Joachim Güntzel

Blick zurück

 



Es ist schwer, das letzte Glied in einer Kette von Zufälligkeiten zu sein. Alles bisher Geschehene, jene bis hinter die grauen Schleier der Vorzeit zurück reichende Verquickung von schier unglaublichen Ursachen und Wirkungen, alles Hoffen und Zweifeln, Glauben und Leugnen, Lieben und Hassen, Heldentum und Verrat - all dies schrumpft in einem einzigen Moment zu einer bedeutungslosen Nichtigkeit zusammen: Dem Moment der Unterwerfung unter die  uneingeschränkte Herrschaft des Zufalls. Für den jungen Mann, der dicht an der kleinen Mauer stand, war solche Tyrannenherrschaft der Sinnlosigkeit unerträglich geworden. Dabei war er ein Gläubiger, vielmehr, er war es bis zu diesem Tag gewesen, dem Tag, an dem er bereit war, den Kampf gegen die Allmacht der Willkür aufzugeben. Für Ettore Pons gab es im Grunde nur zwei Arten von Menschen auf dieser Erde: Solche, die an Bedeutungen glaubten und solche, für die alles Geschehen auf Erden nur eines war: Eben dieses Geschehen, sonst nichts – kein Sinn, der sich in all dem offenbarte, keine höhere Weisheit, die das Kommen und Gehen der Dinge lenkte. Ettore hatte sich immer zur ersten Kategorie von Menschen gezählt. Doch heute, an diesem herbstlichen Sonnentag im kleinen Garten unterhalb des Vorhofs der Prager Burg, war er dabei, die Seite zu wechseln. Heute war er soweit, die Waffen zu strecken, sich zu ergeben, die Kapitulationsurkunde zu unterschreiben. Mit einer Hand auf die Außenmauer gestützt, mit den Dächern und Türmen der nahen Stadt vor Augen,  die Fahnen und Parks der Botschaften, die sich an den Burgberg schmiegen, im Blick und weiter unten die Moldau mit ihren Brücken und ihrem selbstvergessenen, traumtrunkenen Müßiggang – an diesem Tag wurde es dem jungen Mann unerträglich, die letzte Zufälligkeit in einer unendlichen Kette von Belanglosigkeiten zu sein. Als Ettore Pons sich auf die nahe Bank setzte, war er entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch es kam nicht dazu.

 

„Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?“
Ettore verspürte kein Bedürfnis nach Gesellschaft. Etwas irritiert blickte er den freundlichen älteren Herrn, die mit fragendem Blick vor ihm stand, an.

 

„Wollen Sie eine ehrliche Antwort oder eine höfliche?“ fragte er.

 

„Eine höfliche, bitte.“

 

„Ja.“

 

„Was wäre denn die ehrliche Antwort gewesen?“

 

„Es kotzt mich an.“

 

„Das ist gut.“

 

„Was – dass es mich kotzt an?“

 

„Nein, dass Sie ehrlich sind. Ich mag ehrliche Menschen. Ich brauche einen ehrlichen Menschen.“

 

„Wozu denn?“

 

„Um mir die Wahrheit zu sagen.“
Der alte Mann lächelte immer noch freundlich. Ettores Irritation und zwischenzeitliche Aggressivität war verflogen und einem ihn selbst überraschenden Interesse an dem eigenartigen Mann gewichen.

 

„Ja schon, aber worüber?“

 

 

„Was man tun soll, wenn man noch ein Jahr zu leben hat.“

 

„Setzen Sie sich doch“, sagte Ettore.

 

 

 

Etwas später saßen beide Männer in einem Café. Ettore schätzte das Alter des Mannes – er hatte sich ihm als Johan Rélpek vorgestellt – auf etwa Mitte siebzig.

 

„Sagen Sie, studieren Sie hier in Prag?“ fragte Rélpek.

 

„Ich habe hier ein Semester Philosophie studiert. Mein Spezialgebiet ist Kant.“

 

„Ein schwerer Philosoph.“

 

Rélpek trank einen bedächtigen Schluck von seinem Latte Macchiato. Seine Frage nach einem gewöhnlichen Kaffee hatte die Bedienung mit einem unverständigen Blick und einer Auflistung eines knappen Dutzends Kaffespezialitäten beantwortet.

 

„Ein sehr deutscher Philosoph“, ergänzte Ettore.

 

„Sie sind Franzose, oder?“

 

„Nein, zur Hälfte Italiener. Meine Mutter war Italienerin, mein Vater ist Deutscher. Woran haben Sie gemerkt, dass ich keine hundertprozentiger Deutscher bin?“

 

„Sie haben gesagt: Dass es mich kotzt an.“

 

„Oh. Wie hätte es richtig heißen müssen?

 

„Dass es mich ankotzt.“

 

„Also gut: Es mich ankotzt.“

 

Der alte Mann lächelte.  

 

„Ihre Mutter lebt nicht mehr?“ fragte Rélpek nach einer Weile.

 

„Sie starb, als ich vier war.“

 

Nun nippte auch Ettore an seiner Tasse.

