gesellschaftliche Ansehen gekostet. Alles Dinge, die für Sie aus den unterschiedlichsten Gründen von existenzieller Wichtigkeit sind“, legte sie ihm ruhig dar. „Da kann ein Mann zum Mörder werden, glauben Sie mir.“ Sie erhob sich wieder von ihrem Stuhl und ging um den Tisch herum genau neben Jack Delaney. „In meiner beruflichen Karriere habe ich schon Menschen aus viel geringeren Gründen morden gesehen.“ Sie hatte ihr Gesicht hinab zu Jack fast bis an sein Ohr gebeugt. „Warum erzählen Sie uns nicht einfach, was passiert ist. Ich bin sicher, ein umfangreiches Geständnis wird sich positiv vor Gericht auswirken, Jack“. Ihre olivgrünen Augen fesselten Jack sekundenlang.
„Mein Mandant wird gar nichts sagen“, rief in diesem Moment eine Stimme von der Bürotür her.
„Peter, endlich!“ stöhnte Jack auf und wirkte sichtlich erleichtert, seinen Anwalt Peter Kramer zu sehen.
Jerry Hope machte sich unwillkürlich grade. „Ihr Mandant bleibt auf jeden Fall in Untersuchungshaft, Mister Kramer“, informierte sie den Anwalt unverzüglich mit entschlossener Miene.
Begleitet von einem Officer verließen Jack Delaney und sein Anwalt Jerry Büro. Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, klatschte Conny seine flache Hand auf die Schreibtischplatte.
„Er war´s“, rief er in einer Mischung aus Triumph und Verbitterung. „Hast du gesehen, wie er reagiert hat, als du die Schwangerschaft erwähnt hast?“ fragte er seine tief durchatmende Kollegin. „Brilliant, wie du ihm das vor den Latz gehauen hast“, setzte Conny hinzu und sah sie bewundernd an. Sie lächelte zaghaft. „Ja, ich hab´s gesehen. Er wusste davon, ganz klar“, bestätigte sie Connys Eindruck. „Und wir werden ihn festnageln. Lass ihn ruhig mit seinem Anwalt reden. Er bleibt in Untersuchungshaft und wir durchwühlen jetzt jeden Millimeter seiner Wohnungs-und Büroräume“, fuhr sie energiegeladen fort. „Haben wir schon den Durchsuchungsbefehl?“ fragte sie an Conny gewand.
„Keine Ahnung“, erwiderte er, „ich geh mal eben zum Chef rüber und frage“. Er verließ ihr Büro, während sie schon überlegte, wie das Verhör später fortzusetzen sei.






Louise saß auf dem Bett ihres Sanatoriumszimmers. Ihre Augen blickten leer zum Fenster hinaus. Ihr Gesicht war tränennass. Doch sie fühlte sich besser, als seit langer Zeit. Sie hatte in ihrem Gespräch mit Kate vielleicht zum ersten Mal richtig zugehört. Und sie hatte beschlossen, endlich erwachsen zu werden, wie Kate es von ihr verlangt hatte. Im Gegenzug hatte Kate versprochen, sie von nun an nicht mehr schlafen zu schicken, auch wenn schwierige Situationen bevorstanden. Louise wollte endlich wissen, was geschah, wenn Kate ihr Leben in die Hand nahm. Und sie fühlte sich zum ersten Mal stark genug, ihre Vergangenheit ertragen zu können. Bis sie aus dem Sanatorium entlassen waren, sollte Kate die Führung übernehmen, danach würden sie immer gemeinsam entscheiden. Vielleicht hatte Kate ja recht, was Jack betraf. Er hatte sich so wenig blicken lassen, seit sie hier war. Und auch zuvor hatte er sich nach der Hochzeit kaum um sie gekümmert. Immer war er in der Bank gewesen oder bei irgendwelchen Geschäftsterminen. Vielleicht stimmte es ja, dass er andere Frauen traf. Ihr Vater hatte schließlich dasselbe getan, während er mit ihrer Mutter verheiratet war. Das hatte in dem Abschiedsbrief der Mutter gestanden. Sie wollte nicht enden wie ihre geliebte Mutter.
Ein leises Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Gleich darauf trat Dr. Parker ein. Sie lugte durch einen Türspalt und lächelte Louise an. Louise lächelte leicht zurück. Sybill Parker erkannte sofort am Gesichtsausdruck ihrer Patientin, dass sie es im Moment mit Louise zu tun hatte.
„Wie geht es dir, Louise?“ fragte sie mit sanfter Stimme, während sie eintrat und die Tür hinter sich schloss.
„Es geht mir gut, Dr. Parker“, erwiderte sie wahrheitsgemäß. Die Psychologin setzte sich neben Louise aufs Bett.
„Ich habe dich vorhin im Garten gesehen. Hast du mit Kate gesprochen?“ fragte sie und legte zart ihre Hand auf Louises.
„Ja“, hauchte sie und senkte die Lider, „es war ein gutes Gespräch. Kate wird mich nicht mehr schlafen schicken.“
Dr. Parker lächelte zufrieden. „Das ist gut. Das heißt, dass du auf dem Weg der Besserung bist“. Die Ärztin stand auf und schritt zum Fenster hinüber. Draußen regnete es leicht. Der Himmel war grau verhangen. „Hat Kate dir erzählt, was passiert ist, als du geschlafen hast?“ fragte sie und versuchte möglichst unverbindlich zu klingen.
„Ja, sie hat mir alles erzählt“, erwiderte Louise. „Und ich hab´s verkraftet, Dr. Parker“, fuhr sie fort. „Ich fühle mich jetzt stark genug, alle Wahrheiten zu ertragen. Und ich habe Kate gesagt, dass das nur Ihr verdienst ist“. Sie blickte auf zu ihrer Psychologin, die sich neugierig umwandte.
„Was hat Kate dazu gesagt?“ hakte sie nach.
„Sie hat mir zugestimmt“, informierte sie die nicht wenig überraschte Psychologin. Louise lächelte verlegen. „Natürlich auf ihre grimmige Weise, aber immerhin“, setzte sie hinzu, was auch bei Dr. Parker ein Lächeln hervorrief. „Ich habe außerdem klargestellt, dass ich nie zulassen werde, dass Ihr Name oder Ihr Sanatorium in Verruf geraten“, sagte Louise mit trotziger Miene.
Sybill Parker konnte kaum glauben, was sie da hörte. Ganz neue Möglichkeiten taten sich ihr plötzlich auf. „Louise, hast du heute schon deine Medizin genommen?“ fragte sie und ging wieder zu der jungen Frau hinüber zum Bett, um sich neben sie zu setzen.
„Nein, noch nicht“, antwortete sie mit fragendem Blick, „ich wollte sie nach dem Abendessen einnehmen.“
„Gut“, machte Dr. Parker und setzte sich schräg, um Louise direkt in die Augen sehen zu können. „Ich denke, du bist schon stark genug, um einige Dinge zu erfahren, die sich am heutigen Tag ereignet haben“, fuhr sie fort und nahm Louises Hände in ihre. Erwartungsvoll blickte diese sie an. „Jack scheint einige Schwierigkeiten zu haben“, setzte sie an und beobachtete genau Louises Reaktion. Sie wirkte neugierig, aber nicht aufgeregt. „Er wurde heute vorläufig von der Polizei festgenommen“, gestand sie ihrer Patientin ein, die daraufhin ein wenig aufschreckte.
„Warum? Was hat er getan?“ fragte sie mit atemloser Stimme.
„Bleib ganz ruhig, Kind“, ermahnte die Psychologin sie. „Es ist noch absolut nichts bewiesen. Er steht im Verdacht, einer jungen Frau, die in eurer Bank arbeitet…etwas angetan zu haben“, versuchte sie zaghaft mit der Wahrheit rauszurücken.
„Was denn?“ fragte Louise verwirrt.
„Ich weiß es nicht genau, Louise“, erwiderte Dr. Parker. „Die junge Frau scheint verletzt worden und an diesen Verletzungen gestorben zu sein. Jack soll etwas damit zu tun haben. Aber wie gesagt, es ist noch alles unklar. Die Polizei muss wohl jeglichen Spuren nachgehen, vermute ich“, servierte sie ihr eine ziemlich harmlose Form der Geschehnisse.
Louise starrte die Ärztin an, während in ihrem Kopf tausend Fragen umherwirbelten. „Wer war die Frau und was hatte sie mit Jack zu tun?“ brachte sie schließlich mit belegter Stimme hervor.
„Sie hieß Penny Harper“, antwortete Dr. Parker. „Jack scheint näher mit ihr in Verbindung gestanden zu haben“.
Louise machte sich unwillkürlich steif. Penny Harper – so hieß die Frau, die gestern Morgen unvermutet bei ihr im Park auftauchte und ihr erzählt hatte, sie sei Jacks Geliebte und von ihm schwanger. Sie hatte ihr auch gesagt, was für ein schlechter Mensch Jack sei und dass er sie, Louise nur ausnutze und immer nur hinter der Bank hergewesen sei. Louise hatte ihr nicht glauben wollen, im Gegensatz zu Kate. Die hatte ihr anschließend wieder die Hölle heiß gemacht. „Du naives Dummerchen, hab ich es dir nicht immer gesagt?“ waren Kates Worte, nachdem die Frau durch irgend welche Hecken des Parks wieder verschwunden war. Diese Frau war also nun tot. Und Jack stand offensichtlich im Verdacht, sie getötet zu haben.
„Louise…Louise? Was ist los?“ rief Dr. Parker sie zurück in die Realität.
„Nichts“, erwiderte sie und versuchte, ihre Stimme möglichst fest klingen zu lassen. „Ich versuche nur gerade mir vorzustellen, was jetzt in der Bank los ist. Wie es Marianne und Henry geht“, log sie.
„Das weiß ich auch nicht“, gestand Dr. Parker ein und räusperte sich kurz. „Ich vermute, Henry Groming wird vorerst die Leitung übernommen haben, und Marianne wird ihn tatkräftig dabei unterstützen, schließlich kennt sie diese Bank in- und auswendig seit mehr als vierzig Jahren“, sagte sie und fasste Louise aufmunternd an der Schulter. „Wer weiß, Louise, wenn es dir wieder besser geht, kannst du ja vielleicht doch ein wenig ins Bankgeschäft hineinschnuppern“. Sie lächelte schräg. Louise liebte Kunst, Natur, Bücher. Sie hatte bisher in einer Welt gelebt, die der der großen Finanzwelt nicht unähnlicher sein konnte. Doch zu Dr. Parkers größter Überraschung zuckte sie gelassen mit der Schulter und sagte: „Ja, vielleicht gar keine schlechte Idee.“
Sybill Parker erhob sich mühsam vom Bett und ging zur Tür hinüber. „Versuch jetzt erst einmal mit all diesen Neuigkeiten fertig zu werden. Wir reden morgen noch einmal“, sagte sie und öffnete die Tür.
„Dr. Parker“, rief Louise ihr nach, die sich daraufhin ihr zuwandte. „Wie gesagt, ich werde nie zulassen, dass Ihnen oder dem Sanatorium Schaden zugefügt wird.“ Die Ärztin nickte ihr nachdenklich zu und verließ das Zimmer. Auf dem Gang hielt sie kurz inne. Louise schien tatsächlich stärker geworden zu sein. Sie hatte sich gegen Kate durchsetzen können und fand wieder zu einer geeinten Persönlichkeitsstruktur zurück. Etwas besseres konnte Sybill Parker gar nicht passieren. Louise hing an ihrer Psychologin, die sie seit vielen Jahren kannte und der sie vertraute. Wenn Jack Delaney tatsächlich des Mordes an Penny Harper überführt würde, hätte Louise das Sagen in der Bank. Henry Groming und Marianne Simmons waren ihr grenzenlos ergeben. Sie würden alles tun, was Louise wollte, sogar unterstützen und befürworten. Sollte Louise also darauf bestehen, ihrer Psychologin finanziell insofern zu helfen, dass das Sanatorium, in dem sie selbst geheilt wurde, weiterhin bestehen konnte, wäre doch noch ihr Lebenstraum gerettet. Noch dazu würde die Presse garantiert über Louises Heilung im Parker Sanatorium berichten. Der Knoten wäre geplatzt und sie, Sybill Parker, würde nicht mehr um jeden Patienten buhlen müssen. Im Gegenteil. Man würde sich darum reißen, bei ihr behandelt zu werden. Ihre Euphorie bei diesen Gedanken verursachte ein Kribbeln im ganzen Körper. Doch sie rief sich sofort wieder zur Ordnung. Sie wusste nicht, wie viel Kate ihr gesagt hatte. Wusste Louise von dem Abschiedsbrief ihrer Mutter? Wenn nicht, konnte diese Information Louises jetzige Einstellung noch völlig verändern.
Fast leichtfüßig ging sie zurück in ihr Büro und ließ sich von ihrem Hilfspfleger Frank eine schöne heiße Tasse Tee servieren.
Nachdem Dr. Parker das Zimmer verlassen hatte, wartete Louise noch einen Moment ab. Dann ließ sie sich zurückfallen auf ihr Bett. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Das Lächeln wurde zu einem Lachen, das immer lauter und lauter wurde. Herrlich, einfach herrlich ihr Gesichtsausdruck, dachte sie triumphierend. „Das hast du gut gemacht, Louise“, lobte sie sich selbst und klopfte sich scherzhaft auf die Schulter. Kate beschloss, sich eine Zigarette zu gönnen. Sie griff unter ihre Matratze, fischte eine halbleere Packung Zigaretten heraus und zündete sich genüsslich eine an, während sie sich auf die Fensterbank ihres Zimmers setzte. „Nicht mehr lange werde ich diesen öden Anblick ertragen müssen“, flüsterte sie selbstzufrieden und stieß kleine Rauchringe aus dem Mund.




Es dämmerte bereits, als Lieutenant Jerry Hope, ihr Kollege Conrad Hayes, sowie ein ganzer Tross von Polizisten Jack Delaneys Haus verließen. „Wir werden uns jetzt gleich das Büro vornehmen“, beschloss Jerry, nachdem sie in Delaneys Haus absolut nichts gefunden hatten, was ihn in Verbindung mit dem Mordopfer oder der Tat selbst brachte.
„Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn er in dem Haus, in dem bis vor zwei Monaten auch seine Frau wohnte irgendwelche Dinge gelagert hätte, die ihn mit Penny Harper in Verbindung brächten“, meinte Conny resigniert. „Da wir wissen, dass Louise Lombard-Delaney nichts mit der Bank am Hut hatte und vermutlich auch kaum mal dort aufkreuzte, ist es viel wahrscheinlicher, dass wir dort fündig werden“, versuchte er seine angeschlagen wirkende Kollegin aufzumuntern. Sie nickte zustimmend und setzte sich auf den Beifahrersitz des Dienstwagens, den Conny nun startete und in Richtung Stadt lenkte.
„Wir sollten seine Sekretärin anrufen“, meldete sich Jerry nach einer Weile wieder zu Wort. „Damit sie uns alle Räumlichkeiten aufschließen kann“. Sie blickte kurz auf ihre Uhr. „Ich nehme nicht an, dass um diese Uhrzeit noch jemand da ist.“
Conny wählte per Handy Marianne Simmons Privatnummer, die Jerry ihm aus ihrem Notizbuch vorlas.
„Sie wird in zehn Minuten vor der Bank auf uns warten“, informierte er seine Kollegin nach dem kurzen Gespräch mit Miss Simmons.
Durch den immer stärker werdenden Regen kamen die beiden Polizisten nur langsam voran. Die Zugangsstraßen zur Innenstadt waren verstopft, da die meisten Autofahrer ihre Geschwindigkeit durch die nassen Straßen gedrosselt hatten. Immer wieder blickte Jerry Hope verstohlen auf ihre Armbanduhr. Endlich kamen sie mit dreißigminütiger Verspätung vor der Bank an. Sie sahen die schlanke, ältere Sekretärin vor dem überdachten Eingang zur Bank stehen.
„Entschuldigen Sie die Verspätung“, entschuldigte sich Jerry, als sie endlich vor ihr standen. Marianne Simmons lächelte versöhnlich. „Sie müssen einen weiten Weg hinter sich haben“, sagte sie. „Ihr Revier liegt doch nur zwei Blocks weiter…“
„Wir kommen nicht vom Revier, Miss Simmons“, erwiderte Conny. „Wir haben eben eine Hausdurchsuchung bei Ihrem Chef Mister Delaney vorgenommen. Und jetzt sind die Büroräume dran“, informierte er die gespannt lauschende Frau.
„Ich hoffe doch, Sie haben nichts gefunden, was Mister Delaney belastet?“ fragte sie mit betont besorgter Stimme.
„Darüber dürfen wir Ihnen keine Auskunft geben“, sagte Jerry schnell, bevor Conny antworten konnte.
„Natürlich“, gab sich Miss Simmons verlegen.
„Sie können solange in Ihrem Büro Platz nehmen, Miss Simmons“, bat Jerry die Sekretärin. „Wenn wir etwas brauchen oder wissen müssen, rufen wir sie.“ Damit ließ sie die etwas zerstreut wirkende Frau stehen und machte sich mit Conny daran, Jack Delaney Büro auf den Kopf zu stellen. Und sie wurden so fündig, dass sie es kaum glauben mochten. In der untersten Schublade seines Schreibtisches fanden sie ein Messer, das durchaus die Tatwaffe sein konnte. Außerdem befanden sich darin drei Schlüssel zu drei verschiedenen Sicherheitsschlössern. Jerry zog einen Gummihandschuh aus ihrer Jackentasche und hob das Messer sowie die drei Schlüssel aus der Schublade. Sie blickte Conny vielsagend an.
„Damit nageln wir ihn fest“, rief Conny verbissen. „Ich wette einer der Schlüssel passt zu Penny Harpers Appartement!“
„Das wette ich auch“, erwiderte Jerry und sah nachdenklich auf die anderen beiden Schlüssel. „Miss Simmons“, rief sie hinüber ins Vorzimmer, „seien Sie so nett und kommen doch mal her“.
Marianne Simmons sprang geradezu von ihrem Stuhl auf und eilte zu den beiden Polizisten. Sofort fiel ihr das Messer ins Auge, das die Polizistin in der Hand hielt. Sie schlug sich unwillkürlich eine Hand vor den Mund. Jerry ließ das Messer in einer kleinen Plastiktüte verschwinden, die sie aus der anderen Tasche ihrer Jacke gezogen hatte und reichte diese ihrem Kollegen.
„Können Sie mir sagen, wohin diese Schlüssel gehören?“ fragte sie die Sekretärin und ignorierte deren erschrockenen Blick auf das Messer. Marianne ging näher heran und betrachtete die drei Schlüssel.
„Mister Delaney hatte immer einen Zweitschlüssel fürs Büro in der Schublade“, sagte sie mit in Falten gelegter Stirn. „Wohin die anderen beiden Schlüssel gehören, weiß ich nicht“.
Jerry ging auf die Bürotür zu und probierte die drei Schlüssel aus, bis sie wusste, welcher ins Büroschloss passte. „Okay, dieser hier ist der Büroschlüssel“, sagte sie schließlich und reichte ihn wiederum Conny. „Die anderen beiden müssen noch identifiziert werden“. Sie nickte Conny zu ihr zu folgen.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Miss Simmons“, wandte sie sich ein letztes Mal an die unschlüssig dastehende Sekretärin. „Wenn ich weitere Informationen von Ihnen brauche, melde ich mich.“ Damit verließ sie von Conny gefolgt das Büro und kurz darauf das Bankgebäude.
„Fahren wir zu Penny Harpers Wohnung?“ mutmaßte Conny.
„Exakt!“ erwiderte Jerry lächelnd.
Kurz darauf wussten sie, dass Jack Delaney einen Zweitschlüssel zu Penny Harpers Appartement besaß.
„Aller guten Dinge sind drei“, sagte Jerry auf dem Rückweg zum Revier. „Fragt sich nur wo Nummer drei hingehört.“ Nachdenklich blickte sie immer wieder auf den Schlüssel in ihrer Hand.
„Das werden wir sicher gleich von Mister Jack Delaney erfahren“, meinte Conny und parkte ziemlich unsanft direkt vorm Revier.
Die beiden Polizisten legten ihre Fundstücke vorerst verdeckt auf ein Sideboard in Jerrys Büro. Dann ließen sie Jack Delaney in einen speziellen Verhörraum bringen.
„Ich hoffe, Sie haben sich inzwischen ausführlich mit Ihrem Anwalt besprochen“, sagte Jerry an Delaney gewand und setzte sich leger vor ihn auf die Tischkante. Jack lächelte überheblich zurück, sagte jedoch nichts. „Mister Delaney“, setzte sie nun an, „Penny Harper, Ihre Exgeliebte, wurde gestern Abend zwischen sieben und neun Uhr getötet. Wo waren Sie zu dieser Zeit?“ fragte sie den Bankdirektor, der unwillkürlich in seinem Stuhl hochrutschte. Er überlegte nur einen kurzen Moment.
„Um diese Zeit war ich bei meiner Frau im Sanatorium“, erwiderte er selbstsicher.
„Die ganze Zeit über?“ hakte Jerry nach und spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen bildete.
„In etwa“, sagte Jack und schien zu überlegen. „Vielleicht auch nur bis halb neun, dann bin ich zurück Richtung Stadt gefahren. Der Weg dauert ungefähr eine gute halbe Stunde“, fuhr er immer sicherer fort. „Ich kann also unmöglich zwischen sieben und neun bei Miss Harper gewesen sein!“
„Sie sagten aber, Sie wären zu ihrem Appartement gefahren“, entgegnete Jerry, „jedoch hätte Penny Ihnen nicht geöffnet. Wann war das?“
Jack wandte den Blick Richtung Zimmerdecke und schien zu überlegen. „Das muss so gegen halb zehn gewesen sein“, erwiderte er ruhig und selbstsicher.
„Und Sie haben nichts verdächtiges gehört oder gesehen?“ hakte Jerry kritisch nach.
„Nichts!“ kam es knapp zurück.
„Sind Sie danach direkt nach Hause gefahren?“ fragte Jerry.
Jack rutschte etwas auf dem Stuhl herum und räusperte sich. „Nein, ich habe noch ein paar Drinks in der Stadt getrunken und dann beschlossen, die Nacht lieber in einem Hotel zu verbringen, als mit dem Auto den weiten Weg nach Hause zu fahren“, erklärte er mit trotziger Miene.
„Wo haben Sie die Drinks genommen und wie hieß das Hotel, in dem Sie übernachtet haben?“ bohrte Jerry Hope weiter.
Jack kratzte sich am Kopf. „An den Namen der Bar kann ich mich nicht mehr erinnern“, erwiderte er achselzuckend. „Das Hotel hieß Paradise Garden“.
„Waren Sie allein im Hotel?“ wollte Jerry wissen.
Erstaunt zog Jack die Augenbrauen in die Höhe. „Natürlich nicht“, antwortete er mit dem Anflug eines Lächelns, „das Hotel hat über hundert Zimmer…“
Klugscheißer! Dachte Jerry mit aufsteigender Wut. „Sie wissen schon was ich meine, Delaney“, fuhr sie ihn an. „Ich will wissen, ob Sie jemanden mit auf dem Zimmer hatten – eine Frau zum Beispiel.“
Jack schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte allein sein. Der Besuch bei meiner Frau hatte mich ziemlich mitgenommen. Ich wollte Ruhe haben“, spielte er den liebenden Ehemann, was Jerry ihm aber nicht mal Ansatzweise abnahm.
Conny betrat kaum merklich den Verhörraum. Er nickte Jerry zu und holte das Messer hervor, dass sie in Delaneys Büro gefunden hatten. Er legte es direkt vor Jack auf den Tisch.
„Kennen Sie dieses Messer?“ fragte Jerry und beobachtete Jacks Reaktion auf das Messer genau.
Sekundenlang betrachtete der Gefragte das Messer, um dann verneinend mit dem Kopf zu schütteln. „Das hab ich nie gesehen“, sagte er schließlich.
„Komisch“, mischte sich Conny ein, „das hübsche Ding haben wir in Ihrer Schreibtischschublade gefunden!“
Jacks Augen weiteten sich ungläubig. „Das kann nicht sein, es gehört mir nicht, ich habe dieses Messer noch nie gesehen!“ empörte er sich und wollte von seinem Stuhl aufspringen. Doch Jerry drückte ihn unsanft zurück.
Sie holte die drei Sicherheitsschlüssel hervor und postierte diese ebenfalls vor ihm auf dem Tisch. „Diese Schlüssel befanden sich in derselben Schublade“, erklärte sie Jack. „Wir wissen, dass ein Schlüssel zu Ihrem Büro gehört, der andere passt in die Tür von Penny Harpers Appartement“, fuhr sie fort und ließ diese Information kurz auf Jack einwirken. Seine Selbstsicherheit geriet ins Wanken. „Aber den dritten Schlüssel, den können wir noch nicht zuordnen. Vielleicht können Sie uns da weiterhelfen?“
Jack spürte wie ihm jegliches Blut aus dem Gesicht wich. Er hatte völlig vergessen Pennys Zweitschlüssel verschwinden zu lassen. Der andere Schlüssel war ihm jedoch wirklich ein Rätsel. Den Schlüssel für sein Zuhause hatte er bei sich, auch die Autoschlüssel. Fieberhaft überlegte er. Es gab nur noch einen Schlüssel, mit dem er überhaupt zu tun hatte. Der Schlüssel für die Wohnung in der Harringtonstreet. Seinem und Sarahs Liebesnest. Aber den hatten sie stets unter der Fußmatte der Wohnung versteckt, damit beide sich dort jederzeit treffen konnten. Es konnte nicht dieser Schlüssel sein.
„Ich…ich weiß es nicht“, gestand er ein. „Ich habe keine Ahnung, wie dieser Schlüssel in meine Schublade kommt!“
„Hört sich unheimlich glaubhaft an, Delaney“, musste Conny loswerden und betrachtete den Mann verächtlich.
Jerry rief den Officer, der vor dem Raum wartete. „Sie können ihn jetzt abführen“, ordnete sie an und wandte sich erneut an Jack. „Wir werden das Messer auf Spuren untersuchen lassen und Ihr Alibi natürlich überprüfen“, sagte sie und räumte die Schlüssel und das Messer wieder in kleine Tütchen. „Sollten sich keine Spuren finden und sich Ihr Alibi bestätigen, werden Sie vorerst aus der Untersuchungshaft entlassen“. Jack atmete merklich auf. Sein Alibi war absolut wasserdicht, Morgen würde er wieder ein freier Mann sein.
Während sich Jack gerade zur Tür hinausbegeben wollte, hielt Conny ihn jedoch kurz am Arm fest.
„Sind Sie eigentlich gläubig, Mister Delaney?“ fragte er ihn überraschend. Jerry sagte nichts, sie wartete ab.
„Was?“ meinte Jack verblüfft.
„Ob Sie gläubig sind?“ wiederholte er ohne weitere Erklärung seine Frage.
Jack blickte ihn noch immer verwirrt an, antwortete aber schließlich:“Ja, sicher bin ich gläubig. Was meinen Sie damit?“ fragte er verunsichert.
„Mich würde einfach nur interessieren, ob Sie ein gläubiger Mensch sind. Nicht einfach so oberflächlich an Gott glauben und alle paar Wochen sonntags zur Messe gehen. Nein, ich meine ob Sie sehr gläubig sind, kennen Sie sich mit der Bibel aus, gehen Sie regelmäßig in die Kirche, versuchen Sie, die zehn Gebote einzuhalten? Kennen Sie die zehn Gebote überhaupt?“ löcherte Conny ihn, wobei nur Jerry verstand, worauf er hinaus wollte. Er dachte an die Art und Weise, wie Penny Harper ermordet und wie sie aufgefunden wurde.
Jack wurde ein wenig entspannter. Er schaffte sogar ein kleines Grinsen. „Naja, jeden Sonntag renne ich nicht gerade zur Messe und die zehn Gebote…hm…es gelingt mir sicher nicht immer sie zu befolgen, aber wer kann das schon von sich behaupten?“ meinte er achselzuckend und wagte es, Conny ein Augenzwinkern zuzuwerfen, wofür dieser ihm am liebsten einen Kinnhaken verpasst hätte.
„Führen Sie Mister Delaney jetzt bitte ab, Officer“, mischte sich Jerry eilig ein, die den Gesichtsausdruck ihres Kollegen zu deuten wusste.
Nachdem die Tür hinter Delaney geschlossen wurde, ging Jerry Hope nachdenklich zu einem der Stühle. Sie fand Connys Fragen nicht besonders intelligent, denn sollte Delaney der Täter sein, würde er sicher nicht so dumm sein und den Betbruder herauskehren. Er hätte sofort begriffen, worauf ihr Kollege aus wollte. Aber dennoch hatten Connys Worte irgendetwas in ihr ausgelöst. Er hatte etwas gesagt, das ihr eine Gänsehaut im Nackenbereich verursachte, wie es häufig geschah, wenn sie auf eine Spur gekommen war. Sie setzte sich auf den Stuhl, rieb sich mit zwei Fingern die Schläfe und ging in Gedanken Wort für Wort durch. Was war es? Grübelte sie angestrengt.
„Was sagst du zu dem Schweinehund?“ regte sich Conny auf, wurde aber sofort durch eine heftig abwehrende Handbewegung seiner Kollegin gestoppt. Er begriff sogleich, dass sie einen Moment Ruhe brauchte und setzte sich schweigend ihr gegenüber.
„Die zehn Gebote“, murmelte sie unverständlich vor sich hin. „Was berührt mich daran?“ Ihre Schläfe begann immer heftiger zu pochen. Zehn Gebote…zehn. Es war die Zahl, die sie irritierte. Wann hatte sie diese Zahl schon mal gehört, seit sie an dem Harper Fall dran war? Und plötzlich, wie ein Sturm, der sämtliche Wolken davon fegte, sah sie es vor sich. Zehn Gebote – zehn Messerstiche! Penny Harper war mit zehn Messerstichen getötet worden. „Kennst du die zehn Gebote?“ fragte sie Conny, der überrascht aufblickte.
„Bin ich jetzt verdächtigt?“ witzelte er.
„Na, mach schon“, fuhr sie ihn ungeduldig an. „Kennst du sie?“
Conny schnaufte. „Ja, sicher, aber ich weiß nicht, ob ich sie in der richtigen Reihenfolge hinbekomme“, erwiderte er verunsichert.
Jerry dachte dankbar an ihre Tante Jo, die ihr die zehn Gebote des Alten Testaments schon während der Schulzeit eingebleut hatte. Jerry machte sich grade und blickte ihren Kollegen triumphierend an. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Weib oder jeglichen Besitz – so lautet das zehnte Gebot! In heutiger Zeit müsste man wohl nicht nur Weib sondern auch Mann hinzufügen“, erklärte sie ihrem erstaunt dreinblickenden Kollegen. „Zehn Messerstiche in Penny Harpers Körper“, fuhr sie eifrig fort, „die Strafe für den Bruch des zehnten Gebotes. Sie hatte ein Verhältnis mit dem Mann einer anderen. Sie erwartete ein Kind von ihm und wollte, dass er sich scheiden ließ, um sie zu heiraten. Sie wollte den Mann, das Haus, den Besitz einer anderen Frau… sie hat es begehrt, Conny“. Jerry lehnte sich erwartungsvoll in ihrem Stuhl zurück und sah Conny direkt in die Augen. „Und dafür musste sie sterben!“ endete sie.
Conny atmete tief durch. Seine Haltung fiel in sich zusammen. Er wiegte zweifelnd mit dem Kopf hin- und her. „Dann müsste aber Delaneys Frau den Mord begangen haben, nicht er“, folgerte er mit einer Logik, die Jerry nicht von der Hand weisen konnte. „Aber die sitzt seit über zwei Monaten in einem Sanatorium für psychisch Kranke, während Jack offensichtlich zur Tatzeit am Tatort war, außerdem ein starkes Motiv hatte, sie zu töten und noch dazu ein passendes Messer sowie den Zweitschlüssel zu Harpers Appartement in seiner Schreibtischschublade liegen hatte.“ Conny schüttelte den Kopf. „Die Indizien für eine Täterschaft Delaneys sind einfach zu erdrücken. Und übrigens“, fuhr er fort, Jerrys Theorie zu zerpflücken und versetzte ihr mit den nächsten Worten geradezu den Todesstoß, „Erinnerst du dich, was in dem Obduktionsbericht von Harpers Leiche stand über die Messerstiche?“fragte er. „Dort stand, dass die Stiche von einem Linkshänder ausgeführt worden sein müssen“, sagte er und funkelte Jerry an. „Und jetzt überleg mal, mit welcher Hand Delaney die Schlüssel zu sich herangezogen hat“. Erwartungsvoll beugte er sich leicht vor.
„Mit der Linken“, musste Jerry eingestehen.
Conny nickte bestätigend. „Und er hat sich mit der linken Hand an die Brust gefasst, als wir ihn in seinem Büro überraschten“, setzte er hinzu. „Aber wir müssen ohnehin raus zum Sanatorium, um sein Alibi zu checken. Dann können wir uns Louise Lombard-Delaney ja mal etwas näher ansehen“.
Jerry musste ihrem Kollegen Recht geben. Vielleicht wollte Delaney auch nur von sich als Täter ablenken, indem er die Polizei auf die Fährte eines religiös motivierten Mordes irreführen wollte. Denn dass er in diese Gruppierung nicht passte, musste selbst Jerry zugeben. Sie kannte kaum jemanden, der unchristlicher lebte. „Okay“, stimmte sie Conny schließlich zu. „Gleich morgen früh fahren wir zum Sanatorium raus und überprüfen seine Aussagen“.


„Guten Morgen, Doktor Parker“, stellte sich Jerry Hope gemeinsam mit ihrem Partner Conrad Hayes tags darauf bei der Psychologin und Leiterin des Sanatoriums vor, in dem Louise Lombard-Delaney zur Zeit in Behandlung befand. „Mordkommission Creek County.“ Beide Polizisten zeigten ihre Dienstausweise vor und setzten sich auf zwei bereitstehende Stühle vor Sybill Parkers Schreibtisch. Sie hatten sich kurz zuvor telefonisch angemeldet. Doch noch bevor Jerry Hope ihr Anliegen vorbringen konnte, war ein kurzes, leises Klopfen an der Tür zu hören und ein Mann mittleren Alters mit schütterem aschblondem Haar und einem runden, verschwitzten Gesicht lugte zur Tür herein.
„Was gibt´s denn, Frank?“ fragte Dr. Parker ein wenig unwillig.
„Soll ich Ihnen und Ihren Gästen vielleicht Kaffee bringen, Doc?“ fragte der Mann mit leiser freundlicher Stimme. Sybill Parker lächelte ihn nachsichtig an und blickte die beiden Polizisten fragend an, die jedoch beide abwinkten. „Danke, Frank, aber wir möchten zur Zeit nichts“, erwiderte sie, woraufhin sich die Tür ebenso leise schloss, wie sie sich zuvor geöffnet hatte.
„Er ist unser Hilfspfleger und Mädchen für alles“, sagte sie erklärend zu Jerry und Conny. „Eine Seele von Mensch“.
Jerry nickte kurz und wollte endlich auf den Grund ihres Besuches zurückkommen. „Dr. Parker, wir ermitteln in dem Mordfall Penny Harper“, fuhr Jerry fort.
„Ich habe davon gehört“, erwiderte Dr. Parker mit ernster Miene, „und auch, dass Sie den Bankdirektor von Lombard & Groming als Tatverdächtigen festgenommen haben“. Sie lächelte ein wenig schräg.
„In einem kleinen Ort wie Creek County verbreiten sich solche Neuigkeiten wie ein Lauffeuer, schneller als die Zeitung“, erklärte sie ihr Wissen um den Mord. „Das dürfte Ihnen nicht fremd sein“.
„In der Tat nicht“, bestätigte Jerry nickend. „Umso schneller können wir zur Sache kommen“, fuhr sie nun sachlich fort. „In einem gestrigen Verhör sagte Mister Delaney, er sei zur Tatzeit des Mordes hier im Sanatorium gewesen, um seine Frau zu besuchen.“
„Um welche Zeit geht es dabei?“ fragte Dr. Parker nach.
„Vorgestern Abend zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr“, erwiderte diesmal Conny. „Da ich annehme, dass sich Besucher bei Ihnen anmelden müssen, können Sie uns vielleicht schon seine Aussage bestätigen?“ fragte er und zückte einen Notizblock aus der Jacke. Er spürte, wie ihm schon jetzt am Morgen das T-Shirt am Körper klebte. Es war ein ungewöhnlich heißer Frühlingstag. Mit einem kurzen Seitenblick auf seine Kollegin dachte er, dass es ihr nicht anders ergehen konnte, denn auch sie trug trotz der Hitze ihre unvermeidliche Wildlederjacke.
Dr. Parker legte die Stirn in Falten, als müsse sie überlegen. „Für gewöhnlich besucht Mister Delaney seine Frau alle zwei Wochen“, setzte sie an und schob die Unterlippe leicht vor. „Allerdings kann ich mit nicht daran erinnern, ihn vorgestern hier gesehen zu haben“. Sie schien noch einmal nachzudenken. „Nein, ich habe ihn nicht gesehen“, blieb sie jedoch bei ihrer Aussage.
Jerry und Conny warfen sich kurz einen vielsagenden Blick zu. Ein Blick, der auch Sybill Parker nicht verborgen blieb.
„Wir hätten dennoch gern mit Misses Lombard-Delaney sprechen, falls Sie nichts dagegen haben“, sagte Jerry.
Dr. Parker wiegte den Kopf leicht hin und her. „Ich setzte meine Patienten zwar ungern einer solchen Stresssituation aus“, erwiderte sie mit besorgter Miene, „aber ich denke, in diesem Fall kann ich es zulassen. Misses Lombard ist in den letzten Tagen psychisch stärker geworden und wird Ihre Fragen sicher beantworten können“, stimmte sie schließlich zu und erhob sich schwerfällig von ihrem Schreibtischstuhl. Ihr weißer Kittel blieb an ihrem Rücken und dem Gesäß kleben. Jedenfalls bin ich nicht der einzige, der saumäßig schwitzt, ging es Conny kurz durch den Kopf.
„Sie nennen sie nur Lombard?“ hakte Jerry nach, was bei Dr. Parker ein Lächeln hervorrief.
„Wissen Sie, ich kenne Louise seit ihrer Kindheit, schon ihre Mutter war meine Patientin. Deshalb bleibt sie wohl für ewig Louise Lombard für mich“, erwiderte sie mit schuldbewusstem Gesichtsausdruck. Sie ging den Gang voran, gefolgt von den beiden Polizisten.
„Hatte Louises Mutter auch psychische Probleme?“ fragte Jerry im Gehen und lief nun neben der Psychologin.
Dr. Parker zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. „Nein, nur hin- und wieder leichte Depressionen. Helen Lombard war meine Patienten, als ich noch Allgemeinärztin war. Sie kam zu mir, wenn sie körperliche Beschwerden hatte“, klärte Sybill Parker die Polizistin auf, deren Neugierde ihr allmählich Unbehagen bereitete.
„Warum sprechen Sie von ihr in der Vergangenheitsform?“ fuhr Jerry unbekümmert fort. „Ist sie schon verstorben?“
Dr. Parker lief weiterhin neben der Polizistin, wobei ihr Atem leicht schnaufend wurde. Die Hitze und ihr Übergewicht waren eine schlechte Kombination. „Ja, leider“, bestätigte sie.
„Wann ist sie denn gestorben, und woran?“ fragte Jerry unerbittlich, weil sie irgend wie spürte, dass die Frau neben ihr am liebsten nicht darüber gesprochen hätte. Und gerade dann konnte Jerry besonders hartnäckig werden.
„Sie starb bereits vor über zehn Jahren“, antwortete Dr. Parker und hätte es am liebsten dabei bewenden lassen.
„Und woran?“ kam es unvermeidlich von Jerry Hope.
Sybill Parker hielt kurz inne um Luft zu holen. Sie blickte die Polizistin düster an. „Sie hat sich das Leben genommen“, sagte sie leise und wandte den Blick zur Tür, die sie jetzt erreicht hatten.
„Dann scheinen ihre Depressionen ja doch nicht so leicht gewesen zu sein“, kommentierte Jerry die eben gemachte Aussage der Sanatoriumsleitern über Helen Lombard´s Psyche.
Statt eine Antwort darauf zu geben, öffnete Dr. Parker die Tür zu Louises Lombards Zimmer. Die junge Frau saß am Fenster und summte eine Melodie vor sich hin. „Louise, hier sind zwei Polizisten, die dich kurz sprechen möchten“, rief sie der verträumt wirkenden Frau sanft zu. Wie in Zeitlupe wandte Louise ihren Blick von dem Park unter ihr hinüber zu den drei Menschen, die in ihrer Zimmertür standen. Sie ließ sich von der Fensterbank gleiten und schaute scheu zu den beiden Fremden.
„Es ist alles in Ordnung, Louise“, beruhigte Dr. Parker die offensichtlich verängstigte Louise. „Es wird nicht lange dauern“. Damit nickte sie den beiden Kriminalbeamten zu, in den Raum zu treten und auf den beiden Stühlen vor Louises Bett Platz zu nehmen.
Jerry und Conny traten zurückhaltend ein und lächelten die junge Frau Vertrauen heischend an.
„Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Misses Lombard-Delaney“, setzte Jerry an und hockte sich statt dessen neben Louise aufs Bett. Conny hingegen setzte sich auf einen der Stühle. „Wir haben nur ein zwei Fragen, dann sind wir wieder weg, in Ordnung?“ fragte sie und versuchte Louises Blick einzufangen.
Ein scheues Lächeln zierte nun die vollen Lippen der jungen Frau. Sie strich sich langsam eine ihrer wilden Locken aus dem Gesicht. Jerry blickte bewundern auf ihre Haarpracht. „Mein Gott, ich wünschte, ich hätte nur ansatzweise so schönes Haar wie Sie“, schmeichelte sie, meinte es aber ehrlich.
„Ich auch“, scherzte Conny, dessen Geheimratsecken seiner Eitelkeit so manches Mal zu schaffen machten.
Louise begann zu kichern. Das Eis schien gebrochen. Dr. Parker stand noch immer im Türrahmen.
„Ich denke, Sie können uns jetzt einen Moment allein lassen, Doktor“, sagte Jerry zu ihr mit fester Stimme. Irgend etwas missfiel ihr an der Psychologin. Sie wusste nicht, was es war, aber sie hielt es für besser, mit der jungen Frau neben sich allein zu sprechen.
Dr. Parker nickte leicht pikiert und schloss die Tür hinter sich, nachdem sie auf den Gang hinausgetreten war. Hinter der Tür in einer Ecke des Zimmer erblickte Jerry kurz eine bemalte Leinwand. Darauf befand sich ganz in schwarz gemalt ein Baum und ein Mensch, der an einem der Äste des Baumes aufgehängt war. Ein kleiner eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie räusperte sich und wandte sich wieder der jungen Frau zu.
„Misses Lombard-Delaney“, begann Jerry aufseufzend, wurde jedoch umgehend von der Befragten unterbrochen.
„Nennen Sie mich doch Louise“, hauchte sie mit der Stimme eines kleinen schüchternen Mädchens.
Jerry lächelte sie erneut an. „Also,…Louise“, fuhr sie fort, „wir sind hier, um Sie zu fragen, ob Ihr Mann, Jack Delaney, vorgestern Abend zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr hier bei Ihnen zu Besuch war“.
Louise Augenbrauen zogen sich erstaunt in die Höhe. „Jack? Nein, er war schon seit über zwei Wochen nicht hier“, sagte sie im Brustton der Überzeugung. „Er wollte kommen, dass hat mir Dr. Parker gesagt. Und ich hatte mich so gefreut und mir ein schönes Kleid angezogen. Aber dann bin ich auf meinem Bett eingeschlafen und erst wieder am nächsten Morgen erwacht. Jack war nicht gekommen, sonst hätte mich Dr. Parker sicher geweckt“, erklärte sie mit traurigem Blick. „Er hat nicht mal angerufen und gesagt, warum er nicht kommen konnte“, setzte sie leise hinzu und schlug die Augenlider nieder.
Jerry sah ihren Kollegen vielsagend an. Conny Gesichtsausdruck wurde hart.
„Ich danke Ihnen, Louise“, sagte Jerry sanft und erhob sich von dem Bett.
„Was ist denn eigentlich los mit Jack? Hat er etwas Böses getan?“ fragte sie und blickte von einem Polizisten zum anderen.
„Vermutlich ja, Louise“, antwortete Jerry ehrlich, „aber natürlich muss er erst vor ein Gericht gestellt werden und dort wird entschieden, ob Jack wirklich etwas Böses getan hat oder nicht“. Sie hatte die naive Sprachwahl ihres Gegenübers übernommen. Es kam ihr vor, als hätte sie ein unwissendes Kind vor sich, das keine Ahnung hatte, was dort draußen in der Welt vor sich ging.
„Gute Besserung, Louise“, sagte Jerry verabschiedend und machte Conny ein Zeichen zu gehen. Er stand von seinem Stuhl auf und öffnete bereits die Zimmertür, als Jerry sich noch einmal der jungen Frau zuwandte. Sie hatte auf ihrem Nachttisch eine Bibel gesehen. „Lesen Sie in der Bibel, Louise?“ fragte sie lächelnd.
Louises Blick fiel auf das Buch. „Manchmal“, erwiderte sie achselzuckend.
„Kennen Sie die zehn Gebote des Alten Testaments?“ hakte sie nach, was Conny dazu bewog die Augen zu verdrehen. Wie konnte seine Kollegin ernsthaft glauben, dieses zartgebaute verträumte Wesen könnte etwas mit dem bestialischen Mord an Penny Harper zu tun haben.
„Ja natürlich“, rief Louise aus. Sie klang wie ein Kind in der Schule, das die richtige Antwort wusste. „Die hat meine Mutter mir schon beigebracht, als ich ganz klein war!“
„Sie haben Ihre Mutter sehr geliebt, nicht wahr?“ fragte Jerry sanft, woraufhin Louise sofort Tränen in die Augen schossen.
„Über alles, ich vermisse sie schrecklich. Jeden Abend, wenn ich bete, rede ich mit ihr, aber es ist nicht dasselbe“, sagte sie mit tonloser Stimme und blickte leer zum Fenster hinaus in den wolkenlosen Himmel. Jerry und Conny wollten eben den Raum verlassen, da sie der Meinung waren, Louise sei bereits mit ihren Gedanken ganz woanders, als die junge Frau jedoch weiterredete. „Kate sagt, Papa hat sie in den Tod getrieben“, murmelte sie vor sich hin und blickte nun auf ihre ineinander verkrampften Finger. Jerry hielt Conny, der sich schon entfernen wollte, am Arm zurück. Sie wollte das Selbstgespräch unbedingt mit anhören. „Aber das glaube ich ihr nicht.“ Sie schüttelte heftig mit dem Kopf hin- und her, sodass ihr die Lockenmähne ins Gesicht fiel. „Ich bin nicht dumm“, sagte sie trotzig, als reagiere sie auf die Beleidigung einer anderen Person. „Ich glaube all deine Lügen nicht“, fuhr sie fort und machte sich unwillkürlich grade. Sekundenlang herrschte Stille. „Nein, Penny Harper hab ich von Anfang an nicht geglaubt“, fuhr sie fort. Jerry trat zurück ins Zimmer.
„Louise, Sie kennen Penny Harper?“ fragte Jerry und beugte sich zu der völlig verwirrt wirkenden jungen Frau herab.
Ruckartig hob diese den Kopf und sah Jerry an wie ein Gespenst. „Natürlich kenne ich Penny Harper“, erwiderte sie verständnislos. „Sie arbeitet für Jack und sie ist verliebt in ihn!“ Ihr Gesichtsausdruck wurde kindlich ernst.
„Bitte Lieutenant, Sie müssen jetzt gehen!“ kam die energische Stimme von Dr. Parker ihr dazwischen. „Sie überanstrengen meine Patientin. Sie ist verwirrt und weiß nicht mehr, was sie redet.“ Die Psychologin stellte ihren massigen Körper zwischen die Türrahmen und stemmte die Hände in die Hüften. Jerry wandte sich ihr zu. „Aber Louise sagte eben, sie kenne Penny Harper. Ich frage mich nur woher?“ meinte Jerry mit kritischem Blick auf die Ärztin.
„Louise ist verwirrt, sage ich Ihnen doch“, beharrte diese entschlossen. „Sie weiß im Moment nicht, was sie von mir gehört oder was sie selbst erlebt hat. Außerdem gibt es Patienten hier im Haus, die viel Kontakt mit ihren Verwandten draußen haben und von der Geschichte mit Mister Delaney gehört haben. Einige werden Louise gesteckt haben, was passiert ist“, wollte sie der Polizistin einreden. Jerry mochte jedoch nicht nachgeben. Sie drehte sich wieder zu Louise um, die aber bereits rücklings aufs Bett gefallen war und eingeschlafen zu sein schien. „Louise“, rief Jerry und wollte die junge Frau wieder wachrütteln. Doch das ging Sybill Parker eindeutig zu weit. Sie stellte sich zwischen die Kriminalbeamtin und ihre Patientin. „Ich habe die Verantwortung für Louise“, stellte sie mit harter Stimme klar. „Sie braucht jetzt Ruhe!“
Jerry Hope gab sich geschlagen. Offensichtlich war Louise ohnehin nicht mehr ansprechbar. „Also gut“, lenkte sie ein, „ich möchte aber noch einen Moment mit Ihnen in Ihrem Büro sprechen, Doktor“. Die Psychologin nickte bejahend. Jerry und Conny mussten ihr Tempo beim Laufen über den Gang zügeln, damit die schwerfällig Ärztin folgen konnte.