 

„Ich wurde in Prag geboren. Nach dem Tod meiner Mutter ging mein Vater, der einige Jahre hier gearbeitet hatte, zurück nach Deutschland. Ich bin also zweisprachig aufgewachsen, aber manche sprachlichen Ungereimtheiten werde ich einfach nicht los. Aber erzählen Sie mir doch etwas von sich. Wieso haben Sie nur noch ein Jahr zu leben?“

 

„Das weiß ich selber nicht so recht. Die Ärzte wollen mir nichts sagen, nicht einmal, welche Krankheit ich habe.“

 

„Aber wie können Sie dann so sicher sein, dass Sie bald sterben werden?“

 

„Ich weiß es einfach. Ich spüre es.“

 

„Vielleicht ist Ihre Krankheit ja gar nicht so schlimm, wer weiß. Wenn die Ärzte Ihnen nichts über eine Krankheit sagen, möglicherweise haben Sie dann gar keine, sind kerngesund und werden noch viele lange Jahre leben?“

 

Rélpek blickte versonnen aus dem Fenster.

 

„Meinen Sie, dass das möglich ist?“ sagte er leise, mehr zu sich selbst.

 

„Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen, etwas, das Ihren Entschluss ändern würde.“

 

„Welchen Entschluss meinen Sie?“ fragte Ettore, doch er verstand genau.

 

„Den Entschluss, den Sie dort oben gefasst hatten“, Rélpek deutete durchs Fenster in Richtung der Burg, die gut zu sehen war. „Es war kein guter Entschluss. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich morgen am frühen Abend besuchen würden.“

 

Ettore dachte kurz nach, dann antwortete er:

 

„Gut, und wo wohnen Sie?“

 

„Kommen Sie zum Mihalka-Turm.“  

 

Natürlich kannte Ettore die Geschichte des Mihalka-Turms an den Außenmauern der Prager Burg. Er kannte all die Legenden über Alchemisten, die zur Zeit des als verrückt gelten Habsburger Kaisers Rudolf II. den Turm bevölkerten und versuchten, nachts, vor den Augen der Prager Bürger verborgen, doch mit Wissen des Kaisers, den Stein der Weisen zu finden und Blei in Gold zu verwandeln. Im Prag seiner Kindheit hatte man dies noch totgeschwiegen, zumindest hatte man es versucht Zu gerne sah sich die Stadt damals als modern, der Zukunft zugewandt. Zu sehr glaubte man noch, eine als mystifiziert und irrational empfundene Vergangenheit des ehemaligen Schmelztiegels tschechischer, deutscher und jüdischer Kultur von sich abwaschen zu müssen wie den Schweiß vom Körper nach einem Eishockeyspiel. Trotzdem hatte er sich schon damals für diese Vergangenheit, für die „Prager Seele“, wie er es nannte, interessiert. Doch er konnte sich nicht vorstellen, dass es heute noch Menschen gab, die in diesem Turm lebten. Er war gespannt auf das Treffen mit dem alten Mann, und es wurde ihm bewusst, dass sie keine bestimmte Zeit dafür vereinbart hatten.

 

Gegen neunzehn Uhr traf er mit der Straßenbahn an der Haltestelle vor dem Hradschin ein. Er stieg aus, überquerte die Straße und ging in Richtung des Eingangs zur Burg. Linker Hand sah er den Mihalka-Turm, abweisend und fast unauffällig. Er wäre sicher keine besondere Erwähnung in einem Reiseführer wert gewesen, wäre da nicht seine geheimnisumwitterte Vergangenheit. Den alten Mann konnte er nirgends sehen. Etwas eine Stunde schlenderte er umher, betrachtete die Touristenströme, die sich in den Vorhof der Burg hinein- und wieder hinausschoben und hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben, als sich eine Hand auf seine linke Schulter legte und eine Stimme sagte:

 

„Es freut mich, dass Sie gekommen sind.“

 

Er drehte sich um und sah in das Gesicht von Johan Rélpek.

 

„Haben Sie daran gezweifelt?“

 

Ohne ihm zu antworten, ging der alte Mann voraus in Richtung des Turms.  

 

Auf Wegen, die er später nur ungenau wiedergeben konnte, und durch Türen, die seit Jahrhunderten hätten verschlossen sein müssen, fand sich Ettore Pons schließlich im Inneren des Turms wieder. Er stand in einem kleinen Raum, der nur ein Fenster hatte, vor dem ein eigenartig aussehendes Gerät stand. Es war, so stellte er bald fest, ein ungewöhnlich geformtes Teleskop. Das lange Rohr mit den Linsen war kaum noch als solches zu erkennen, denn es war von einer Vielzahl an Hebeln, Zahnrädern und anderen Vorrichtungen umgeben.

 

„Was wollen wir hier?“ fragte er den alten Mann. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden, und in dem Raum brannte nur spärliches Kerzenlicht.

 

Wieder gab Rélpek keine direkte Antwort auf Ettores Frage, sondern ging zu dem Teleskop.