Mit geschlossenen Augen lag sie grinsend auf dem Bett. „Vaya con Dios, Jack“, flüsterte Kate und amüsierte sich über Sybill Parker, die eben ziemlich ins Schwitzen gekommen war.

In Dr. Parkers Büro angekommen, begann Jerry sofort auf sie einzudringen. „Was meinte Louise damit, dass ihr Vater ihre Mutter in den Tod getrieben hat?“ fragte sie.
Dr. Parker blickte sie überheblich an. „In welchem Fall ermitteln Sie hier eigentlich?“ fragte sie provozierend. „Ich dachte, es ginge um Penny Harper und Jack Delaney, nicht um Jeremiah Lombard und seine Frau Helen!“
„Überlassen Sie getrost mir, was ich für wichtig halte und was nicht“, entgegnete Jerry pampig. „Also, was meinte sie nun damit?“ fragte sie erneut.
Sybill Parker ließ sich plump auf ihren Stuhl fallen. „Es ist so lange her“, begann sie seufzend. „Helen Lombard hat damals Selbstmord begangen. Man munkelte überall, dass Jeremiah Affären hatte mit anderen Frauen“, erzählte sie unwillig. „Helen wurde damit nicht fertig. Sie war eine tiefgläubige Katholikin, der das Ehegelübde heilig war. Sie schien mehr unter der Untreue ihres Mannes gelitten zu haben, als wir alle – auch ich – vermuten konnten“.
Jerry Hope und ihr Kollege hatten fasziniert zugehört. „Und Louise? Wie wurde sie mit dem Tod der Mutter fertig?“ fragte Jerry und beugte sich leicht über den Schreibtisch. Doktor Parker sackte in sich zusammen.
„Gar nicht“, antwortete sie resigniert. „Sie hat damals ihre Mutter gefunden. Zufällig kam sie an jenem Tag früher von der Schule und war die erste, die Helen an dem Baum hängen sah. Sie brach völlig zusammen.“
„Wie ging´s dann weiter mit Louise?“
Die Psychologin griff nach einem Kugelschreiber, der vor ihr auf dem Tisch lag und rollte ihn zwischen zwei Fingern hin und her. „Louise erlitt einen schweren psychischen Schock. Der Anblick der toten Mutter war für sie so unerträglich, dass sich ihre Persönlichkeit teilte, um überhaupt weiterleben zu können“, erklärte sie den beiden verdutzt dreinblickenden Polizisten.
„Sie meinen, Louise wurde schizophren?“ mischte sich nun auch Conny ins Gespräch.
„Ja“, bestätigte Dr. Parker mit ernster Miene. „Kate entstand“.
„Kate?“ hakte Jerry nach.
„Kate ist Louises zweites Ich. Ihre starke Seite. Kate muss alle schwierigen Situationen für Louise meistern, weil Louise zu schwach, zu weich und zu emotional ist“, versuchte sie den beiden Beamten mit einfachen Worten zu erklären. „Kate ist misstrauisch, berechnend, gefühllos und hart, alles was Louise eben nicht ist!“ endete sie ihren erschütternden Bericht.
„Sie waren doch damals Helen Lombard´s Ärztin, nicht wahr?“ fragte Conny mit eindringlichem Blick auf Dr. Parker.
„Ja, wieso?“ fragte sie und nahm eine abwehrende Haltung an.
„Kurz darauf wandten Sie sich der Psychologie zu“, fuhr Conny fort, „meinen Sie nicht, Sie haben Ihren Beruf verfehlt, wenn Sie bei Helen Lombard nicht mal erkannt haben, wie schwer ihre Depressionen aufgrund der Untreue ihres Mannes war?“ warf er ihr mit harter Stimme vor.
Erstaunlich flink erhob sich die übergewichtige Frau aus ihrem Stuhl. „Das ist eine unverschämte Unterstellung“, fuhr sie den Polizisten an. „Sie kannten Helen Lombard nicht. Sie war keine Frau, die mit ihren Gefühlen hausieren ging. Sie zeigte niemandem, wie sehr sie innerlich litt. Nicht mal mir, als ihrer Ärztin!“ wehrte sie sich.
„Ich dachte immer, es sei der Job eines Psychologen, seelische Probleme bei einem Menschen zu erkennen, auch wenn dieser sie nicht überall herumposaunt!“ verteidigte Conny seinen Standpunkt.
„Es reicht jetzt, Conny“, versuchte Jerry die angespannte Situation zu beruhigen.
„Das finde ich auch!“ rief Dr. Parker. „Es reicht. Sie haben die Informationen, die Sie wollten. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, meine Patienten brauchen mich!“ setzte sie hinzu und nickte in Richtung Bürotür.
„Für den Moment haben wir alle Informationen“, entgegnete Conny mit nach oben gestrecktem Kinn, „aber falls wir weitere Fragen haben, kommen wir wieder, Doktor.“ Er hatte das Wort Doktor so betont, als zweifle er daran, dass sie diesen Titel überhaupt verdient habe.
Jerry zog ihren aufgebrachten Kollegen kurz am Arm und bat ihn mit eindringlichen Blicken, ihr nach draußen zu folgen.
„Was ist denn mit dir los?“ flaumte sie ihn auf dem Weg zum Auto an. „Warum regst du dich so auf?“
Conny machte eine abwinkende Handbewegung. „Ach, es geht mir einfach auf die Nerven, dass diese Seelenklempner sich immer so wichtig tun und dann rauskommt, dass sie noch nicht mal eine hochdepressive Frau als solche erkannt haben“, grummelte er.
„Hat dein Psychologe gerade Urlaub, oder was?“ flachste Jerry ihn mit einem schrägen Grinsen an. Conny lockerte sichtlich auf. „Meine Schwester hat als junges Mädchen mal versucht, sich das Leben zu nehmen“, gestand er ein. „Sie war zuvor von meinen Eltern mit Depressionen in psychiatrische Behandlung geschickt worden. Aber die taten so, als simmuliere meine Schwester nur – bis sie sich dann die Pulsadern aufschlitzte“, setzte er leiser hinzu.
Jerry hielt erschrocken inne. „Das tut mir leid, Conny. Davon hast du nie etwas erzählt…“
Er stupste seine Kollegin neckend an. „Das ist zwanzig Jahre her, Jerry. Inzwischen ist meine Schwester glücklich verheiratet und hat fünf Kinder“. Er grinste übers ganze Gesicht, wurde dann aber wieder ernster. „Seitdem habe ich aber ein gespaltenes Verhältnis zu diesen Psychofritzen. Ich fand´s auch ziemlich auffällig, wie sie uns dazwischen gefunkt hat, als wir mit Louise gesprochen haben. Als wollte sie nicht, dass sie uns noch mehr über ihre Vergangenheit erzählt“.
Jerry blickte nachdenklich vor sich hin. Conny hatte nicht Unrecht. Es machte wirklich den Eindruck, als wolle Dr. Parker Louise von allem fernhalten, besonders vor zuviel Fragen nach dem Tod ihrer Mutter und dem, was der Vater damit zu tun hatte. Andererseits konnte es natürlich auch so sein, dass Dr. Parker sich nach all den Jahren immer noch dafür schämte, Helen Lombards Seelenzustand damals nicht rechtzeitig erkannt zu haben. Aber schließlich war sie seinerzeit noch Allgemeinärztin. Vielleicht war ja Helen Lombards Tod sogar der Auslöser dafür, dass Dr. Parker Psychologin werden wollte.
Jerry setzte sich neben Conny ins Auto. Sie blickte durch das Seitenfenster hinüber zum Parker-Sanatorium. „Ich glaube, wir waren nicht das letzte Mal hier, Conny“, sagte sie nachdenklich.
Conny zuckte mit den Schultern. „Im Grunde ist die Sache doch jetzt klar“, entgegnete er. „Delaney ist zur Tatzeit nicht hier gewesen, wie er behauptet hatte. Das haben die Psychotante und Louise bestätigt. Damit ist sein Alibi geplatzt und wir können ins festnageln. Die Indizien sind hieb- und stichfest. Dann noch Misses Kentrall, die ihn an jenem Abend von Penny Harpers Appartement runter kommen gesehen hat – ich schätze der Junge wird mit der Todesstrafe rechnen müssen!“ Zufrieden lenkte Conny den Wagen zurück in die Stadt und zum Revier. Jerry blieb nachdenklich. Delaney ist ein gerissener, durchtriebener, hochintelligenter Bankier, überlegte sie und rieb sich wie gewöhnlich bei kniffligen Gedanken die Schläfe mit zwei Fingern. Kann er so dumm sein zu glauben, seine Frau sowie Doktor Parker würden für ihn lügen? Ausgerechnet eine psychisch gestörte Frau und eine Sanatoriumsleiterin, die erstens davon lebt, einen makellosen Ruf zu haben, der auf Glaubwürdigkeit und Kompetenz beruhen muss und zweitens in keinem Verhältnis zu Jack Delaney steht, ausser dem, dass sie seine Frau behandelt. Oder verbindet Sybill Parker und Jack Delaney doch irgend etwas, von dem sie nichts wussten?
Jerry beschloss, an der Sache dranzubleiben, auch wenn alles dafür sprach, dass Jack Delaney der Mörder von Penny Harper war. Jerrys natürliche Neugierde ließ nicht zu, dass sie lose Enden auf sich beruhen ließ, auch wenn ein Fall glasklar erschien.

Sybill Parker lief angespannt in ihrem Büro auf –und ab. Der Besuch der beiden Polizisten war brenzlig. Aber sie hatte geahnt, dass Kate und nicht Louise an jenem Abend mit Jack zusammen gewesen war. Somit konnte Louise Jacks Alibi nicht bestätigen. Dieser Lieutenant Hayes hatte Sybill am meisten geärgert mit seinen Vorwürfen bezüglich Helens Selbstmord. Aber schließlich konnte sie ihm den wahren Grund dafür nicht nennen, denn dann hätten die Polizisten vielleicht ihre Krankenakte einsehen wollen – und eben diese existierte nicht mehr. Sie war nur froh, dass die beiden Kriminalbeamten sich mit dem zufrieden gegeben hatten, was sie ihnen aufgetischt hatte.




Marianne blickte von ihrem Vorzimmer aus in das leere Büro ihres Chefs. Zum ersten Mal seit über vierzig Jahren erlebte sie eine solche Situation in der Bank. Und das kurz vor ihrer Rente! Henry Groming kam zu ihr hinüber und setzte sich vor ihren Schreibtisch auf den Stuhl. „Gibt´s schon was Neues von ihm?“ fragte er und wies mit dem Daumen Richtung Jacks Büro.
„Ich hab nichts gehört, seit die Polizisten das Büro auf den Kopf gestellt haben“, entgegnete sie und griff nach einem Stapel Post zu ihrer Linken.
„Weißt du, ob sie was mitgenommen haben?“ fuhr Henry fort und beugte sich zu der Sekretärin vor.
Marianne blickte sich kurz um, ob auch niemand in der Nähe lauschte. „Sie haben ein Messer bei ihm gefunden und drei Schlüssel haben sie auch noch mitgenommen“, verriet sie ihrem Gegenüber in verschwörerischem Ton. „Ich glaube, der Staatsanwalt wird bald Anklage erheben“.
Henry lehnte sich mit einem Anflug von Lächeln zurück. „Der Bank wird´s nur gut tun, wenn er weg ist. Tut mir zwar um Penny leid, aber um Jack nicht“, sagte er und fixierte die Sekretärin genau.
„Wenn wir ehrlich sind, Mister Groming, wird´s uns allen gut tun, wenn er weg ist“, stimmte sie ihm überzeugt zu. „Vor allem der armen Louise. Sie wird endlich erkennen, was für einen Mistkerl sie da geheiratet hat und wird dann endlich von ihm loskommen – psychisch meine ich. Wenn er sie wegen einer anderen verlassen hätte oder, sagen wir mal, einfach bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre, hätte sie ihr Leben lang ein falsches Bild von ihm gehabt und ihn geradezu verherrlicht. Sie war dem Dreckskerl doch hörig!“ereiferte sich Marianne mit aufsteigender Wut. „Und diese Penny Harper“, fuhr sie in Rage fort, „die ist doch selbst Schuld! Was lässt sie sich mit so einem Mann ein, auch noch einem verheirateten Mann und ihrem Chef. Was denkt sie denn, wie es solchen Frauen ergeht, die ihre Gier nicht zügeln können!“
Henry blickte die rot angelaufene Frau vor sich verblüfft an. „Marianne, Sie können ja richtig böse sein“, rief er lachend aus.
Das Augenlid der Sekretärin zuckte nervös. „Henry, die Bankgeschäfte müssen reibungslos weiterlaufen“, wechselte sie das Thema. „Ich werde bald in Rente gehen. Aber Sie, Sie bleiben hier und müssen jetzt endlich die Geschäftsleitung übernehmen“, drängte sie den Neffen ihres einstigen zweiten Chefs Samuel Groming. „Sie hätten von Anfang an nach Mister Lombards Tod die Leitung übernehmen sollen, finde ich. Wenn dieser Delaney sich nicht so schamlos unsere Louise geschnappt hätte, wäre es ja auch so gekommen“, fuhr sie fort. „Deshalb müssen Sie es jetzt tun, Mister Groming.“
Henry legte den Kopf ein wenig schräg und blickte die trotz ihres Alters noch immer erstaunlich schlanke und attraktive Frau an. „Sollte Jack tatsächlich mit Pennys Tod zu tun haben und gar vor Gericht kommen und verurteilt werden, werde ich ohnehin automatisch sein Nachfolger, Marianne“, klärte er sie über Dinge auf, die sie längst wusste. „Ich bin neben Louise der nächste Verwandte der Gründungsväter. Und somit laut einstiger Vereinbarung, befugt und verpflichtet die Leitung der Bank zu übernehmen.“ Sein Gesichtsausdruck wirkte entschlossen. „Und ich bin bereit, meine Pflicht zu erfüllen“, setzte er hinzu. „Da ich nicht annehme, dass Louise die Bankgeschäfte übernehmen möchte, selbst wenn sie ihre erneute Krise überwunden haben wird“.
Marianne schüttelte leicht mit dem Kopf. „Nein, Louise hat mit diesen Geschäften nichts am Hut“, bestätigte sie. „Sie ist so ein Feingeist, so kreativ. Sie wird mal eine große Malerin oder Kunstprofessorin werden, da bin ich mir sicher. Wenn sie erst die dunklen Dämonen los ist, die Jack Delaney in ihr Leben gebracht hat“. Marianne erhob sich und schenkte sich sowie dem zukünftigen Leiter von Lombards & Groming eine Tasse Kaffee ein. Gedankenverloren tranken beide das heiße, starke Getränk. Jeder von ihnen schien in seine eigenen Träume von einer Zukunft ohne Jack Delaney vertieft zu sein.



„Okay, was haben wir“, begann Jerry laut zu überlegen, während ihr Kollege Conrad Hayes hungrig in einen Donut biss. Jerry hatte ihre Füße auf die Schreibtischplatte gelegt und knabberte an einem Ende ihres Kugelschreibers. „Delaneys Alibi ist geplatzt, wir haben in seinen Büroräumen ein Messer gefunden, das die mögliche Tatwaffe sein könnte“, fuhr sie fort und blickte zu Conny hinüber. „Haben wir schon was von der Spurensicherung über das Messer?“ fragte sie ihn.
„Nischtsch“, murmelte er mit vollem Mund, „keine Fingerabdrücke, keine Blutreschte“. Er entfernte eilig einige Krümel und Puderzucker von seinem Jacket.
„Hm“, machte Jerry unwillig. „Na gut, außerdem haben wir noch einen Schlüssel, den wir immer noch nicht zuordnen können“, sagte sie und holte das Tütchen mit dem Schlüssel aus einem Karton hervor. „Vielleicht führt uns gerade dieser Schlüssel zu einem Schließfach oder einem Appartement, wo wir Spuren finden, die Delaneys Täterschaft absolut wasserdicht machen“, mutmaßte sie. Sie reichte das Tütchen zu ihrem Kollegen rüber. „Am besten du gehst damit noch mal in die Bank“, sagte sie. „Frag die Sekretärin oder diesen Henry Groming, ob ihnen nicht doch noch was zu dem Schlüssel einfällt. Ich werde mir inzwischen Delaney vorknöpfen, einverstanden?“
Conny erhob sich noch immer kauend und salutierte scherzhaft, während er mit der anderen Hand das Tütchen mit dem Schlüssel darin ergriff. Er wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab und steckte das Tütchen in die Innentasche seiner Jacke. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. „Wollen wir uns in einer Stunde wieder in deinem Büro treffen?“ fragte er, was Jerry nur nickend bestätigte. Mit ihren Gedanken war sie schon bei dem bevorstehenden Verhör Jack Delaneys.

„Meine Frau hat was gesagt?“ rief Jack fassungslos, nachdem Lieutenant Jerry Hope ihm mitgeteilt hatte, dass Louise seine Angaben nicht bestätigt hat. „Das ist unmöglich“, empörte er sich und raufte sich die pechschwarzen Haare. „Ich war bei ihr“, wiederholte er mit schriller Stimme, „wir haben auf der Terrasse gesessen. Ich hatte ihr vier Flaschen Perrier mitgenommen, Obst, ihre Lieblingspralinen und einen Umschlag mit Bargeld, alles Dinge, um die sie mich zuvor telefonisch gebeten hatte. Das gibt´s doch einfach gar nicht, dass sie das vergessen hat, egal wie psychisch angeschlagen sie im Moment sein mag!“ Verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht. Was für ein Wahnsinn, dachte er. Ein bombensicheres Alibi war in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Ruckartig hob er plötzlich den Kopf. „Haben Sie denn nicht mit Dr. Parker gesprochen?“ fragte er und schien neue Hoffnung zu schöpfen. „Doktor Sybill Parker, die Leiterin des Sanatoriums! Sie hat mich auf dem Gang gesehen, wir haben kurz geredet. Und ich hatte mich zuvor bei ihr angemeldet. Sie weiß, dass ich da war!“ Seine Augen blitzten siegessicher auf. Jerry hatte ihre Hände in die Taschen ihrer Jeans gestopft und schaute auf den sitzenden Delaney hinab. Sie wusste im Moment nicht, was sie von diesem Mann halten sollte.
„Natürlich haben wir mit Dr. Parker gesprochen“, sagte sie mit ernstem Blick. „Auch sie konnte Ihre Aussage nicht bestätigen“. Jerrys Worte ließen Jack Delaneys eben aufkeimende Hoffnung zerplatzen wie eine Seifenblase. Völlig entgeistert starrte dieser die Polizistin an. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Ein Alptraum, ich befinde mich in einem Alptraum! Dachte er fassungslos. „Das ist ein Komplott“, murmelte er vor sich hin und senkte seinen Blick auf die weiße Tischplatte vor sich. „Man will mich fertig machen.“ Wie in Trance nickte er vor sich hin. Jerry beobachtete ihn zweifelnd. Spielte er ihr etwas vor?
„Wer sollte Sie fertig machen wollen, Mister Delaney, und warum?“ fragte sie ihn mit skeptischer Miene.
„Ich…ich weiß es nicht“, plapperte er vor sich hin. „Vielleicht meine Frau oder Henry oder…“, er hielt erschrocken inne. Beinahe wäre ihm ein Name herausgerutscht, den er nicht gerade vor einer Polizistin nennen wollte.
„Oder wer?“
„Ich weiß nicht“, entgegnete er kopfschüttelnd, „als erfolgreicher Bankier hat man manchmal Feinde, von denen man nicht mal weiß…“
Jerry zog die Augenbrauen ungläubig in die Höhe. „Halten Sie mich eigentlich für geistig völlig derangiert, Mister Delaney?“ patzte sie ihn an und ließ ihre Hände laut auf die Tischplatte vor ihm knallen. „Es gibt keine dunklen Mächte, die Ihnen irgend etwas anhängen wollen und dafür sogar bereit sind, eine schwangere Frau zu töten!“ Ihre Stimme dröhnte durch den fast leeren Raum. „Sie haben Penny Harper getötet! Sie hatten ein Motiv, Sie hatten die Möglichkeit und Sie können nicht mal den Hauch eines Alibis liefern!“ warf sie ihm donnernd vor.
„Ich war bei meiner Frau“, brüllte Jack zurück mit dem Mut der Verzweiflung. „Sie lügt, wenn sie etwas anderes behauptet!“
„Wie können Sie überhaupt erwarten, dass Ihre Frau als glaubhafte Zeugin angenommen wird?“ fragte sie fassungslos über seine offensichtliche Naivität. „Erstens ist sie mit Ihnen verheiratet und gilt schon damit als wenig glaubwürdig, zweitens ist Ihre Frau geistig schwer gestört, und, Mister Delaney, ausschlaggebend in diesem Fall wäre ohnehin Dr. Parkers Aussage gewesen“, zerpflückte Jerry Stück für Stück seine Angaben. „Und genau die behauptet, Sie seien zur Tatzeit nicht im Sanatorium gewesen!“ Jerry starrte ihn herausfordernd an. „Warum gestehen Sie nicht einfach die Tat und wir können Feierabend machen?“
Jack sah zu ihr auf, als hätte sie ihm eine Ohrfeige ins Gesicht verpasst. „Was meinen Sie damit, meine Frau sei schwer geistig gestört?“ fragte er mit belegter Stimme. „Natürlich ist Louise ein psychisch labiler Mensch, der in Stresssituationen immer wieder Probleme hat, aber man kann sie deshalb doch nicht geistig schwer gestört nennen?“
Jerry blickte ihn an, als wolle er sich über sie lustig machen. „Wie würden Sie denn eine gespaltene Persönlichkeit nennen?“ fragte sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme.
„Gespaltene Persönlichkeit?“ hauchte er kaum hörbar. „Ich…ich hatte keine Ahnung davon. Dr. Parker hat mich nie richtig darüber aufgeklärt, was mit Louise los ist“.
„Wahrscheinlich hat es Sie auch nie wirklich interessiert, Jack“, blaffte Jerry ihn an. „Für Sie zählte es nur, die Bank in die Finger zu kriegen und Ihre Frau möglichst ins Sanatorium abzuschieben, um ungestört Ihren Liebesabenteuern frönen zu können. Und genau deshalb wollten Sie auch Penny Harper loswerden. Sie wurde durch die Schwangerschaft und ihre Forderungen gefährlich für Sie. Deshalb haben Sie sie abgestochen!“ schrie sie ihn an, woraufhin Jack erschrocken zurückwich. Er begriff allmählich, dass er wie eine Maus in der Falle saß. Er hatte ein Motiv und kein Alibi. Seine Frau war schizophren und würde vor Gericht damit ohnehin nicht als Zeugin akzeptiert und Sybill Parker sah endlich eine Möglichkeit sich an ihm zu rächen, weil er ihr bisher das Geld zur Weiterfinanzierung des Sanatoriums vorenthalten hatte. Schach und Matt! Dachte er und sackte in sich zusammen. Er beschloss in diesem Moment, nichts mehr zu sagen und alles nur noch seinen Anwalt erledigen zu lassen. Er hatte genug Geld, um die besten und teuersten Anwälte des Landes zu konsultieren. Und genau das würde er tun, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
„Mister Delaney, gestehen Sie, vorgestern Abend Penny Harper getötet zu haben?“ stellte Jerry ihm abschließend die grundlegende Frage.
Jack blieb stumm. Er starrte auf die Tischplatte und zeigte keinerlei Reaktion mehr. Jerry Hope verharrte einen Moment und fixierte Jacks Gesichtszüge. Nichts. Absolute Stille.
„Officer, führen Sie Mister Delaney zurück in seine Zelle“, ordnete sie dem vor der Tür wartenden Wachmann an. Als sie allein im Verhörzimmer zurückblieb reckte und streckte sie sich einen Moment und ließ das ganze Verhör noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Schon erstaunlich, dass er so genaue Angaben über den Besuch bei Louise abgab. Auf der Terrasse gesessen, Obst, Pralinen, Perrier, einen Umschlag mit Bargeld, alles Details, die er sich entweder vorher gut überlegt hatte oder die er wahrheitsgemäß nannte. Jerry schüttelte mit dem Kopf. Es passte einfach alles. Er musste es gewesen sein. „Ein Umschlag mit Bargeld“, murmelte sie nachdenklich vor sich hin. Das ließ sie irgendwie nicht los. Wozu brauchte Louise im Sanatorium einen Umschlag mit Bargeld? Jerry notierte sich diese Frage auf einen kleinen Block, den sie immer bei sich trug und beschloss, bei irgend einer Gelegenheit Dr. Parker danach zu fragen. Sie steckte ihren Notizblock wieder ein, griff nach ihrer Wildlederjacke, die sie zuvor über ihren Stuhl gehängt hatte und schlenderte nachdenklich zu ihrem Büro hinüber, wo Conny bereits ganz aufgeregt auf sie wartete.
„Ich hab mit diesem Henry Groming gesprochen“, begann er sofort zu erzählen. „Und ich hab ihm die Schlüssel gezeigt“, fuhr er mit funkelnden Augen fort. „Er brauchte eine Weile, bis ihm zu dem Schlüssel etwas einfiel. Er erzählte davon, dass Delaney wohl wieder eine neue Liebesgespielin hat, eine…“, mit nervösen Fingern fummelte er seine Notizen aus dem Jackett hervor, „Sarah Winthorp“, las er von einem zerknitterten Zettel ab.
„Winthorp?“ hakte Jerry sofort nach. „Hat die etwas mit dem Computermillionär William Winthorp zu tun?“
„Bingo“, rief Conny grinsend. „Sie ist die Ehefrau von William Winthorp dem Dritten, einem der größten und wichtigsten Kunden von Lombard & Groming.“
„Dieser Delaney schreckt aber auch vor nichts zurück“, kommentierte Jerry mit einem schrägen Lächeln.
„Delaney und Misses Winthorp scheinen sich ein gemütliches kleines Liebesnest eingerichtet zu haben, wo sie sich ungestört treffen konnten“, fuhr Conny fort. „Groming konnte mir sogar die Adresse sagen. Er meinte, er hätte sie kurz zuvor von Jacks Sekretärin erfahren, die über alle Geld Ein-und Ausgänge der Bank, die Delaney betrafen, Bescheid weiß. Sie hatte festgestellt, dass monatlich ein Mietscheck für ein Appartement in der Harringtonstreet Nummer 35 gezahlt wurde. Als Mieter war ein sogenannter John Smith angegeben“, Conny grinste, „ziemlich originell, was?“
Jerry verzog den Mund. „Und weiter?“ forderte sie ihren Kollegen auf.
„Jedenfalls meinte Groming, dass dieser Schlüssel doch vielleicht zu dem Appartement gehört“, endete er seinen Bericht. „Fahren wir gleich hin?“ fragte er mit Feuereifer. „Unterwegs kannst du mir dann von dem Verhör mit Delaney erzählen.“
Jerry Hope warf sich ihre Jacke über und eilte hinter Conny her zum bereitstehenden Dienstwagen.


Ein Namensschild mit John Smith darauf gab es nicht. Da aber nur an einer Klingel kein Name befindlich war, wussten die beiden Polizisten, wohin sie mussten. Vorsichtig stiegen sie die Treppen bis zur Dachgeschosswohnung hinauf. Dort oben funktionierte die Flurbeleuchtung nicht. Die beigefarbene Tür lag im Halbdunkel. Beide Beamten zogen sicherheitshalber ihre Pistolen aus dem Halfter. Jerry wollte eben ihr Ohr an die Tür legen, ob vom Inneren der Wohnung Geräusche zu hören waren, als sie bemerkte, dass die Tür nicht richtig verschlossen war. Zaghaft drückte sie die Tür nach innen. „Polizei Creek County“, rief sie in die dunkle Leere. „Ist hier jemand?“ Nachdem sie einige Sekunden gewartet hatten, wollten die Beamten die Tür ganz aufstoßen, doch sie ließ sich nur zur Hälfte öffnen. Irgendetwas hatte sie gestoppt. Conny gab seiner Kollegin Deckung, als diese in die Diele des Appartements eintrat. Alles war dunkel, Jerry konnte nicht sehen, was dort auf dem Boden lag. Sie tastete neben der Eingangstür nach einem Lichtschalter und wurde fündig. Eine sanfte Wandbeleuchtung erhellte den Flur und blendete Jerry für einen Moment. Als sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, stöhnte sie laut auf. „Oh, mein Gott“, entfuhr es ihr, als Conny schon ihren entsetzten Blicken folgte.
„Scheiße!“ rief er und machte sich sofort daran, die Wohnung mit vorgehaltener Pistole zu durchsuchen. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Vielleicht befand sich ja noch jemand in dem Appartement. Derweil kniete sich Jerry neben die beiden am Boden liegenden Leichen und durchsuchte sie nach Ausweispapieren. Obwohl sie schon jetzt ahnte, um wen es sich handelte – zumindest bei der männlichen Leiche. Sie hatte sein Konterfei vor einer Weile in einem Finanzmagazin gesehen. Und wer die Frau war, konnte sie sich dann auch schon fast denken. Conny kehrte zu seiner Kollegin in den Flur zurück. Seine Waffe hing schlaff in seiner rechten Hand. „Niemand mehr da“, informierte er Jerry knapp, die gerade die Handtasche der Frau durchwühlte. Endlich fand sie, was sie suchte. Ein kurzer Blick in die Ausweispapiere reichte. „Sarah Winthorp“, sagte sie und blickte auf zu ihrem Kollegen. „Und ihr Mann William Winthorp der Dritte“, setzte sie mit angespanntem Gesichtsausdruck hinzu. Sie betrachtete die weibliche Leiche genauer. Die Parallelen zu Penny Harpers Leiche waren unverkennbar. Auch Sarah Winthorp wurde offensichtlich mit einem großen Messer getötet, dessen Stiche ebenfalls den oberen bis unteren Torso in Form eines Kreuzes traktiert hatten. Jerry zählte in Gedanken die ersichtlichen Stiche. Es waren nicht wie bei Penny Harper zehn Stiche, Jerry konnte nur sieben erkennen. Das siebte Gebot? Überlegte sie.
„Der Hass des Mörders scheint auf jeden Fall mehr den Frauen zu gelten“, kommentierte Conny den Anblick der beiden Toten. Er hat nur einen einzigen Messerstich im Hals, direkt durch die Schlagader. Und sein Körper liegt so da, wie er sicher nach dem tödlichen Stich gefallen ist“.
„Vielleicht ist Winthorp nur zufällig Opfer geworden“, teilte Jerry ihre Gedanken laut mit. „Der Mörder könnte gerade mit Sarah Winthorp beschäftigt gewesen sein, als ihr Mann dazwischen funkte.“
„Vielleicht war er seiner Frau heimlich bis hierher gefolgt, weil er vermutete, dass sie einen Liebhaber hatte und die beiden sich eben hier trafen“, führte Conny ihre Überlegungen fort.
„Ruf bitte die ganze Truppe an“, bat Jerry ihren Kollegen und meinte damit Coroner und Spurensicherung. Conny nickte und ging in einen Nebenraum, um von seinem Handy aus im Revier anzurufen. Jerry nutzte die Zeit bis zum Eintreffen der Kollegen, um die Wohnung genau zu inspizieren. Sie suchte nach irgendwelchen Spuren von Jack Delaney und Sarah Winthorp. Sie fand sie im ungemachten Bett im Schlafzimmer. Zwischen den zerwühlten Laken erkannte sie ein schwarzes Negligé sowie eine Herren Boxershort. Das war genug Material, um gegebenenfalls zu beweisen, dass Jack am Tatort gewesen war. Die genaue Todeszeit des Ehepaares würde Jerry später vom Coroner erfahren. Alles ging wieder von vorne los wie bei Penny Harper. Seufzend verließ Jerry das Schlafzimmer und begegnete ihrem Kollegen im Flur neben den Leichen.
„Wenn die Spurensicherung durch ist, haben wir den letzten Nagel zu Delaneys Grab, da bin ich mir sicher“, verkündete Conrad Hayes mit verbissenem Gesichtsausdruck.


Etwa zwei Stunden später fanden sich Lieutenant Jerry Hope und ihr Kollege Conrad Hayes wieder auf dem Revier ein. Beide hatten ernste Mienen und sprachen nicht. Erst als sie kurz vor Jerrys Büro angekommen waren, herrschte Conny einen Officer an. „Schaffen Sie Jack Delaney sofort ins Verhörzimmer!“ Jerry blickte ihn fragend an. „Das Schwein mach ich jetzt fertig!“ verkündete er aus zusammengebissenen Zähnen.
Jerry fasste mit festem Griff nach seinem Arm. „Conny, mir ist genauso zumute wie dir, aber wir sind Profis, und als solche müssen wir auch agieren“, ermahnte sie ihren vor Wut kochenden Kollegen. Der Coroner hatte als Todeszeit der Winthorps völlig verschiedene Zeiten angegeben. William Winthorp wurde am gleichen Abend wie Penny Harper ermordet zwischen sechs und sieben Uhr, also vor Penny. Seine Frau wiederum wurde erst tags darauf zwischen zwei und drei Uhr nachmittags getötet. Das schloss aus, dass William seiner Frau gefolgt war und dem Mörder in die Quere kam. Es ließ eher vermuten, dass William in der Wohnung aufgelauert wurde und seine Frau dorthin bestellt wurde, um getötet zu werden. Denn ein Schäferstündchen mit Jack Delaney um diese Uhrzeit an einem normalen Wochentag wäre doch recht ungewöhnlich. Obwohl, überlegte Jerry, als wir ihn etwa um diese Zeit mit seinem Phantombild in seinem Büro konfrontieren wollten, war er erst nach ihnen gekommen. Was hatte die Sekretärin gesagt? Grübelte Jerry. Ja, sie hatte gesagt, er hätte etwas dringendes zu erledigen. War es der Mord an Sarah Winthorp, den er damit meinte? All diese Fakten hatten Conny zur Weißglut getrieben. „Was denkt dieser verdammte Hurensohn sich eigentlich“, hatte er nach Verlassen des Tatorts gebrüllt. „Rennt in der Gegend rum und bringt seine sämtlichen Gespielinnen auf bestialische Weise um und dann auch noch deren Ehemänner!“ Auch Jerry konnte es kaum erwarten, Delaney in die Mangel zu nehmen. Aber sie hatte genug Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Conny, um zu wissen, dass sie darauf Acht geben musste, ihren Kollegen nicht noch weiter anzustacheln. Conny lief in solchen Situationen manchmal Gefahr, handgreiflich gegen Verdächtige zu werden und das konnte dann im Zweifelsfall dazu führen, dass es hinterher vor Gericht oder in der Presse hieß, dem Angeklagten sei ein Geständnis herausgeprügelt worden. Wenn Jack Delaney der Mörder dieser drei Menschen war, wollte Jerry auf keinen Fall riskieren, ! dass ihn seine teuren Anwälten mit solchen Taschenspielertricks zu einer milderen Strafe verhalfen oder gar einem Freispruch.

Unsanft wurde Jack von einem bulligen Officer ins Verhörzimmer geschoben. „Was wollen Sie schon wieder von mir?“ fragte er mit sichtlich mitgenommener Miene. „Ich habe Ihnen doch gesagt, ich rede nicht mehr ohne meine Anwälte!“
Conny konnte nicht an sich halten. Donnernd ließ er seine Faust auf den Tisch knallen. „Kein Anwalt der Welt wird sie noch vor der Todesstrafe retten können, Sie Bastard“, brüllte er den völlig schockiert dreinblickenden Jack an.
„Was soll das?“ rief Jack mit Angst in der Stimme. „Ich habe Penny Harper nicht getötet und sie werden mir den Mord nicht anhängen können, nur weil ich ein Verhältnis mit ihr hatte!“ rutschte es ihm heraus.
„Na endlich geben Sie jedenfalls zu, eine Affäre mit Ihrer Angestellten gehabt zu haben“, machte Jerry ihn mit befriedigtem Gesicht auf seinen Faux pas aufmerksam. Jack zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen.
„Na und?“ rief er ihr trotzig entgegen. „Dann hatte ich eben was mit ihr, das macht mich noch lange nicht zu ihrem Mörder“.
„Und was ist mit Sarah Winthorp?“ fragte ihn Conny mit gefährlich leiser Stimme. Er hatte sich jetzt wieder einigermaßen in der Gewalt, was Jerry sichtlich beruhigte.
„Woher wissen Sie von…“, platzte Jack erschrocken raus und merkte sofort, dass er einen weiteren Fehler begangen hatte.
„Von Sarah und Ihnen?“ vollendete Jerry seine Frage.
„Wir wissen davon, weil wir gerade mit ihr Bekanntschaft gemacht haben!“ beantwortete Conny seine Frage. Seine Lippen waren schmal, seine Wangen blass geworden. Ein sicheres Zeichen für die brodelnde Wut in ihm, die er aber mit aller Macht im Zaum zu halten versuchte. Jacks Augen weiteten sich ungläubig. „Oder sagen wir besser – mit ihrer Leiche!“ wurde Conny wieder lauter und kam Jack so nahe, dass dieser seinen schnaufenden Atem spüren konnte. Jerry näherte sich Jack von der anderen Seite. „Mit ihrer und der ihres Mannes William. Im Tod vereint in Ihrem und Sarah Winthorps Liebesnest in der Harringtonstreet, Mister Smith“, setzte er eiskalt hinzu. Jack warf sich in seinem Stuhl zurück. Sein Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, aber die Stimme versagte ihm.
„Ihnen verschlägts die Sprache, Delaney? Sie hätten wohl nicht geglaubt, dass wir so schnell das Schloss zu Ihrem dritten Schlüssel finden,“ sagte Conny verbissen. „Beim Morden sind Sie nicht so zimperlich. Aber da müssen Sie Ihrem Gegner auch nicht direkt gegenüber stehen, stimmt´s?“ fuhr er mit fast flüsternder Stimme fort. „Ich wette, der erste Messerstich, den Sie Ihren Opfern verabreicht haben kam immer von hinten, aus dem Hinterhalt, sodass die Opfer nicht mal den Hauch einer Chance hatten, Ihnen zu entkommen, nicht wahr, Delaney?“ bedrängte er den wie gelähmt dasitzenden Jack. Jerry beobachtete die Szene und mischte sich bewusst nicht ein. Conny machte seine Sache sehr gut und er war jetzt genau auf dem richtigen Weg, Delaneys aalglatte Fassade zum Bröckeln zu bringen. Das sah sie an Jacks Haltung und seinem Gesichtsausdruck.
„Sie sind ein mieser kleiner Hurenbock, der nicht nur seine psychisch kranke Frau nach Strich und Faden betrügt, sondern der dann auch noch seine Sexgespielinnen eiskalt abschlachtet, wenn sie ihm lästig werden, wenn sie Forderungen stellen oder drohen, ihn zu denunzieren. Und anstatt sich William Winthorp wie ein Mann zu stellen, haben Sie auch ihm lieber die Kehle durchgeschnitten und ihn jämmerlich verbluten lassen. Denn Winthorp hatte von Ihrem Verhältnis mit seiner Frau erfahren, stimmt´s?“ drang Conny weiter in ihn ein, während Jerry starr auf den Verhörten blickte. „Er hätte Sie nicht nur gesellschaftlich sondern auch geschäftlich fertig gemacht. Winthorp hatte die Macht dazu und das Temperament“, setzte Conny hinzu. „Winthorp war im ganzen Bundesstaat bekannt für seine Härte in geschäftlichen Dingen und seine Abscheu gegen Illoyalität und Verrat. Man hätte Sie mit nichts weiter als Ihren Armani-Boxershorts über dem Hintern nach Omaha oder Utah gejagt, wo Sie dann für den Rest Ihres Lebens Erbsen oder eher Maiskörner hätten zählen können, anstatt das Geld anderer Leute!“ Jack saß völlig bewegungsunfähig da, wie eine Fliege, die in einem Spinnennetz gelandet war und nun seinem Peiniger ins Antlitz schauen musste.
„Wo waren Sie vorgestern Abend zwischen sechs und sieben Uhr, Mister Delaney?“ meldete sich nun Jerry zu Wort, da sie glaubte, Jack sei weichgekocht genug. „Und sagen Sie uns nicht wieder, Sie seien bei Ihrer Frau im Sanatorium gewesen“, fügte Jerry an, „das Märchen ist geplatzt!“
Jack war einer Ohnmacht Nahe. Er fasste sich mit der Hand an die schmerzhaft pochende Stirn. Es war alles zuviel. Er saß hier fest als Hauptverdächtiger und hatte nicht mal den Hauch einer Chance, aus dieser Sache heil heraus zu kommen.
„Raus mit der Sprache! Wo waren Sie, Delaney?“ dröhnte Conny. „Brauchen Sie so lange, um sich ein neues Märchen auszudenken, dass Sie uns dann wieder auftischen können?“
Jack blickte verzweifelt zwischen den beiden Polizisten hin- und her. „Ich…ich war auf dem Hinweg zum Sanatorium“, presste er mühsam hervor. Conny riss endgültig der Geduldsfaden. „Beim Morden waren Sie nicht so einfallslos“, brüllte er den in sich gesackten Delaney an. „Da haben Sie sich richtig kreativ gezeigt. Haben die Frauen kreuzförmig mit Ihrem Messer geradezu zerfleischt. Na kommen Sie, Delaney“, fuhr er unnachgiebig fort, „erzählen Sie uns, warum Sie die Frauen so massakriert haben. Brüsten Sie sich mit Ihrem Einfallsreichtum. Warum waren die Messerstiche kreuzförmig angeordnet, warum waren es bei der einen Frau zehn Stiche, bei der anderen sieben? Warum, Delaney?“ forderte er mit sich überschlagender Stimme eine Antwort von dem nach Luft schnappenden Mann vor sich.
„Wo waren Sie gestern Nachmittag zwischen zwei und drei Uhr?“ schoss Jerry die nächste Salve auf ihn ab. „Wir haben zu dieser Zeit bei Ihnen im Büro auf Sie gewartet. Sie waren nicht da. Wo waren Sie, Jack?“ wiederholte sie eindringlich.
In Jacks Kopf purzelte alles durcheinander. „Es… es ging mir nicht gut. Ich bin ziellos durch die Straßen der Stadt gelaufen. Ich brauchte frische Luft“.
Conny spie ein spöttisches Prusten aus. „Und natürlich kann das niemand bezeugen“, sagte er. Es war eine Feststellung, keine Frage.
„Kennen Sie das Zehnte Gebot, Jack?“ fragte Jerry und bedrängte ihn körperlich von der anderen Seite ebenso wie Conny. „Und das Siebte?“
Jack griff sich mit seinen Händen in die Haare. Er starrte die Polizistin irre an. „Was?“ kreischte er einer Hysterie nahe. „Welche Gebote? Was hat das alles zu bedeuten?“ Er wimmerte vor sich hin wie ein kleines Kind.
„Das wollen wir von Ihnen wissen. Raus damit, Delaney. Gestehen Sie die drei Morde und wir lassen Sie in Ruhe“, versuchte Conny ihn zu locken, denn er sah, dass der Mann fertig mit den Nerven war.
Statt eine Antwort zu geben, sackte Jack bewusstlos von seinem Stuhl. Sein Mund war leicht geöffnete und Speichel bahnte sich einen Weg aus seinem Mundwinkel hinab auf den Linoleumboden des Verhörraumes. Jerry ließ ihre flache Hand auf die Tischplatte sausen. Ein lauter Knall brach sich an den kalkweißen Wänden. „Verdammte Scheiße!“ fluchte sie. „Ruf den Officer, die sollen einen Arzt in seine Zelle bringen“, sagte sie zu ihrem Kollegen, der sich vor Wut auf die Unterlippe biss.

Nachdem Jack fortgeschafft war, wandte sich Conny seiner Kollegin zu. „Wir hatten ihn fast soweit, alles zu gestehen. Wir dürfen nicht lockerlassen!“
„Geständnis oder nicht“, erwiderte Jerry, die plötzlich eine unendliche Müdigkeit verspürte. „Wir haben ihn. Die Beweise sind erdrückend und unumstößlich. Für keine der Tatzeiten hat er ein Alibi. Der Staatsanwalt wird Anklage erheben, zweifellos. Und Jack Delaney wird vor Gericht gestellt. Sie werden ihn filetieren und dann die Todesstrafe aussprechen“, sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nicht mal in diesem Paradise Garden Hotel wusste man, wann er gekommen oder gegangen war. Ich hab vorhin angerufen.“ Ihre Stimme klang fast gelangweilt.Sie war zu erschöpft, um weiterzureden. Sie wollte endlich mal nach Hause und schlafen. Mit hängenden Schultern verließ sie den Verhörraum und ging hinüber zu ihrem Büro, um ihre Jacke zu holen.
„Jerry“, rief Conny ihr nach, „wie lautet eigentlich das Siebte Gebot?“
Müde wandte sie sich ein letztes Mal ihrem Kollegen zu. „Du sollst nicht ehebrechen!“ erwiderte sie und stieß einen Seufzer aus. „Vergiss meine Theorie, Conny“, winkte sie ab, „Jack Delaney wäre bestimmt der Letzte, der eine Frau tötet, weil sie Ehebruch begangen hat – zumal sie es mit ihm getan hat. Die Anzahl der Messerstiche spielte für ihn keine Rolle. Er hat wahllos drauflos gestochen.“
„Vielleicht war es gerade das, was Delaney die Polizei hat vermuten lassen wollen. Dass es sich um religiös motivierte Morde handelt und er als Täter solcher Morde nicht passen würde“, rief Conny zurück.
Jerry winkte ihm schlaff zu. „Vielleicht“, erwiderte sie. Es war ihr im Moment alles egal. „Gute Nacht, Conny. Ich muss ins Bett“.



Der Gerichtssaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Das Interesse an dieser Verhandlung war so groß, dass sich die Zuschauer schon Stunden vor Verhandlungsbeginn vor dem Gerichtsgebäude sammelten, um möglichst einen Platz zu ergattern in dem größten Mordprozess der Geschichte Creek Countys. Das Volk gegen Jack Delaney. Der smarte, gut aussehende Chef des Bankhauses Lombard & Groming wurde angeklagt, zwei seiner Geliebten, sowie den Ehemann der einen, den nicht minder berühmten William Winthorp der Dritte, auf bestialische Weise ermordet zu haben. Jacks Anwälte versuchten Optimismus zu verbreiten und Jack aufzubauen. Doch er selbst war seit Erhebung der Anklage wie innerlich erfroren. Für alle Tatzeiten hatte er kein bestätigtes Alibi. Er hatte Motive und galt allgemein als skrupellos und machtgierig. Seine Anwälte hatten versucht bei der Auswahl der Geschworenen möglichst Männer zu bekommen, die noch dazu in irgendeiner Weise beruflich erfolgreich waren, wenn es ging geschieden. Solche Männer konnten vielleicht am ehesten nachvollziehen, dass Jack Affären hatte und wie lästig Exgeliebte sein konnten. Es war aber nur zu einem kleinen Teil gelungen, ihre Wunschgeschworenen in die Jury zu bekommen.
„Der Staatsanwalt ist ein verbissener Spießbürger, streng katholisch bis aufs Knochenmark“, verriet Peter Kramer, ein hoch bezahlter Staranwalt, den Jack bisher nur bei geschäftlichen Problemen benötigt hatte. Er hatte vor Gericht immer für Jack gewonnen. Und er hatte ihn auch vorher schon immer wissen lassen, dass die gegnerische Partei nicht den Hauch einer Chance hätte. Peter Kramer war ein selbstsicherer, knallharter und gerissener Anwalt, der mit allen rechtlichen Tricks und Lücken vertraut war. Doch obwohl er auch diesmal versuchte, sicher und souverän zu wirken, spürte Jack, dass er innerlich mehr als besorgt schien, ob er auch diesmal Jack rausboxen konnte. Das hatte Jack fast den letzten Rest Hoffnung geraubt. Wenn ein Peter Kramer zweifelt, ob er einen Fall gewinnt, standen die Karten mehr als schlecht.
„Welchen Richter haben wir?“ fragte Jack ihn kurz vor Prozessbeginn mit fast resignierter Stimme.
Kramer holte einmal tief Luft, bevor er antwortete. „Bewford Brown“, erwiderte er und zog bedauernd die Augenbrauen in die Höhe. Jack schlug die Hände vors Gesicht.
„Ausgerechnet“, murmelte er. „Kann man daran nichts machen?“ fragte er, während er die Hände langsam vom Gesicht gleiten ließ.
Peter Kramer schüttelte verneinend den Kopf. „Bewford Brown ist absolut integer. Er ist im ganzen Bundesstaat dafür bekannt, dass Justicia bei ihm wirklich die Augen verbunden hat“, sagte er seufzend. „Er behandelt den mehrfachen Millionär mit derselben Objektivität wie den Bettler“, fuhr er achselzuckend fort. „Das macht ihn für uns zwar nicht zu einem Wunschkandidaten, aber wir können in diesem Fall absolut nichts dagegen tun.“
Jack streckte ihm verzweifelt das Antlitz entgegen. „Weißt du, wie viele Todesurteile er in den letzten Jahren gesprochen hat?“ krächzte er mit heiserer Stimme. „Ich kann sie nicht mal mehr zählen. Wenn´s um Mord ging, hat er nie ein anderes Urteil gesprochen!“ Hilfesuchend blickte er seinen Anwalt an.
„Ich weiß, Jack“, entgegnete dieser und hob beschwichtigend die Hände. „Aber er hat seine Urteile nie voreilig gesprochen. Er hat immer abgewägt und nur bei ganz klaren Fällen die Todesstrafe ausgesprochen. Zum Beispiel, wenn der Mörder direkt über der Leiche gebeugt ertappt wurde, oder ein Geständnis des Täters vorlag“, redete er auf den verzweifelten Mann vor sich ein. „Beides trifft bei dir nicht zu. Also lass uns bitte noch nicht die Flinte ins Korn werfen, Jack!“


Der Prozess dauerte zwei Wochen. Jack hatte sich äußerlich sichtlich verändert. Er war magerer geworden, wirkte älter und im Gesicht sah er geradezu eingefallen aus. Zeugen über Zeugen sagten aus, ohne Jack Delaney wirklich entlasten zu können. Auch Dr. Sybill Parker war als Zeugin der Anklage berufen worden. Sie wiederholte mit fester Stimme und glaubhafter Miene, ihn am Tag von Penny Harpers Tod nicht im Sanatorium gesehen zu haben.
„Jedenfalls scheint sich ihr Psychologie-Studium bezahlt gemacht zu haben. Sie spielt ihre Rolle gut“, raunte Peter Kramer seinem Klienten während ihrer Zeugenaussage zu, was Jack nicht eben erheiternd fand.
Louise wurde weder von der einen, noch von der anderen Seite als Zeugin benannt. Aufgrund ihrer Schizophrenie hätte jeweils die gegnerische Seite ihre Aussage in der Luft zerfetzt.
Lieutenant Jerry Hope besuchte nach ihrer Zeugenaussage die Verhandlungen an einigen Tagen, wenn es ihr dienstlich möglich war. Aus Jack Delaneys engstem Kreis hatte sie nie ein bekanntes Gesicht im Zuschauerraum entdecken können. Erst am Tag der Urteilsverkündung erblickte sie wie bestellt alle möglichen Menschen, denen sie im Laufe der Ermittlungen gegen Jack Delaney begegnet war. Da war Marianne Simmons, Delaneys Sekretärin, Henry Groming, sein Partner in der Bank, Sandra Taylor, eine Angestellte der Bank, die locker befreundet war mit Penny Harper – und zu ihrem größten Erstaunen sah sie in einer der vorderen Reihen Louise Lombard-Delaney in Begleitung ihrer Psychologin Sybill Parker sitzen. Die beiden schienen in ein kleines Streitgespräch miteinander verwickelt zu sein. Louise wirkte sehr entschlossen, als sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und stechenden Augen auf die Psychologin einredete. Viele Besucher der Gerichtsverhandlung tuschelten über Louises Anwesenheit. Vor dem Eingang zum Gerichtsgebäude waren die Journalisten auf Louise eingestürzt, wurden aber barsch von Sybill Parker abgewiesen.


„Ich hab dir gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, hierher zu kommen“, hatte Dr. Parker ihrer Patientin zugezischt, nachdem sie sich von der Journalistenmeute freimachen konnten.
„Ich muss aber dabei sein, wenn das Urteil gegen Jack gesprochen wird“, hatte Louise mit trotziger Stimme erwidert. „Das hab ich Ihnen doch gesagt, es ist wichtig für mich!“
Ja, das hatte sie in der Tat, dachte Dr. Parker seufzend. Seit Prozessbeginn lag Louise ihr in den Ohren, sie wollte unbedingt an dem Tag ins Gericht, an dem das Urteil gegen ihren Mann gesprochen wird.
„Aber warum, Louise?“ hatte Sybill Parker erwidert. „Soviel Aufregung ist nicht gut für dich. Du hast alles in der Zeitung verfolgen dürfen, wie ich es dir versprochen hatte“, hatte sie versucht, ihr die Idee auszureden. „Aber wenn du dort auftauchst, werden sich die Journalisten auf dich stürzen und vielleicht wirst du nicht ertragen können, wenn das Urteil gegen Jack ausfällt“.
Louise hatte beruhigend ihre Hand auf die der Ärztin gelegt. „Glauben Sie mir, Dr. Parker, es ist wichtig. Jack hat mich belogen und betrogen, das habe ich jetzt begriffen. Er hatte Verhältnisse mit anderen Frauen und hat mein Geld zum Fenster rausgeworfen, das hab ich alles in der Zeitung gelesen. Ich bin jetzt soweit, die Wahrheit ertragen zu können“, wollte sie der zweifelnden Psychologin klarmachen. „Ich muss die Wahrheit kennen und ich muss Jack in die Augen sehen können – vielleicht ist es die letzte Möglichkeit, die ich habe“. Ihre Stimme klang flehentlich. „Ich möchte endlich mit der Vergangenheit abschließen, Doktor“, fuhr sie sanft fort. „Aber das kann ich nur, wenn ich den Schlussstrich real miterlebe. Und dieser Schlussstrich wird dort in jenem Gerichtssaal gezogen. Danach fahre ich sofort mit Ihnen zurück ins Sanatorium, versprochen“. Ihre Augen sahen die Ärztin bittend an. Sie seufzte ergeben und nickte schließlich bestätigend.

Als Jack zwischen zwei Polizisten in Handschellen in den Verhandlungsraum geführt wurde, ging ein Raunen durch den Saal. Die Zuschauer steckten die Köpfe zusammen und tuschelten über den einstigen Erfolgsmenschen Jack Delaney. Jerry beobachtete auf den Gesichtern der Leute alle möglichen Emotionen, nur eine nicht – Mitleid. Jack Delaney war ein Mann, der von einigen bewundert, von anderen beneidet, wieder von anderen hofiert oder gemieden wurde, aber er war kein Mensch, der beliebt in der Gemeinde war, ganz im Gegensatz zu seiner Frau Louise. Jerry konnte sehen, wie vor allem ältere Frauen sie traurig oder aufmunternd anlächelten, ihr zunickten, ihr kurz den Arm drückten. Louise und ihre Familie, besonders ihre Mutter Helen, waren hochangesehene Mitglieder der Gesellschaft von Creek County gewesen. Besonders in den gemeinnützigen Vereinen, der Kirche und humanitären Vereinigungen war Helen Lombards Engagement bis heute unvergessen. Während Jack den Blick seiner Frau zu suchen schien, starrte Louise inzwischen reglos auf die Geschworenenbänke. Ob sie überlegt, wer wohl wie über das Schicksal ihres Mannes entschieden hat? Fragte sich Jerry einen kurzen Moment, als der Gerichtsdiener die Tür zum Richterzimmer öffnete.
„Erheben Sie sich!“ rief er unüberhörbar in den Saal, als die Menge umgehend von den Stühlen aufstand. „Es tritt ein der ehrenwerte Richter Bewford Brown!“
Alle Augen lagen auf dem etwa fünfundsechzigjährigen großen schlanken Mann mit der würdevollen Miene und der schwarzen Robe. Nachdem er sich auf seinen Richterstuhl gesetzt hatte, durften auch alle anderen wieder Platz nehmen.
Jacks Gesicht war aschfahl geworden, als sich der Richter an die Geschworenen wandte. „Haben Sie ein einstimmiges Urteil erziehlt?“ fragte Bewford Brown mit lauter klarer Stimme den Sprecher der Geschworenen.
„Das haben wir, Euer Ehren“, erwiderte dieser nicht minder laut und klar.
„Wie lautet Ihr Urteil?“ fragte Richter Brown erneut. Im Saal war es jetzt so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Alle Blicke hefteten sich auf die Lippen des Geschworenensprechers.
„Schuldig des vorsetzlichen Mordes an Penny Harper“, begann der Sprecher mit ernster Miene und entschlossener Stimme. „Schuldig des vorsetzlichen Mordes an Sarah Winthorp“, fuhr er unbarmherzig fort. „Schuldig des vorsetzlichen Mordes an William Winthorp dem Dritten“, endete er und blickte von seinen Notizen auf zu Richter Brown. Dieser nickte kurz und wandte sich dann an den Tisch der Verteidigung. Jack sah aus, als hätte ihn ein Herzschlag vorzeitig dahingerafft, sein erfolgsverwöhnter Anwalt Peter Kramer musste kurz schlucken, bevor er sich wieder in der Gewalt hatte. Jerrys Blick wandte sich an Louise Lombard-Delaney. Wie hatte sie die Geschworenenentscheidung aufgenommen? Doch noch immer war ihr Blick starr und reglos.
„Mister Delaney, Sie wurden in allen drei Anklagepunkten für schuldig befunden“, eröffnete Richter Bewford Brown seinen Urteilsspruch. „Ich verurteile Sie deshalb heute im Namen des Volkes zum Tode!“
Im Saal wurde es laut. Die Zuschauer gaben lauthals Kommentare ab, die durchweg den Urteilsspruch des Richters befürworteten. Jack hatte einen kurzes Aufstöhnen von sich gegeben, als sich sein Blick verzweifelt auf Louise richtete. Und dann beobachtete Jerry Hope etwas, dass ihr später keine Ruhe mehr lassen sollte. Hatte sie mit einer erschütterten, verwirrten Louise gerechnet, so sah sie sich getäuscht. Endlich wandte diese ihren Blick auch auf ihren Ehemann. Jerry konnte genau sehen, wie sich die Blicke des Ehepaare begegneten, als Louises Mund eindeutig ein „bye, bye“, formten, begleitet von einem kaum wahrnehmbaren kleinen Lächeln. Jerry sah ungläubig auf die junge Frau. Jerry hätte nachvollziehen können, wenn Louise nicht in Tränen ausbrach und am Boden zerstört wäre, schließlich hatte sie seit Tagen darüber lesen und hören können, wie viele Verhältnisse ihr Mann gehabt hatte, wie viele krumme Geschäfte er gedreht hatte hinter der Fassade des seriösen Bankiers. Aber dennoch fand sie dieses eiskalte bye, bye ziemlich mysteriös. Jack hatte erkannt, welche Botschaft ihm seine Frau zum Abschied und als Reaktion auf sein Todesurteil geschickt hatte und er starrte sie fassungslos so lange an, bis sein Anwalt ihn fast gewaltsam von ihrem Anblick löste. Peter Kramer redete endlos auf seinen Klienten ein, der aber kein Wort davon wahrzunehmen schien. In seinem Kopf schienen tausend Gedanken umherzuwirbeln, bis er sie halbwegs ordnen konnte. Plötzlich machte er sich von seinem Anwalt frei und erhob sich wie in Zeitlupe. Er hob den linken Arm und wies mit dem Zeigefinger auf seine Frau. Mehrere der Zuschauer nahmen seine Bewegung wahr und starrten überrascht zu ihm hinüber, während Bewford Brown durch ständiges lautes Klopfen mit dem Holzhammer versuchte, wieder Ruhe in den Saal zu bekommen.
„Sie war´s!“ schrie Jack Delaney plötzlich und alle Blicke wandten sich auf Louise. „Ich habe niemanden getötet, sie war´s, meine Frau Louise“. Entsetzte Schreie erfüllten den Saal, Beleidigungen prasselten auf Jack nieder, der, um seine eigene Haut zu retten nicht mal davor zurückschreckte, seine arme, kranke Frau zu beschuldigen. Louise starrte Jack völlig regungslos an. Sie stand nicht auf, wies seine Anschuldigungen nicht empört ab, nein , sie saß einfach nur da und schien Jack zu beobachten. Dieser wurde völlig hysterisch. Immer wieder schrie er: „Sie war´s, sie war´s!“ Seine Kräfte schienen ihn zu verlassen, denn er sackte ein wenig zusammen. Die beiden Polizisten griffen reaktionsschnell nach ihm. Jeder packte einen Arm Delaneys und sie führten den kreischenden Mann hinaus aus dem Gerichtssaal. Richter Brown hatte inzwischen jede Würde abgelegt, sich erhoben und donnerte unnachgiebig mit dem Hammer auf den Richtertisch. „Ruhe, verdammt noch mal!“ brüllte er mit seiner tiefen, eindringlichen Stimme. „Die Sitzung ist geschlossen!“ verkündete er schließlich und ließ den Saal räumen. Jerry versuchte, zu Louise und Dr. Parker durchzudringen, doch die aufgebrachten Menschenmassen verhinderten es. Am Arm ihrer Psychologin verließ die scheinbar immer noch völlig unberührte Louise den Gerichtssaal und wurde anschließend eilig von Sybill Parker in deren Auto verfrachtet, um ins Sanatorium zurückzukehren.



Fast während der ganzen Fahrt sprachen die beiden Frauen kein Wort miteinander. Louise wirkte völlig abwesend. Als seien ihre Gedanken überall nur nicht hier im Auto. Dr. Parker blickte sie mehrfach kritisch von der Seite her an. Kurz vor der Einfahrt zum Sanatorium konnte Sybill Parker nicht mehr an sich halten. „Ich habe dir gesagt, dass es ein Fehler ist, dorthin zu gehen“, sagte sie zu ihrer ernst dreinblickenden Patientin. „Du bist noch nicht so weit, mit all diesen Scheußlichkeiten fertig zu werden“, fuhr sie fort und wartete auf ein Widerwort seitens Louise.
Diese drehte ihr plötzlich das Gesicht zu, und es lag ein Zug auf ihrem Antlitz, den Dr. Parker nur zu gut kannte. Sie hatte Kate neben sich sitzen.
„Diese Urteilsverkündung war das schönste Erlebnis, dass ich seit Jahren hatte“, sagte sie seelenruhig mit eiskalter Stimme. Sie wirkte so beherrscht, dass es die Psychologin fast ängstigte.
„Du hast also nicht zugelassen, dass Louise das alles miterleben muss“, erwiderte Dr. Parker mit fragender Miene.
Fast verächtlich blickte die junge Frau sie an. „Wofür haben Sie eigentlich Ihr Diplom in Psychologie bekommen, Doktor?“ fragte sie kopfschüttelnd. „Sie haben´s immer noch nicht begriffen, stimmt´s?“
Verunsichert sah Sybill Parker sie an. „Was meinst du? Was habe ich nicht begriffen?“
„Ich bin Louise!“ verkündete sie. „Kate gibt es nicht mehr als eigenständigen Charakter, der von Louise getrennt agiert“, fuhr sie triumphierend fort. „Kate ist Louise geworden und umgekehrt. Louise hat alles mir überlassen, weil sie weiß, dass nur ich eine Chance habe zu überleben und der Welt und dem Leben die Stirn zu bieten“, erklärte sie der erschrockenen Ärztin. „Ich bin Louise!“ wiederholte sie, als spräche sie mit einer Begriffsstutzigen.
Inzwischen hatte Sybill Parker auf dem Parkplatz den Wagen gestoppt. Sie wandte sich nun ganz der Frau neben sich zu. „Seit wann?“ fragte sie knapp.
„Länger als Sie ahnen“, antwortete sie wage. „Unsere letzten Gespräche haben Sie mit mir geführt und auch alle zukünftigen werden Sie mit mir führen“, verkündete sie mit steinerner Miene. „Vor dem Besuch der Polizei haben Sie geglaubt, mit der alten Louise zu sprechen, aber ich war es. Die Polizisten glaubten, sie sprächen mit der verängstigten, weltfremden Louise, aber die gab es zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr. Es war immer ich!“ Sie machte sich unwillkürlich grade in ihrem Sitz.
„Und was hast du jetzt vor?“ hakte die Psychologin nach, die bereits unauffällig nach irgendeinem Pfleger Ausschau hielt. Sie wusste, dass sie in diesem Moment nicht allein mit Louise fertig würde.
Louise zuckte die Achseln. „Nichts besonderes“, meinte sie vergnügt. „Ich werde meine paar Habseligkeiten packen und ihr wundervolles Sanatorium noch heute Abend verlassen.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. Schon öffnete sie die Beifahrertür und stieg aus. Sybill Parker konnte ihr mit ihrem schweren Körper kaum folgen. Louise ging mit langen Schritten auf den Eingang des Sanatoriums zu und verschwand darin noch bevor Dr. Parker den Eingang erreicht hatte. Doch kaum war die Psychologin im Gebäude, als sie umgehend einen Notknopf drückte, der sich unauffällig hinter dem Vorhang in der Eingangshalle befand. Louise war nicht mehr zu sehen. Sie schien bereits auf ihrem Zimmer zu sein. Kurz darauf kamen zwei kräftig gebaute groß gewachsene Pfleger auf Dr. Parker zugeeilt.
„Louise Lombard wird das Sanatorium heute nicht mehr verlassen“, ordnete sie an. „Sorgen Sie dafür!“ Die beiden bulligen Pfleger nickten bestätigend.




Marianne war an diesem Tag vom Gerichtssaal nicht in die Bank zurückgekehrt. Sie war nach Hause gegangen und hatte sich in ihren bequemsten Sessel gesetzt. Die Zigaretten auf dem Beistelltischchen standen schon bereit. Sie griff nach einer und entzündete sie feierlich. „Gottes Rache ist gnadenlos“, verkündete sie mit einem zufriedenen Lächeln. Am glücklichsten hatte sie Louises Anblick gemacht. Louise war weder zusammengebrochen noch schien sie auch nur betroffen oder traurig über das Urteil und den damit verbundenen baldigen Verlust ihres Mannes zu sein. „Ich hab gewusst, dass sie froh sein würde“, sagte sie in die Leere ihres Wohnzimmers. „Endlich hat sie erkannt, was für ein mieser gottloser Kerl dieser Delaney ist. Keine Träne wird sie ihm nachweinen!“ Und nun stand ihrer psychischen Genesung nichts mehr im Weg und sie würde bald frei und geheilt das Sanatorium verlassen können, dessen war sich die Sekretärin sicher. Sie verspürte eine solche innere Euphorie, dass sie kurzerhand einen Entschluss fasste. Sie wollte noch heute Abend zu Louise rausfahren und mit ihr die Zukunft besprechen und wann sie endlich dieser leidigen Psychologin für immer den Rücken kehren konnte. Sie musste zu Louise, ohne dass Sybill Parker etwas davon mitbekam und sie wusste auch schon wie sie das anstellen würde.



Henry hatte allein das Gerichtsgebäude verlassen. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte er nachdenklich durch die Innenstadt von Creek County. Delaney war beseitigt, er hatte jetzt freie Bahn in der Bank und würde nun auch offiziell die Leitung übernehmen. Er hatte Louise im Gerichtssaal ansprechen wollen, aber Sybill Parker hatte jeglichen Kontakt zu Louise unterbunden. Weder er noch Marianne oder irgendjemand sonst hatte mehr als eine kurze Begrüßung mit ihr wechseln können.
Ohnehin war ihm Louise seit längerem irgendwie fremd geworden. Schon bei seinem nächtlichen Besuch im Sanatoriumspark hatte er geglaubt, einer Fremden gegenüber zu stehen. Sie war so anders geworden. Ihr fehlte jede Weichheit und Güte in den Augen, die er früher so sehr an ihr geliebt hatte. War es die Heirat mit Delaney, die sie so verändert hatte oder ihre psychische Angeschlagenheit? Er wusste es nicht und eigentlich wollte er es auch gar nicht mehr wissen. Louise hatte sich eben für einen anderen entschieden, sie hatte seine, Henrys, Liebe nicht gewollt. Noch vor einigen Wochen hätten diese Gedanken ihn am Boden zerstört. Er hatte viele einsame Tränen der Wut vergossen, nachdem Louise diesen Bastard Delaney geheiratet hatte. Und dann überließ sie diesem Schwein auch noch die Bank. Sie hatte doch wissen müssen, was sie ihrem Jugendfreund damit antat? Aber es schien ihr herzlich egal gewesen zu sein. Sie hatte nicht mal mit ihrem Vater vor dessen Tod gesprochen, dass Henry eine gleichberechtigte Stellung neben Jack in der Bank einnehmen solle. Nein, sie war egoistisch und ignorant gegen ihn vorgegangen. Er betete geradezu darum, dass sie jetzt vielleicht erkennen würde, wie falsch sie mit all ihren Entscheidungen gelegen hatte. Aber jetzt war es zu spät. Er, Henry, war am Ziel seiner Träume. Er hatte die Leitung der Bank übernommen, zum Trotz aller Widrigkeiten. Und das hatte er nur dem Erbe seines geliebten Onkels Sam zu verdanken und der eigenen Kreativität dabei, dieses Erbe richtig einzusetzen. Bis Louise diesen Delaney geheiratet hatte, hatte er gehofft, die Dokumente, die ihm sein Onkel sozusagen für den „Notfall“ hinterlassen hatte, nie einsetzen zu müssen. Doch eben dieser Notfall war eingetreten, nachdem Jack die Bank übernommen hatte. Jack hatte versucht ihn zu degradieren und vor den Angestellten lächerlich zu machen. Und er hatte oft nicht im Sinne der Bank, sondern nur im eigenen Sinne gehandelt, wenn es um dubiose Geschäftspartner -oder praktiken ging. Aber Delaneys größter Fe! hler war wohl, dass er ihn, Henry, so gnadenlos unterschätzt hatte. Lächelnd streckte er sein Gesicht der wärmenden Sonne zu.


Lieutenant Jerry Hope war nach der Gerichtsverhandlung ins Polizeirevier zurückgekehrt. Sie erzählte Conny wie es gelaufen war, der daraufhin jubelnd eine Faust bildete. Sie selbst hätte jetzt auch zum Polizeialltag zurückkehren sollen. Fall gelöst, Täter verurteilt – basta! Aber irgendwie ließ dieser Fall sie nicht los. Louises Gesichtsausdruck nach der Urteilsverkündung und die stummen Worte ihrer Lippen hatten sie bis ins Knochenmark getroffen. Lose Enden hingen in Jerry Hopes Kopf noch herum und das hatte sie von jeher nicht ausstehen können.
„Ich werd heut mal früh Feierabend machen“, verkündete Conny selbstzufrieden und reckte die müden Glieder. „Wie sieht´s aus?“ wandte er sich an seine nachdenkliche Kollegin. „Willst du nicht irgendwo einen kleinen Absacker mit mir trinken und dann auch früh schlafen gehen? Es waren harte Tage…“
Jerry Hope schien ganz in ihren Gedanken versunken zu sein. „Schläfst du schon, oder was?“ rief Conny lachend und ging lässig auf sie zu.
„Wie bitte? Was?“ fragte Jerry leicht verwirrt, lächelte dann aber umgehend zurück. „Mach nur Feierabend Conny“, redete sie ihrem Kollegen gut zu, „ich bin auch gleich weg.“
Conrad Hayes zuckte mit den Schultern und winkte ihr verabschiedend zu. Jerry war schon wieder in ihre Gedanken versunken und nickte nur knapp.
Kurz darauf erhob auch sie sich, griff nach ihrer Wildlederjacke und verließ das Polizeirevier. Sie stieg in ihren Privatwagen und war eigentlich schon auf dem Weg nach Hause, als sie urplötzlich ihr Auto wendete und statt dessen hinaus zum Sanatorium fuhr. Warum wusste sie selbst noch nicht genau. Das einzige, was sie wusste war, dass sie noch ein letztes Mal mit Louise Lombard-Delaney sprechen wollte. Einfach, um für sich selbst die Geschichte abzurunden, hätte sie zu gern gewusst, wieso eine Frau wie Louise überhaupt einen Mann wie Jack Delaney geheiratet hatte. Und warum in dieser kurzen Ehe soviel schief gelaufen war, dass sie beim Todesurteil ihres Mannes derart eiskalt reagiert hatte, woraufhin dieser völlig außer sich geriet und sogar Louise als die Mörderin der drei Opfer beschuldigte. Hätte Louise überhaupt die Möglichkeit gehabt, die drei Morde zu begehen? Fragte sie Jerry zweifelnd. Sie war seit über zwei Monaten in diesem Sanatorium, bewacht von der übergewichtigen Matrone Parker und noch dazu psychisch schwer krank. Wie hätte sie von dort überhaupt wegkommen sollen. Das wäre erstens nur mit einem Auto möglich gewesen und zweitens hätte sie einen Verbündeten in der Klinik haben müssen, der ihr während ihrer Abwesenheit Sybill Parker vom Hals hielt. Jerry hatte bei der Durchsuchung Jack Delaneys Haus in der Garage Louises Auto gesehen. Ihren eigenen Wagen hätte sie also nicht benutzen können. Und einen Verbündeten zu finden in so einer Klinik war eine heikle Angelegenheit. Irgendeine Krankenschwester oder einen Pfleger anzuheuern, konnte gut nach hinten losgehen, wenn die oder der Angesprochene sie bei Dr. Parker verpfiff. Vielleicht hätte Dr. Parker sie dann sogar in die geschlossene Abteilung verlegt. Andererseits verfügte Louise über große finanzielle Mittel. Hatte Jack Delaney nicht etwas von einem Umschlag mit Bargeld gesagt, den er bei seinem Besuch im Sanatorium angeblich für seine Frau mitgenommen hatte? Aber dieser Besuch soll ja gar nicht stattgefunden haben, überlegte Jerry und ka! ute nach denklich auf ihrer Unterlippe, während die Lichter der Stadt allmählich hinter ihr verschwanden. Außerdem – selbst wenn Louise diesbezüglich gelogen haben sollte – Sybill Parker hatte ihre Aussage bestätigt. Gedanken über Gedanken türmten sich in Jerry Hopes Kopf. Umso mehr hatte sie das Verlangen, noch einmal mit Louise zu sprechen.
Kurz vor der Einfahrt zum Sanatorium war Jerry einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war bereits neun Uhr am Abend. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Würde Sybill Parker sie jetzt überhaupt noch zu Louise vorlassen? Und was sollte sie überhaupt als Grund ihres Besuches angeben? Jerry beschloss, sich eine Geschichte auszudenken, warum sie zu Louise wollte, die plausibel aber nicht verdächtig klang. Deshalb hielt sie kurz vor der Einfahrt am Straßenrand, schaltete die Autoscheinwerfer aus und begann zu überlegen. „Ich werde einfach sagen, ich mache mir Sorgen um Louise, wie sie auf das Urteil ihres Mannes reagiert“, beschloss sie mit energischer Miene. „Bei unserem Besuch fand ich Louise so sympathisch, dass ich mich einfach nach ihrem Befinden erkundigen wollte“, übte sie ihre Rolle schon mal und versuchte im Rückspiegel eine möglichst glaubhafte Mimik. Sie weitete ihre olivgrünen Augen und schlug die Lider mehrfach auf und zu. Ihren Mund formte sie zu einem harmlosen Lächeln. Sie musste fast lachen über ihre mitleiderregenden Gesichtszüge und befand, dass sie damit sogar das Herz einer Psychologin erweichen müsste. Gerade wollte sie den Wagen wieder starten, um in die Einfahrt zu biegen, als sie auf dem Parkplatz des Sanatoriums zwei Personen sah, die ihr bekannt vorkamen. Die beiden drückten sich an einem Randgebüsch des Platzes und schienen irgend etwas miteinander zu tuscheln. Jerry beugte sich vor, um genauer sehen zu können. Und dann erkannte sie, um wen es sich bei den beiden Leuten handelte. Die Frau war eindeutig Marianne Simmons, Jack Delaneys Sekretärin und jahrzehntelange Vertraute der Familie Lombard. Der Mann war ein Beschäftigter des Sanatoriums. Er hieß Frank und war Hilfspfleger, soweit sich Jerry erinnerte. Sie hatte ihn an jenem Tag, als sie gemeinsam mit Conny das Sanatorium besuchte, kurz gesehen. Es war in Sybill Parkers Büro. Er hatte zur Tür hereingeschaut und gefragt, ob er Getränke bringen solle. Dr. Parker hatte daraufhin kurz erwähnt, dass er Hilfspfleger un! d Mädche n für alles im Sanatorium war. „Eine Seele von Mensch“, hatte die Psychologin noch hinzu gesetzt. Und nun sah Jerry ihn und die Sekretärin miteinander heimlich tuscheln und, wie Jerry jetzt erkannte, übergab Miss Simmons dem Hilfspfleger mit einer eiligen Bewegung einen Umschlag, den dieser sofort in seinem Jackett verschwinden ließ. Beide schauten sich nervös um, entdeckten aber niemanden, auch nicht die Polizistin, die aus einem versteckten Winkel ihr Beisammensein beobachten konnte. Gleich danach verschwanden die beiden in Richtung Sanatorium, gingen aber nicht etwa zum Haupteingang, sondern schlichen an der linken Gebäudemauer entlang durch Büsche und wild wuchernde Pflanzen. Offensichtlich gab es irgendwo einen geheimen Eingang, überlegte Jerry, nachdem die beiden Verschwörer aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Die Polizistin überlegte, was zu tun sei. Sollte sie ihnen folgen? Sie zur Rede stellen? Andererseits, dachte Jerry achselzuckend, konnte Marianne Simmons einfach dasselbe vorhaben wie sie. Vielleicht wollte auch sie nur ungestört mit Louise sprechen, um zu sehen, wie es ihr nach der Gerichtsverhandlung ging und wie sie Jacks hysterischen Anfall verkraftet hatte. Schließlich war die Sekretärin eng mit der Familie verbunden. Sie war eine Vertraute Helen Lombards und kannte Louise seit ihrer Geburt, hatte sie durch Kindheit, die schwere Jugend bis ins Erwachsenenalter begleitet. War es da so abwegig, dass sie nach ihrem Schützling schauen wollte? Eigentlich nicht, befand Jerry. Nur wenige Minuten später, noch bevor Jerry sich entschlossen hatte, was sie nun tun sollte, kehrte der Hilfspfleger auf den Parkplatz zurück und stieg in ein ziemlich heruntergekommenes Auto. Er fuhr an ihr vorbei aus der Ausfahrt, ohne sie zu bemerken. Jerry dachte nicht weiter nach, startete ihren Wagen ebenfalls und folgte dem Mann. Wenn sie irgend etwas über den eben gesehenen Vorfall erfahren wollte, so würde sie es von ihm am ehesten zu wissen bekommen. Bestechliche Menschen waren erfahrungsgemäß v! iel labi ler als derjenige, der besticht. Außerdem hielt Jerry ihn nicht für sonderlich hell im Kopf. Er war eine leicht zu knackende Nuss.


Marianne Simmons war von dem Hilfspfleger Frank durch einen Kellereingang, der versteckt an der linken Außenseite des Sanatoriums lag, ins Innere der Klinik geführt worden. Von da an musste sie allein gehen, nachdem er ihr den Weg beschrieben hatte. Ein einziges Mal hatte Louise sie heimlich aus dem Sanatorium angerufen. Wie sie ihrer lebenslang vertrauten Marianne sagte, wollte Dr. Parker vorerst nicht, dass sie zu irgendjemanden Kontakt hätte, so lange, bis ihre Psyche wieder stabiler sei. Marianne dachte verächtlich an diese zwielichtige Erklärung Sybill Parkers. Marianne hatte eher vermutet, dass diese Parker einzig und allein Einfluss auf Louise nehmen wollte, um die finanzielle Zukunft ihres Sanatoriums zu sichern. Von der Vereinbarung der Ärztin mit Jack Delaney hatte sie nichts gewusst.
Doch zum Glück schien Louise noch einen Rest Eigenwillen zu haben und hatte deshalb Marianne heimlich angerufen, um ihr mitzuteilen, dass es ihr gut ginge und dass sie hoffe, bald wieder nach Hause zu können. „Sie weiß eben, wie sehr ich sie liebe und mich um sie sorge“, hatte sie nach dem Gespräch zu sich selbst gesagt und dabei triumphierend gelächelt. „Blut ist eben doch dicker als Wasser“.
Bei diesem einen Gespräch hatte Louise ihr von dem einfältigen, spielsüchtigen Hilfspfleger Frank erzählt, der für Geld so gut wie alles machte. Deshalb hatte Louise auch Marianne gebeten, immer darauf zu achten, dass Jack den Umschlag mit Bargeld nicht vergaß, wenn er zu ihr ins Sanatorium kam.
Somit hatte Marianne nun gewusst, an wen sie sich hatte wenden müssen, um ungesehen zu Louise zu gelangen. Der Kerl war sogar billiger gewesen, als Marianne vermutet hatte. Er schien in ziemlicher Geldnot zu stecken. Und er hatte Marianne mitgeteilt, zu welcher Zeit sie Louise ungestört in ihrem Zimmer vorfinden würde.
Spinnenweben hingen von der Kellerdecke hinab, sodass Marianne sich mehrfach angeekelt ducken musste, um sich nicht mit den Haaren darin zu verfangen. Endlich gelangte sie zu der beschriebenen Tür, die sie in ein Treppenhaus rechts des Haupteinganges führte, durch welches sie direkt bis vor Louises Zimmertür kommen konnte. Marianne hatte sich schwarze Hosen und eine schwarze Bluse angezogen, um in dem schwach beleuchteten Fluren schwer sichtbar zu sein. Außerdem trug sie lautlose Mokkassins. Nur einen Spaltbreit öffnete sie die Tür des Treppenhauses zum Gang. Eilig schlüpfte sie hindurch und schlich unbemerkt zu Louises Zimmertür. Das Anklopfen ersparte sie sich. Langsam und unhörbar drückte sie die Türklinke runter und schlängelte ins Zimmer wie eine Schlange. Ein Strahlen legte sich auf ihr Gesicht, als sie die Tür wiederum lautlos schloss. Doch das Strahlen wich unendlicher Enttäuschung. Louise befand sich nicht in ihrem Zimmer. Marianne beschloss, auf sie zu warten und – falls sie in Begleitung Dr. Parkers zurückkommen sollte, sich in dem schmalen Schränkchen zu verstecken, bis die Psychologin verschwunden war. Marianne hatte spätestens heute im Gerichtssaal begriffen, wie sehr Dr. Parker ihre Klauen um Louise gelegt hatte. Sie wollte sie vor der ganzen Welt abschirmen und unter ihren Fittichen behalten. Aber das würde Marianne nie zulassen. Sie wusste aus dem Telefonat mit Louise, dass auch diese der Psychologin nicht wirklich vertraute und sobald wie möglich heim wollte. Und Marianne hatte beschlossen, das Sanatorium nicht ohne Louise wieder zu verlassen!
Während sie wartete, blickte sich Marianne in dem Zimmer um. Als erstes entdeckte sie hinter der Tür das düstere Bild eines schwarzen Baumes mit einer schwarzen menschlichen Gestalt daran hängend. Unwillkürlich traten ihr Tränen in die Augen. Sie hat Helens Tod noch immer nicht verwunden, dachte sie schmerzerfüllt. Genauso wie sie selbst. Und deshalb war es jetzt mehr denn je ihre Aufgabe, sich um sie zu kümmern, fügte sie entschlossen hinzu. Ihr Blick schweifte auf das unbenutzte Bett. Sie trat näher heran, da sie nur schemenhaft irgendetwas darauf liegen sah. Marianne wollte vermeiden, das Licht anzuschalten. Aber inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sah Louises Kleidung nachlässig auf dem Bett verteilt. Umgehend ging sie zum Kleiderschrank hinüber und erkannte, dass er leer war. Offensichtlich war Louise gerade dabei, ihre gesamte Garderobe einzupacken, denn neben dem Bett erspähte Marianne nun einen großen Koffer, sowie Louises Beautycase. Die Szenerie machte Marianne nervös. Offensichtlich schien Louise beim Packen gestört worden zu sein. Sie schaute sich weiter im Zimmer um. Die Schreibtischplatte war leer. Darunter befanden sich mehrere Schubfächer, die Marianne nun vorsichtig aufzog. Ihr Blick fiel auf einen Berg Tabletten, die Louise darin bunkerte, wie es schien. „Ich wusste, dass sie dieser Parker nicht traut“, flüsterte sie mit in Falten gelegter Stirn. „Sie wollte nicht mal die Pillen schlucken, mit denen sie sie voll pumpen wollte!“ Marianne schritt weiter durchs Zimmer und stolperte über einen nachlässig mitten im Zimmer liegenden Schuh. Sie hockte sich hinunter und suchte nach dem zweiten. Doch nirgends war der Passende zu finden. Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Gedanke. Hatte Louise vielleicht vorgehabt noch heute in aller Eile das Sanatorium zu verlassen und war dabei von Sybill Parker ertappt worden? Je mehr sie sich im Zimmer umsah, desto wahrscheinlich erschien ihr diese Theorie. Der kleine Teppich, der vor dem Bett lag, war versc! hoben, d er Schreibtischstuhl stand viel zu weit weggerückt vom Tisch… Hatte hier vielleicht ein kleiner Kampf stattgefunden? Ein Kampf, bei dem Louise versucht hat, sich dagegen zu wehren, aus dem Zimmer fortgeschleppt zu werden? Sybill Parker war alles zuzutrauen, wenn es darum ging, ihr Sanatorium zu retten. Und jetzt, wo Jack Delaney zum Tode verurteilt war und Louise ihre Finanzen und die Bank wieder allein in der Hand hatte, musste sich Dr. Parker ihrer mehr denn je absichern. Marianne entschloss sich, zu handeln. Sie öffnete die Zimmertür und spähte in den Flur hinaus. Niemand war zu sehen. Lautlos schlich sie durch die Gänge und versuchte Louise irgendwo zu hören oder zu sehen. Sie kehrte zurück ins Treppenhaus und machte sich auf , die unteren Etagen abzusuchen. Endlich wurde sie fündig. Am Ende des Ganges im Erdgeschoss befand sich eine weiße Doppeltür mit vergitterten Fenstern darin. In geduckter Haltung schlich Marianne auf die Tür zu und lugte vorsichtig durch eines der Fenster. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Der Raum war durch unzählige Neonröhren grell erleuchtet. Auf einem Behandlungstisch lag Louise. An ihrem Kopf waren mehrere kleine Metallplatten befestigt, die wiederum mit Elektrokabeln zu einem Schaltpult führten. Sie konnte außer Louise niemanden in dem Raum entdecken. Kurz entschlossen drückte sie die Flügeltür leicht auf und schlüpfte hinein. Sie eilte an Louises Seite. Die daliegende junge Frau hatte die Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet. Ihre Zunge lag schlaff im rechten Mundwinkel. Marianne traten Tränen in die Augen bei ihrem Anblick. Sacht fasste sie Louise am Arm. „Louise“, hauchte sie mit belegter Stimme, „ich bin`s , Marianne. Hörst du mich?“ Doch Louise regte sich nicht. Es war als sei sie tot. Marianne legte ihr linkes Ohr auf Louises Brustkorb. Sie hörte ihr Herz schlagen. Etwas fester packte sie sie jetzt an beiden Armen. „Louise, Kind, wach auf“, rief sie voller Verzweiflung. Sie ignorierte jetzt je! de Vorsi cht. Sie wollte nur noch, dass Louise ein Lebenszeichen von sich gab. „Ich nehme dich mit nach Hause“, setzte sie wimmernd hinzu. Louise wollte und wollte nicht reagieren. Ungehemmt rannen Marianne Tränen über die Wangen, während eine unerträgliche Wut in ihr aufstieg. Sybill Parker musste Louise so lange mit Elektroschocks behandelt haben, bis sie das Bewusstsein verloren hatte. Marianne strich mit zitternden Fingern über Louises blasses lebloses Gesicht. Der Schmerz, den Marianne empfand, war unbeschreiblich und unbezähmbar. Sie machte sich unwillkürlich gerade und blickte sich suchend in dem Behandlungsraum um. Dann erblickte sie, was sie suchte. Einsam und vergessen lag auf einem Rolltischchen in der Ecke ein Skalpell. Eilig rannte Marianne hinüber und ergriff das Instrument. Ihre sonst immer ordentlich frisierten Haare fielen ihr wirr ins Gesicht. Ihre Tränen waren getrocknet und ihre Augen strahlten unbeirrbaren Hass aus. Noch einmal kehrte sie zu Louise zurück und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Nachher komme ich wieder und hole dich, mein Schatz“, flüsterte sie und machte sich auf die Suche nach Sybill Parker.



Schon nach kurzer Zeit ahnte Lieutenant Jerry Hope, wo der Mann, dem sie unbemerkt nachfuhr, hinwollte. Sein Weg führte zu den am Meer liegenden Casinos. Etwa fünfzehn Minuten später bestätigte sich ihre Ahnung. Frank, der Hilfspfleger des Parker Sanatoriums, stellte seinen schrottreifen Wagen vor einem der hell erleuchteten Casinos ab und eilte zum Eingang. Er wirkte nicht wie jemand, der vorhatte sich ein wenig zu amüsieren, sondern eher gehetzt und unter Druck. Auch Jerry parkte ihren Wagen und folgte Frank in einiger Entfernung. Kurz vor dem Eingang wurde der Mann von einem wesentlich größeren, bullig gebauten Türsteher-Typ barsch aufgehalten und am Kragen gepackt. Sofort nahm Frank eine demütige Haltung ein und schien beschwörend und flehend auf den körperlich Überlegenen einzureden. Es war offensichtlich, dass es sich bei dem Fremden um einen Geldeintreiber handelte. Jerry beobachtete, wie der Schläger den Hilfspfleger noch enger an sich heranzog, ihm irgend etwas bedrohliches zuflüsterte und dann von sich stieß. Noch immer in leicht gebeugter Haltung machte sich Frank davon und rannte geradezu fluchtartig ins Casino. Jerry folgte ihm. Schon nach kurzem Umschauen erblickte sie ihn an einem Black Jack Tisch. Schräg gegenüber des Tisches auf einer Empore befand sich ein Bartresen. Jerry beschloss, sich dort einen Drink zu bestellen und Frank vorerst weiter zu beobachten. Es war unverkennbar, dass Frank kein Glück beim Spiel hatte. Wieder und wieder raufte er sich das ohnehin schüttere Haar und fluchte leise vor sich hin. Irgendwann war sein Geld offensichtlich aufgebraucht und er schleppte sich mit hängenden Schultern genau auf Jerry zu zur Bar.
„Wie immer, Frank?“ fragte der Barkeeper, der ihn sehr gut zu kennen schien. Anstatt zu antworten, nickte Frank nur trübe. Jerry saß zwei Barhocker von ihm entfernt und blickte zu ihm hinüber.
„Kein Glück gehabt?“ rief sie ihm mit bedauernder Miene zu. Der Hilfspfleger hob ihr überrascht das Gesicht entgegen und schüttelte den Kopf mit einem matten Lächeln auf den Lippen. Jerry Hope nahm einen weiteren Schluck von ihrem Bier und zog schließlich ihre Brieftasche aus der Innentasche ihrer Wildlederjacke. Darin befanden sich noch etwa zweihundert Dollar. Mit einem entschlossenen Griff packte sie die Dollarscheine und schob die Geldbörse zurück in die Jacke. Sie stieg von ihrem Hocker und schlenderte unauffällig zu Frank hinüber. Noch bevor er es bemerkte, lehnte sie sich an den Bartresen genau neben ihn. Sie hielt ihm die zweihundert Dollar vor die Nase und grinste breit. „Die gehören Ihnen, wenn Sie mir sagen, was Marianne Simmons vorhin von Ihnen wollte“, eröffnete sie das Gespräch. Erschrocken fuhr der Angesprochene zurück und starrte zuerst Jerry dann die Dollars an. Jerry sah in seinen Augen, wie sehr er nach dem Geld gierte, dennoch zögerte er einen Moment.
„Wer sind Sie?“ fragte er misstrauisch.
„Lieutenant Jerry Hope, Mordkommission Creek County“, erwiderte sie ungerührt. „Wenn Sie wollen, können wir das Ganze auch auf dem Revier besprechen…“
Mit einer schnellen Bewegung griff Frank nach den Dollarscheinen und stopfte sie in seine Hosentasche. „Seien Sie doch nicht gleich so empfindlich“, grinste er schmierig. „Der Polizei helfe ich doch jederzeit gerne“, setzte er hämisch hinzu.
„Also“, begann Jerry erneut, „was wollte Miss Simmons von Ihnen?“
Frank zuckte mit den Schultern. „Sie wollte nur unbemerkt zu der reichen Bankierfrau“, erwiderte er.
„Sie meinen Louise Lombard“, sagte Jerry mehr bestätigend als fragend. Frank nickte.
„Was will sie von ihr?“ fuhr Jerry fort.
„Keine Ahnung“, meinte der Hilfspfleger, „ist mir auch egal, solange das Geld stimmt!“ Sein schmieriges Grinsen kehrte zurück auf sein schwitzendes Gesicht.
Jerry blickte ihn schräg an. „Sie lassen sich gern mal kleine Gefälligkeiten bezahlen, stimmt´s Frank?“ hakte sie nach und grinste genauso schmierig zurück.
„Haben Sie eine Ahnung, wie wenig Doc Parker bezahlt?“ rechtfertigte er sein Handeln. „Ich hab ´ne Frau und Kinder zu ernähren!“
„Und Schulden bei zwielichtigen Geldgebern, nicht wahr? Ich hab Sie vorhin auf dem Parkplatz mit so ´nem Gorilla gesehen“, sagte Jerry und lehnte sich jetzt gelassen mit dem Rücken an den Tresen.
„Na und? Ist doch meine Sache, oder?“ rief Frank trotzig.
„Von wem haben Sie sich in letzter Zeit noch … finanzielle Zuwendungen geben lassen?“ drückte sich Jerry sehr diskret aus.
Frank blieb stumm.
„Na kommen Sie schon, Frank“, drängte ihn Jerry, „für zweihundert Mäuse können Sie schon ein bisschen redseliger sein. Haben Sie auch von Louise Lombard-Delaney Geld bekommen?“ wurde sie jetzt direkter.
„Ein, zwei Mal“, sagte der Pfleger knapp.
„Wann und wofür?“ hielt sich Jerry verbal ebenso knapp wie ihr Gegenüber.
Der Hilfspfleger schien sich immer unwohler in seiner Haut zu fühlen. Er zog unwillig die Augenbrauen zusammen. „Sie brauchte Mal mein Auto, wann weiß ich nicht mehr genau. Sie hat gut dafür bezahlt, was ist schon dabei?“ verteidigte er sich ohne angeklagt zu sein.
„Brauchte sie das Auto morgens oder mittags oder abends?“ bohrte Jerry genervt weiter. „Nun reden Sie schon, Frank. Lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, sonst nehme ich Sie gleich doch noch mit aufs Revier!“ Ihre Drohung schien zu wirken.
„Sie brauchte das Auto mehrfach abends“, begann er endlich, etwas ausführlicher zu erzählen. „Sie hatte es jedes Mal mindestens zwei, drei Stunden. Ich weiß nicht, wohin sie fuhr oder zu wem. Am Kilometerstand hinterher habe ich immer nur gesehen, dass sie eine ziemliche Strecke gefahren sein musste. Wahrscheinlich bis Creek County und zurück“.
„Was war mit Dr. Parker? Hat sie denn nicht gemerkt, dass ihre Patientin das Sanatorium für mehrere Stunden verlassen hatte?“ fragte Jerry kritisch.
Frank druckste einen Moment herum. „Naja, es gehörte mit zum Deal, dass ich ihr Doc Parker vom Hals hielt“, gestand er mit gesenktem Blick ein. „Ich bringe Doc Parker ja meistens abends eine Tasse Tee. Und an solchen Abenden war dem Tee halt ein kleines Schlafpülverchen beigefügt…“ Er verzog in gespielter Schamhaftigkeit den Mund. „Nichts schlimmes, und nicht viel“, setzte er eilig hinzu. „Nur soviel, dass sie für eine Weile einschlief“.
„Und Sie wissen nicht mehr, an welchen Abenden das war?“ wollte Jerry abschließend wissen.
„Nein, Lieutenant, wirklich nicht“, versicherte er und hob zwei Finger zum Schwur empor, um seine Worte zu bekräftigen. Als ob Jerry dem Schwur eines solchen Mannes irgendeine Bedeutung zumessen würde!
Jerry Hope stieß sich gekonnt vom Tresen ab und nickte ihrem Gesprächspartner verabschiedend zu. Sie musste sofort zurück zum Sanatorium. Wenn das stimmte, was ihr dieser Pfleger eben erzählt hatte, konnte es durchaus sein, dass tatsächlich Louise Lombard die Mörderin von Penny Harper und Sarah Winthorp war, den Gespielinnen ihres Mannes. Wie William Winthorp da rein passte, wusste Jerry noch nicht. Aber das würde ihr Louise selbst vielleicht zu gegebener Zeit erklären können!
Kaum war Jerry auf den Parkplatz vor dem Casino, als sie ihren Kollegen Conrad Hayes anrief. Es klingelte sicher zehnmal, bevor Conny endlich abhob.
„Conny? Jerry hier“, rief sie über den Lärm, der noch immer aus dem Casino drang, hinweg. „Hör zu, ich kann dir jetzt am Telefon nicht alles erklären, aber du musst sofort zum Parker Sanatorium rauskommen. Es haben sich einige neue Dinge in dem Delaney Fall ergeben. Ich bin gerade draußen bei den Casinos, komme jetzt aber auch zum Sanatorium.“
„Was ist denn los?“ fragte Conny völlig verwirrt.
„Erklär ich dir später“, entgegnete sie kurz angebunden. „Bitte fahr jetzt gleich los!“ Damit beendete sie das Gespräch und rannte zu ihrem Auto.


Unbemerkt war Marianne zum Büro Doktor Sybill Parkers gelangt. Sie horchte einen kurzen Moment an der Tür. Es war nichts zu hören aus dem Inneren . Vorsichtig drückte sie die Türklinke herunter und öffnete einen Spalt breit. Niemand war da, sodass sie ungestört hineingehen konnte. Auf dem Schreibtisch brannte eine kleine Lampe und ein Kofferradio spielte leise Musik. Die Psychologin schien nur für einen Moment ihr Büro verlassen zu haben, folgerte Marianne und warf eilig einen Blick durch den Raum. Auf dem Schreibtisch befanden sich einige Unterlagen. Voller Anspannung beugte sich Marianne über die Unterlagen. Rechnungen, Patientenberichte, und dann sah sie einen kleinen zerknüllten Zettel am Tischrand verloren daliegen. Sie wischte die kleine Notiz mit der flachen Hand glatt und las: Rufen Sie mich heute Nachmittag an . Unterzeichnet war der Zettel mit H. Groming. Marianne war verblüfft. Was wollte Henry Groming denn von Sybill Parker. Dann kam ihr jedoch der Gedanken, dass er sich wahrscheinlich nach Louises Befinden nach der Gerichtsverhandlung erkundigen wollte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den anderen Unterlagen auf dem Tisch zu, konnte jedoch nichts von Interesse entdecken.
„Was tun Sie hier?“ hörte sie plötzlich die Stimme von Sybill Parker. Erschrocken hob Marianne den Kopf, hatte sich jedoch sofort wieder in der Gewalt.
„Ich will wissen, was Sie mit Louise gemacht haben?“ erwiderte sie gepresster Stimme. Am liebsten hätte sie sich sofort auf die Psychologin gestürzt, doch aufgrund der körperlichen Überlegenheit ihrer Widersacherin, musste sie geschickter vorgehen.
„Was soll ich mit ihr gemacht haben?“ fragte Dr. Parker und stemmte überheblich die Arme in die Hüften.
„Ich hab sie eben gesehen – in Ihrer Folterkammer“, spie Marianne der überraschten Frau entgegen. „Sie haben Louise mit Elektroschocks behandelt, stimmt´s? So lange, bis sie das Bewusstsein verloren hat, Sie Bestie!“
Sybill Parker schritt langsam auf Marianne zu. „Wie ich meine Patienten behandle, geht Sie gar nichts an“, patzte sie zurück. „Und jetzt verschwinden Sie sofort aus meinem Büro und meinem Sanatorium“, herrschte sie die unbeeindruckte Marianne an.
Mit einem Satz war Marianne Simmons neben der korpulenten Frau und hielt ihr das Skalpell an die Kehle. Mit der anderen Hand verdrehte sie ihr den linken Arm auf den Rücken. Sybill Parker stieß einen kurzen Schmerzenschrei aus. „Was soll das, Marianne?“ stöhnte sie. „Wollen Sie mich umbringen, oder was?“
„Mit dem größten Vergnügen, Sie intrigantes Miststück“, zischte Marianne an ihrem rechten Ohr, wodurch die körperlich größere Ärztin schmerzhaft nach hinten gebeugt wurde.
„Marianne, Sie steigern sich da in etwas hinein“, versuchte Sybill Parker jetzt die Psychologin herauszukehren. „Louise ist eine schwer kranke junge Frau. Sie stellt eine Gefahr für die Gesellschaft und vor allem für sich selbst dar. Sie haben ja keine Ahnung…“
Marianne drückte das Skalpell noch tiefer an Sybill Parkers Hals und führte sie hinüber zum Schreibtisch, um sie auf den Schreibtischstuhl zu pressen. Hinter der sitzenden Frau stand Marianne mit hasserfülltem Funkeln in den Augen. „Sie haben keine Ahnung, Sybill“, sagte Marianne mit eiskalter flüsternder Stimme an Dr. Parkers Ohr. „Louise ist nicht krank, Sie sind krank“, fuhr sie fort. „Krank vor Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis. „Sie haben schon Helen Lombard verkauft, um eine kräftige Finanzspritze von ihrem Mann Jeremiah zu kassieren. Und später haben Sie sich von Delaney kaufen lassen, um Louise in dieser Irrenanstalt festzuhalten. Wer bezahlt Sie jetzt dafür, dass Sie Louise mit diesen Elektroschocks zu Tode quälen? Na los, reden Sie schon!“ Das Skalpell war so fest auf Sybill Parkers Hals gedrückt, dass es bereits die Haut angeritzt hatte.
„Ich weiß nicht, wie Sie auf diese verrückten Geschichten kommen, Marianne“, brachte Dr. Parker mühsam hervor. „Ich habe Helen Lombard nicht verkauft. Sie war schwer krank und hat deshalb den Freitod gewählt“, sagte sie mit angsterfüllten Augen.
„Helen war schwer krank, weil dieses Schwein Jeremiah in der Stadt rumgehurt hat und meine arme Helen dadurch mit Aids infiziert hat. Was blieb Helen anderes übrig, als ihrem Leben ein Ende zu setzen, bevor sie vor den Augen ihrer kleinen Tochter dahinsiecht“, erwiderte Marianne mit brüchiger Stimme.
Sybill Parkers Augen weiteten sich ungläubig. „Was?“ rief sie und vergaß für einen Moment, dass sich ein messerscharfes Skalpell an ihrer Halsschlagader befand. „Wie kommen Sie denn darauf? Helen Lombard hat von einem Professor der Psychologie, den sie aufgesucht hatte, weil sie häufig unter kurzzeitigen Gedächtnisverlusten, Kopfschmerzen und allgemeinen Momenten der Verwirrung litt, diagnostiziert bekommen, dass sie unter einer Geisteskrankheit litt, die zunehmend ihre Gehirnzellen befiel und funktionsunfähig machte. Er hatte ihr mitgeteilt, dass diese Geisteskrankheit zwar medikamentös verzögert werden könne, es aber keine Heilung gab. Früher oder später wäre Helen Lombard schwachsinnig geworden. Deshalb hat sie den Freitod gewählt!“
„Sie lügen“, kreischte Marianne außer sich. „Aus Ihrem dreckigen Mund kommen immer nur Lügen. Ich habe nach Louises Hochzeit in Jeremiahs Haussafe den Abschiedsbrief von Helen gefunden, den Jeremiah immer geheim halten wollte. Darin hat sie geschrieben, dass er sie mit HIV infiziert habe und sie sich deshalb aufgehängt habe!“ Mit glühenden Blicken starrte sie auf Sybill Parker hinab. Doch diese wirkte nicht erschrocken oder ertappt, sondern eher verwirrt.
„Marianne, es gab keinen Abschiedsbrief“, beharrte sie zu Mariannes Ärger. „Helen wollte extra nichts schriftliches über ihren Geisteszustand hinterlassen, damit Louise nie etwas davon erführe. Jeremiah hatte mich deshalb gebeten, alle Akten, die mir jener Professor damals zugeschickt hatte, weil ich ihre behandelnde Ärztin war, zu vernichten – in Louise Interesse. Denn in dem Bericht stand außerdem, dass es sich bei dieser Art von Geisteskrankheit um eine vererbbare Form handele. Jeremiah wollte nicht, dass Louise mit der Angst aufwuchs, selbst davon befallen zu werden. Der Professor vermutete, dass auch Helen die Krankheit von ihrer Mutter oder Großmutter geerbt hatte“, endete sie und hatte die Hoffnung, Marianne mit der ganzen Wahrheit über Helen Lombards Tod etwas zu beruhigen. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Marianne verharrte, als sei sie zu Stein geworden. Bilder und Gedanken rauschten durch ihren Kopf. Sie dachte an ihre Kindheit zurück. Ihre Eltern waren schwere Trinker gewesen, deshalb war sie von ihnen fort gekommen in ein katholisches Mädchenheim. Sie hatte nie wieder etwas von ihren Eltern gehört oder gesehen. Sie wusste auch nicht, wie sie gestorben waren. Als sie etwa Mitte zwanzig war, hatte ihr eine Nonne lediglich mitgeteilt, dass ihre Mutter nach einem langen Krankenhausaufenthalt gestorben war. Wodurch wusste Marianne nicht und bis zum heutigen Tag hatte es sie auch nicht interessiert.
Sybill Parker missverstand Mariannes verharren. „Kommen Sie doch zu sich, Marianne“, redete sie auf sie ein. „Das hat doch keinen Sinn, was Sie hier tun. Sie waren Helens Freundin und…“ Noch bevor sie weiterreden konnte, packte Marianne Sybill Parker an deren leicht ergrautem Haarschopf und riss ihren Kopf noch tiefer in den Nacken.
„Ich war nicht Helen Lombards Freundin, Dr. Parker“, zischte sie zwischen schmalen Lippen hervor. Ihre Augenbraue zuckte voller Anspannung und ihre Nasenflügel bebten. „Ich war ihre Mutter! Helen Lombard war meine Tochter, mein einziges Kind. Und Louise ist meine Enkelin, das einzig Wichtige und Wertvolle, was ich noch habe auf dieser Welt!“
Sybill Parker entfuhr ein kleiner Schreckensschrei. „Das…das kann nicht sein“, stotterte sie fassungslos.
„Oh, doch, das kann sein“, fuhr Marianne sie unbarmherzig an. „Abraham Silverstone und ich haben uns geliebt. Er war der einzige Mann, für den ich je etwas empfunden habe“, brachte sie mit heller schmerzerfüllter Stimme hervor. „Und auch er hat mich geliebt, aber er war zu anständig, seine erkrankte Frau zu verlassen. Wir hatten gehofft, nach ihrem Tod…“. Marianne brach ab, weil die Gefühle sie übermannten. Stumme Tränen rannen über ihr Gesicht, ohne dass sie aber den Griff an Sybill Parkers Arm oder den Druck an ihrem Hals lockerte.
„Wieso hat nie jemand davon gewusst?“ fragte Sybill Parker trotz ihrer Todesangst.
„Bevor die Schwangerschaft sichtbar werden konnte, hat mich Abraham nach Kanada geschickt. Dort habe ich in seinem Ferienhaus gelebt, bis das Kind geboren war“, sagte Marianne mit tonloser Stimme. „Er hatte mir gesagt, ich müsste das Kind zur Adoption freigeben“, fuhr sie schwermütig fort, „aber er hatte mir nicht gesagt, dass er das Kind adoptieren wolle – gemeinsam mit seiner Frau, die ihm nie hatte Kinder schenken können. Erst als ich Monate später zurück nach Creek County kehrte, erfuhr ich davon.“ Marianne atmete schwer. In ihrer Brust hatte sich ein Knoten gebildet. „Er hatte mein kleines Mädchen einer anderen gegeben. Ich hatte keine Chance. Meine einzige Möglichkeit, jedenfalls ein wenig an Helens Leben teilnehmen zu können war, wenn ich bei Silverstone & Groming angestellt bleiben würde. Und Abraham hatte mir schriftlich versichert, dass ich unkündbar sei, egal in wessen Hand die Leitung der Firma eines Tages liegen würde.“ Sie schluckte schwer. „Ich habe das Angebot angenommen“, endete sie kaum hörbar, „um in der Nähe meiner Tochter Helen und später meiner Enkelin Louise zu sein.“
„Nehmen Sie das Skalpell herunter, Miss Simmons“, rief plötzlich eine Stimme von der Tür her. Aufgeschreckt blickten beide Frauen Lieutenant Jerry Hope entgegen, die mit gezogener Waffe im Türrahmen stand. Hinter ihr war jetzt auch Lieutenant Conrad Hayes erschienen, der ebenfalls seine Pistole auf Marianne gerichtet hielt.
Anstatt der Aufforderung Folge zu leisten, griff Marianne noch fester in Sybill Parkers Haarschopf und hielt das Skalpell zum Schnitt bereit an der Halsschlagader. „Sie hat Louise mit Elektroschocks behandelt“, kreischte Marianne, „sie hat sich von Jeremiah Lombard bezahlen lassen und von Jack Delaney, dafür, dass sie Louise hier festhält. Sie hat den Tod verdient“.
„Wir haben alles mit angehört, Marianne“, versuchte Jerry die Frau zu beruhigen, „und wir können Ihre Wut und Verzweiflung verstehen, aber ein Mord ist kein Ausweg. Louise ist wirklich schwer krank“, fuhr sie eindringlich fort und ging kaum merklich in den Raum hinein. „Sie ist schizophren“, sagte Jerry, „und es besteht inzwischen der Verdacht, dass nicht Jack Delaney, sondern Louise die Morde an Penny Harper und Sarah und William Winthorp begangen hat“, erklärte sie Marianne, in der Hoffnung, dass diese einsah, was mit ihrer Enkelin los ist. „Sie hat sich ein Auto organisiert und mehrfach an verschiedenen Abenden unbemerkt das Sanatorium verlassen. Ich bin heute hierher gekommen, um herauszufinden, ob ihre Ausflüge zeitgleich mit den Morden stattfanden“.
Marianne hörte ihr fassungslos zu. Wie konnte diese Polizistin so einfältig sein zu glauben, dass ihre kleine Louise solche Taten begehen konnte. Sie blickte Jerry Hope hasserfüllt an. „Sie sind also hergekommen, um meine Enkelin festzunehmen, stimmt´s?“ fragte sie mit bitterer Stimme.
„Vorerst wollte ich nur mit ihr sprechen“, erwiderte Jerry vorsichtig. Die Situation war zu brenzlig, um die Frau noch mehr zu reizen.
„Sie sind blind, Miss Hope“, rief Marianne und reckte der Polizistin trotzig ihr Kinn entgegen. „Blind und dumm“, spie sie ihr entgegen. „Meine kleine Louise war immer nur Opfer, nie Täterin. Deshalb ist sie ja auch hier gelandet“, fuhr sie fort und warf einen abwertenden Blick durch den Raum. „Penny Harper und Sarah Winthorp sind gestorben, weil sie es verdient hatten zu sterben. Sie haben gesündigt, immer und immer wieder. Sie haben die Gebote Gottes gebrochen, aus Lust, Leidenschaft und Gier. Ihre Verhältnisse mit Jack Delaney hatten nichts mit Liebe zu tun. Penny Harper hat das zehnte Gebot gebrochen: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Besitz, Haus … und Mann! Sie hat sich über meine Enkelin nicht nur lustig gemacht, nein, das reichte ihr nicht. Sie wollte außerdem ihr Geld. Wäre es ihr nur um Delaney gegangen, dann wäre es mir völlig egal gewesen – ich hätte ihr eher ein Dankesschreiben geschickt“, ein bitteres Lachen entfuhr ihrer Kehle.
„Soll das heißen, Sie haben…“ wollte Jerry eben fragen, als sie barsch von der Rednerin unterbrochen wurde.
„Ja, ich habe, Lieutenant Hope!“ rief sie triumphierend. „Ich habe diese gierige Hure Penny Harper getötet, mit zehn Messerstichen, für den Bruch des zehnten Gebotes. Und ich habe Sarah Winthorp getötet, diese nymphomane Ehebrecherin. Siebtes Gebot: Du sollst nicht ehebrechen! Es war wichtig, auch sie zu töten, falls irgendein abgebrühter Anwalt es doch fertig gebracht hätte, Delaney aus dem Harper Fall rauszupauken“, erklärte sie eiskalt. Jerry spürte förmlich die Blicke ihres Kollegen im Rücken. Meine Theorie mit den Messerstichen und den zehn Geboten war also doch nicht falsch, dachte sie.
„Verstehen Sie, Lieutenant“, fuhr Marianne fort, als rede sie mit einem begriffsstutzigen Kind. „Es ging mir nicht um diese Weiber. Es ging mir nur um Delaney. Er sollte ein- für allemal aus Louises Leben verschwinden!“
„Warum haben Sie dann nicht einfach ihn getötet?“ wollte Conny aus dem Hintergrund wissen.
Ein verächtlicher Blick durchbohrte ihn. „Weil dann nie herausgekommen wäre, was für ein Schwein Delaney ist. Weil Louise in ihrer Naivität dann wahrscheinlich einen Mythos in ihrem Herzen um ihn errichtet hätte. Sie wollte lange Zeit doch nicht glauben, dass er sie nur belog und betrog und es von Anfang an nur auf ihr Geld und die Bank abgesehen hatte. Egal, was nach seinem Tod über irgendwelche Affären herausgekommen wäre – sie hätte es nicht geglaubt, nicht glauben wollen. Nein, er musste vor aller Welt als das bloßgestellt werden, was er ist. Ein mieser, hinterhältiger Betrüger und Weiberheld.Durch die Anklage gegen ihn, hat die ganze US-Presse jedes schmutzige Detail seines Lebens recherchiert und gedruckt. Nur so konnte Louise endlich von ihm loskommen. Einem verurteilten Frauenmörder und Betrüger würde sie keine Träne nachweinen, dessen war ich mir ganz sicher.“
„Warum haben Sie auch William Winthorp getötet?“ hakte Jerry nach. Den Mord an ihm hatte sie bisher am wenigsten begreifen können.
Marianne gab einen abfälligen Laut von sich. „Winthorp ist einfach ein Bauernopfer gewesen“, erwiderte sie ungerührt, als spräche sie von einem lästigen Insekt, dass sie von ihrer Jacke geschnippt hatte. „Er musste ja unbedingt den wilden Mann spielen, als er erfahren hatte, dass seine Frau ihn mit Delaney betrog. Er hätte einfach meinen ganzen Plan durcheinander gebracht, wenn er Jack krankenhausreif geprügelt hätte. Außerdem hatte er vor, die Bank zunichte zu machen. Und das hieß, dass Louise ihr Geld verloren hätte und das der angesehene Name der Lombards in den Dreck gezogen worden wäre. Ich musste ihn einfach beseitigen“, schloss sie seelenruhig.
„Woher wussten Sie eigentlich von Delaneys Verhältnissen?“ fragte Conny.
Was für eine dumme Frage, dachte Marianne, dennoch ließ sie sich herab, sie zu beantworten.
„Die Affäre mit Penny Harper war mir schon lange klar, da ich sie häufig zu Delaney durchstellen musste und mitangehört habe, wie sie am Telefon ihr albernes Liebesgesäusel von sich gaben. Später dann musste ich sie immer wieder abwimmeln, da Jack inzwischen eine neue Gespielin hatte“, erzählte sie fast stolz. „Und die Sache mit Sarah Winthorp habe ich durch einen Zufall erfahren. Eines Abends rief mich Delaney wegen irgendwelcher Unterlagen an, die er am nächsten Morgen auf seinem Schreibtisch zu sehen wünschte. Kurz nach Beendigung des Gesprächs, klingelte mein Telefon erneut. Als ich abhob, meldete sich niemand, aber ich hörte Delaneys Stimme und die von Sarah Winthorp. Sie befanden sich offensichtlich mitten in einem Schäferstündchen und Delaney musste aus Versehen gegen sein Handy gekommen sein – gegen die Wahlwiederholung. Jedenfalls konnte ich alles mitanhören. Und da es nur eine Sarah gab in Delaneys Bekanntenkreis habe ich einfach eins und eins zusammengezählt!“
„Sie haben drei Morde begangen, nur um Delaney fertig zu machen?“ rief Conny mit ungläubiger Miene.
„Haben Sie denn nichts begriffen, Sie Einfaltspinsel?“ fauchte Marianne den Polizisten an. „Es ging um meine Enkelin – nur um sie. Jeremiah Lombard hatte schon meine Tochter in den Tod getrieben, und jetzt sollte ich zulassen, dass dieser Delaney dasselbe mit meiner Enkelin macht? Niemals. Ich musste handeln!“
„Aber warum wollen Sie jetzt auch noch Dr. Parker töten, Marianne?“ fragte Jerry vorsichtig und streckte eine Hand nach ihr aus. „Geben Sie mir das Skalpell, es ist vorbei, Marianne“, setzte sie leise hinzu.
Sofort spannte sich die Frau wieder an. „Nichts ist vorbei“, schrie sie. „Ich will von dieser Schlächterin wissen, warum sie das mit Louise gemacht hat. Ich will wissen, wer sie diesmal für ihre Schandtaten bezahlt hat.“ Sie wandte sich wieder ganz ihrem hilflosen Opfer zu. Das Skalpell zerschnitt die Haut und ein Blutstrahl rann an Sybill Parkers Hals herunter zum Dekolleté. „Na los, Parker, wer hat Sie diesmal bezahlt?“ Noch bevor die Psychologin in irgendeiner Weise reagieren konnte peitschte ein Schuss durch die Luft und traf Marianne Simmons an der linken Schulter. Sie schleuderte wie ein Blatt im Wind nach hinten gegen die Bürowand. Das Skalpell flog durch die Luft, während Sybill Parker seitlich vom Stuhl fiel. Jerry Hope drehte ruckartig den Kopf nach hinten, von wo der Schuss gekommen war. Ihre und Connys Blicke trafen sich.
„Das war ganz schön riskant“, sagte sie schwer atmend.
„Es musste ein Ende haben, Jerry“, erwiderte Conny mit verbissener Miene. „Sie hätte zugestochen, wenn Parker geantwortet hätte.“


Er stand am Panoramafenster im zehnten Stock und blickte auf die nächtliche Stadt unter sich. Seine Gesichtszüge waren entspannt und ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dieses Büro hat mir immer gefallen, dachte er selbstzufrieden. Und ich habe immer gewusst, dass es eines Tages meins sein würde, setzte er siegessicher hinzu. Er schenkte sich ein großes Glas Whisky ein, ließ zwei Eiswürfel klingend hineinfallen und setze sich bequem auf den weichen Ledersessel. Er gab ein Seufzen von sich und nippte gelöst an dem Whisky. In dem Panoramafenster konnte er sein Spiegelbild erkennen. Amüsiert prostete er sich selbst zu. „Spiel, Satz und Sieg“, formulierte er seinen Triumph in der Sprache der Tennisspieler. „Danke, Onkel Sam“, setzte er noch einmal prostend hinzu. Alles war so gelaufen, wie er es sich gedacht hatte. Durch die Dokumente, die sein Onkel ihm hinterlassen hatte, wusste er seit Jahren, dass Jeremiah Lombard damals Sybill Parker mit einem netten Sümmchen bestochen hatte, alle Krankenunterlagen seiner Frau Helen verschwinden zu lassen. Helen war auf dem Weg in die Schwachsinnigkeit gewesen, das wollte Jeremiah natürlich vor der Welt geheim halten. Genauso wie Abraham Silverstone, Jeremiahs Schwiegervater, immer hatte geheim gehalten, dass Helen nicht von ihm und seiner Ehefrau, sondern von ihm und der jungen Marianne Simmons gezeugt war. Er hatte sie dann anschließend adoptiert und die gute Marianne mit einem unkündbaren Arbeitsvertrag und einem mehr als großzügigen Gehalt bei der Stange gehalten. Marianne hätte ohnehin keine andere Möglichkeit gehabt. Als unverheiratete Frau schwanger zu sein in einem Creek County vor über vierzig Jahren – undenkbar. All das hatte er bereits seit Jahren gewusst und wie einen Schatz gehütet. Als Louise dann nicht ihn sondern diesen Weiberhelden Delaney heiratete, beschloss er, seinen Schatz zu nutzen. Er hatte Louise darauf hingewiesen, dass ihr Mann Affären mit anderen Frauen hatte, aber sie war so blind und naiv, dass sie ! ihm Eife rsucht unterstellte und deshalb Lügen über ihren Mann erzähle. Er hatte ihr daraufhin geraten, ihren ach so treuen Ehemann doch selbst mal zu beobachten. Anscheinend war sie seinem Rat gefolgt, denn ansonsten konnte er sich nicht vorstellen, woher Winthorp so plötzlich von dem Verhältnis seiner Frau mit Delaney erfahren hatte. Doch die Königin in seinem Schachspiel war Marianne Simmons. Er wusste von ihrer geradezu krankhaften Fürsorge für Louise, vor allem seit Helens Tod. Er wusste, dass sie handeln würde, wenn sie in Jeremiah Lombards Safe einen Abschiedsbrief von Helen finden würde, in dem diese ihren Mann bezichtigte, sie in den Tod getrieben zu haben. Er brauchte ihr dann nur noch durch kleine Nebenbemerkungen klarmachen, dass Louise an Delaneys Seite das gleiche Schicksal ereilen würde wie Helen. Was Marianne tun würde, um Delaney aus dem Weg zu schaffen, wusste er nicht. Aber als er von den Morden an Penny Harper, Sarah Winthorp und ihrem Mann William erfuhr, ahnte er, dass er offensichtlich einen Dämon in Marianne losgelöst hatte. „Wo der Abschiedsbrief aus Jeremiahs Safe wohl abgeblieben war?“ fragte er sich wenig besorgt. Niemand wird auch nur auf die Idee kommen, einen Schriftvergleich mit Helens Handschrift und der in dem Abschiedsbrief zu machen, den Brief, den er verfasst und in dem Safe deponiert hatte, kurz bevor Marianne und Louise das Familienstammbuch zurück in den Safe legen wollten. Es war ein glücklicher Zufall, dass er die beiden an jenem Tag vor der Bank traf und sie ihm erzählten, sie wollten erst ein wenig shoppen gehen und dann in Louises Elternhaus fahren, um das Familienstammbuch wieder an seinen sicheren Platz im Safe zu legen. Damals, als er mit seinem Onkel in Jeremiah Lombards Haus gewesen war, an dem Tag als Helen sich das Leben genommen hatte, war niemandem aufgefallen, dass der dreizehnjährige Junge neben der Couch gehockt und das Gespräch seines Onkels und dessen Partner anhörte. Und als Jeremiah Lombard dann etwas in den Safe legte, hatte der Zahlen bega! bte Jung e sich die Kombination gemerkt. Bis heute war sie in seinem Gedächtnis eingebrannt.
An jenem Tag, als er Louise und Marianne vor der Bank begegnet war, kam ihm die Idee, den Funken zu zünden, der die Bombe zur Explosion bringen sollte. Jeremiah war geschäftlich Auswärts, sodass es für ihn ein leichtes war, den Zweitschlüssel des Privathauses Lombard, der sich in Jeremiahs Schreibtischschublade befand, zu entwenden. Er fuhr zum Lombardschen Haus, deponierte den fingierten Abschiedsbrief und war schon wieder zurück im Büro, bevor die beiden Frauen an Louises Elternhaus ankamen. Wie er später erfuhr, war Jeremiah nach seinem Geschäftstermin direkt nach Hause gefahren und dort auf die fassungslose aufgebrachte Marianne und Louise getroffen. Marianne musste ihm so zugesetzt haben, dass er noch am selben Tag einen Herzinfarkt erlitt. Der Funke, den er gezündet hatte, war zu einem lichterlohen Brand geworden. Marianne erledigte ohne es zu ahnen, die Drecksarbeit für ihn. Nicht nur Jeremiah Lombard war dahingerafft, sie hatte außerdem den wichtigsten Störfaktor Jack Delaney direkt an die Giftspritze geliefert.
Er grinste teuflisch in sich hinein und nahm einen erneuten Schluck von dem teuren Whisky. „Auf dein Wohl, Jack“, sagte er in die Dunkelheit des Büros im zehnten Stock des Bankhauses Lombard & Groming. „Dein letzter Drink wird tödlich sein!“
Das einzige Problem stellte schließlich noch Louise selbst dar. Er hatte mit Sybill Parker am Nachmittag telefoniert und was sie ihm sagte, ließ sämtliche Alarmglocken in ihm klingen. Louise schien wild entschlossen, das Sanatorium zu verlassen und sich zukünftig selbst um ihr Leben zu kümmern – und sie wollte endlich in der Bank aktiv werden! Er fand das geradezu lächerlich. Nie hatte sie sich für die Geschäfte interessiert. Und ausgerechnet jetzt, wo er am Ruder war, wollte sie ihm dazwischen funken. Aber glücklicherweise wusste er von Sybill Parkers finanzieller Not und dass sie ihr Sanatorium demnächst dichtmachen konnte, wenn nicht ein zahlungskräftiger Finanzier auftauchte. Dass sie bestechlich war, wusste er außerdem aus den Dokumenten seines Onkels.
„Ich bin sicher, Sie haben in Ihrem ausgezeichneten Sanatorium Behandlungsmöglichkeiten, die dazu führen werden, dass Louise noch lange, lange Zeit bei Ihnen Patientin bleiben wird“, hatte er der lauschenden Sybill Parker gesagt. „Und ich bin außerdem sicher“, hatte er eindringlich hinzugefügt, „dass unser Bankhaus Ihre hervorragende Einrichtung finanziell so lange unterstützen wird, bis Sie aus dem Gröbsten heraus sind…“ Sybill Parker hatte verstanden.
Er prostete erneut seinem Spiegelbild zu. „Du hast es so gewollt, Louise“, sagte er mit gespieltem Bedauern. „C´est la vie!“
Erschrocken fuhr er in seinem Sessel auf, als plötzlich das Oberlicht den Raum grell erhellte.
„Henry Groming, Sie sind verhaftet wegen Anstiftung zum Mord!“ rief Lieutenant Jerry Hope dem völlig fassungslosen Mann mit dem Whiskyglas in der Hand zu.
„Was?“ rief Henry Groming mit sich überschlagender Stimme. „Welcher Mord?“
„Dem Mord an Louise Lombard-Delaney“, erwiderte Jerry Hope kalt. „Sie haben Dr. Sybill Parker Geld geboten, wenn sie als Gegenleistung dafür Louise davon abhält, das Sanatorium zu verlassen“, fuhr Jerry mit harter Miene fort. „Leider hat Sybill Parker ganze Arbeit geleistet. Sie hat Louise so viele Elektroschocks verabreichen lassen, dass sie aus ihrer Bewusstlosigkeit nicht mehr erwachte und vor wenigen Minuten verstarb!“
Das fast leere Whiskyglas fiel aus Henrys Hand und zerschmetterte in tausend Splitter auf dem Boden. Conny eilte zu dem kreidebleichen Mann und legte ihm Handschellen an. „Na los, stehen Sie schon auf“, fuhr er ihn barsch an.



Zwei Wochen später war der heiße Sommer über Creek County hereingebrochen. Conny hatte träge die Füße auf seinem Schreibtisch liegen und versuchte eine Fliege zu erwischen, die ihm ständig um die Nase herum kitzelte.
„Wie wär´s mit waschen?“ rief ihm Jerry amüsiert zu, die ihn eine Weile beobachtet hatte.
„Wieso, ist schon wieder Weihnachten?“ scherzte Conny und hievte schwungvoll seine Füße vom Tisch.
„Hast du schon was aus dem Krankenhaus gehört?“ fragte er seine Kollegin.
„Marianne Simmons hat die Schusswunde in der linken Schulter gut verwunden. Allerdings wurde bei einem psychologischen Gutachten festgestellt, dass bei ihr dieselbe Geisteskrankheit im Anfangsstadium ausgebrochen ist, die schon bei Helen Lombard diagnostiziert worden war, und – jetzt halt dich fest“, fuhr Jerry fort, „die auch die Todesursache von Marianne Simmons Mutter war. Ich hab ein bisschen recherchiert“, endete sie und biss schwungvoll in einen Donut, den sie von Connys Schreibtisch stibitzt hatte.
Conny schüttelte ungläubig den Kopf. „Tolles Erbgut“, kommentierte er ironisch. „Dann wird sie den Rest ihres Lebens in der Geschlossenen verbringen“, mutmaßte er über ihre Bestrafung.
„Und Parker?“ fragte er und hob neugierig den Kopf.
„Ich glaub, die muss sich bald selbst in ein Sanatorium einweisen“, erwiderte Jerry kichernd und wischte sich einige Zuckerkrümeln vom Kinn. „Die Wunde am Hals ist kaum noch zu sehen. Aber ansonsten scheint sie ziemlich angeschlagen zu sein. Redet nur wirres Zeug vor sich hin. Dass sie ein verkanntes Genie sei und so…“
„Ich hab dir immer gesagt, diese Seelenklempner gehören selbst in Behandlung“, flachste Conny. „Vorhin hab ich übrigens gehört, dass das Verfahren gegen Groming morgen eröffnet wird“, teilte er seiner Kollegin mit, die unwillkürlich aufhorchte und ein ernstes Gesicht machte.
„Ich hoffe, dass sie ihm eine ordentliche Strafe aufbrummen“, meinte sie mit unterdrückter Wut. „Er ist der eigentliche Brandstifter der ganzen Geschichte. Diese verdammte Gier nach Ruhm und Geld hat den Mann sogar über Leichen gehen lassen…“
„Ach, übrigens“, rief Conny, „vorhin habe ich einen Anruf bekommen. Delaney hat wenige Stunden nach seiner Entlassung die Stadt verlassen. Ich wette, der wird erst mal ziemlich enthaltsam leben, was Frauen betrifft!“
Jerry nickte lächelnd. „Was Geld betrifft auch“, fügte sie hinzu. „Er muss wieder ganz unten anfangen.“
„Wo wir gerade beim Thema Geld sind“, hakte Conny nach und streckte seiner Kollegin die Hand entgegen. „Kannst du mir zehn Dollar leihen?“
„Wofür?“ fragte Jerry zögernd.
„Äh…für den Besuch in einem türkischen Hamam“, erwiderte er grinsend.
Jerry lachte laut auf. „Ich brauch die zehn Dollar für die Kollekte“, sagte sie abwiegelnd, „ich muss gleich zur Beichte. Außerdem finde ich es ganz gut, dass du so streng riechst“, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu, „dann weiß ich jedenfalls immer, wo du bist!“
Gutgelaunt verließ sie das Revier und fuhr zu der Kirche, in der sie bereits getauft worden war. Aus dem gleißenden Licht des Sommertages trat sie in den dunklen kühlen Kirchenraum. Sie ging zum Beichtstuhl hinüber und setzte sich hinein.
„Vater ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte ist drei Wochen her“, begann sie mit demütiger Stimme.
„Erzähle mir von deinen Sünden, meine Tochter“, forderte die ihr wohlbekannte Stimme des Priesters.
Jerry sprach mit leiser schuldbewusster Stimme.
„Schon wieder erotische Gedanken an einen verheirateten Kollegen, Jeraldine?“ fragte der Priester in strafendem Ton. „Wieder derselbe Mann?“
Jerry schluckte kurz. „Nein, diesmal ein anderer“, gestand sie peinlich berührt.
Sie konnte hören wie ihr Beichtvater tief Luft einsog und auf seinem Stuhl zurechtrückte. „Also, Jeraldine“, begann er vorwurfsvoll, „ich beglückwünsche dich von Herzen zu deiner Beförderung zum Inspektor, aber ich finde, es wird allmählich Zeit, dass du dir einen unverheirateten Mann suchst, ihn heiratest und mit ihm deine Gedanken in die Tat umsetzt!“
„Wem sagen Sie das, Vater“, seufzte Jerry ergeben. „Aber woher nehmen und nicht stehlen?“
„Ich bin dein Beichtvater, Jeraldine, kein Heiratsvermittler!“ hörte sie von der anderen Seite. „Ego te absolvo, in Nomini Padri, et Figli, et Spiritu Sankti – Amen!“







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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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