 

„Möchten Sie nicht einen Blick hindurch werfen und mir sagen, was sie sehen?“

 

Ettore wusste zwar nicht recht, welchem Zweck das dienen sollte, aber andererseits hätte er das noch vor kurzem auch für sein ganzes bisheriges Leben nicht sagen können, also riskierte er nichts. Er blickte durch das Fernrohr und sah, wie nicht anders zu erwarten, Sterne.

 

„Ich kenne mich mit Sternbildern nicht aus“, meinte er und sah den alten Mann fragend an.

 

„Sie sehen keine Sterne“, sagte Rélpek. „Sie sehen Licht, das vor hunderttausenden, ja Millionen Jahren von diesen Sternen ausgesendet wurde. Sie sehen in die Vergangenheit.“

 

„So habe ich das noch nie betrachtet“, sagte Ettore, obwohl ihm diese Tatsache aus rein physikalischer Sicht klar gewesen war. Er wollte nochmals durch das Teleskop sehen.

 

„Warten Sie“, meinte der alte Mann und ging zu einem kleinen Wandregal, auf dem sich einige verstaubte schwarze Schachteln befanden. Wie lange hatten sie wohl unberührt hier gelegen? Johan Rélpek öffnete eine der Schachteln, entnahm etwas, das Ettore nicht erkennen konnte, und machte sich am Teleskop zu schaffen.

 

„Jetzt, bitte“, sagte er nach kurzer Zeit.

 

Ettore blickte durch und sah nun Sterne, die ihm vorher nicht aufgefallen waren, und einige Sterne, die er wieder erkannte, viel größer.

 

„Eigenartig, nicht wahr? Sie sehen nicht nur größere Sterne, sie sehen auch völlig andere als vorhin. Und was noch eigenartiger ist: Die Sterne, die sie nun erstmals sehen, haben ihr Licht früher ausgesendet als die Sterne, die sie nun größer als vorhin sehen. Sie sehen nicht nur eine Vergangenheit, sie sehen viele verschiedene Vergangenheiten, die nie zur selben Zeit existiert haben – außer jetzt, in diesem Moment auf Ihrer Netzhaut und in Ihrem Gehirn.“  

 

Ettore schwieg nachdenklich. Unvermittelt stellte der alte Mann eine Frage:

 

„Warum wollten Sie ihr Leben beenden?“

 

Ettore fühlte sich unbehaglich, er versuchte, eine Antwort zu finden. Durfte der alte Mann ihm solche Fragen stellen?

 

„Ich sah keinen Sinn mehr in meinem Leben. Sie können das vielleicht nicht verstehen, Sie haben ein langes Leben und haben sicher viele Dinge getan, die Ihrem Leben einen Sinn geben. Aber ich…“

 

„Ihrem Leben fehlt ein solcher Sinn?“ Ettore sah den Mann an.

 

„Wo soll ich denn einen Sinn finden? Sehen Sie sich die Welt da draußen doch mal an!“

 

„Ach, und Sie meinen, um diesen Sinn zu finden, müsste die Welt da draußen ein bestimmtes Aussehen haben?“

 

Ettore begann langsam, ungehalten zu werden.

 

„Nein, was ich meine ist… vergessen wir es einfach, ja?“

 

„Bitte, kommen Sie her“, sagte der alte Mann und deutete auf das Teleskop. Er ging erneut zum Wandregal, nahm eine Schachtel heraus und öffnete sie. Der Gegenstand, den er ihr entnahm, sah im Gegensatz zu dem anderen neu und völlig unbenutzt aus.

 

„Was ist das?“ fragte Ettore.

 

„Sie werden gleich sehen“, antwortete Johan Rélpek. „Sie werden es gleich sehen“. Das Warten missfiel dem jungen Mann, doch konnte er sich der Faszination des Astronomen – denn um einen solchen musste es sich bei dem seltsamen Mann zweifellos handeln – nicht entziehen.

 

„Was Sie nun sehen, ist nur ganz wenigen Menschen zu sehen vergönnt“, begann der alte Mann, während er wieder an seinem Teleskop schraubte. „Deshalb werde ich Ihnen zunächst einigen Fragen stellen, deren Beantwortung Sie auf das vorbereiten soll, was sich gleich Ihren Augen offenbaren wird.“

 

„Noch mehr winzig kleine Sterne?“ fragte Ettore zurück und begann darüber nachzudenken, wie viele derartige Vorführungen und belehrende Vorträge er wohl noch über sich ergehen lassen wollte.  

 

„Wie Sie sicher bemerkt haben, können wir mit Hilfe von Teleskopen in der Zeit zurückgehen. Was sehen Sie wohl, wenn Sie durch ein Teleskop mit noch höherer Auflösung als gerade eben durchsehen?“ fragte Johan Rélpek.

 

„Ich sehe mehr Sterne.“

 

„Ja, aber ich meine: Was ist mit der Zeit?“

 

„Nun ja, die neuen Sterne, die ich nun sehe, sind viel weiter weg, also ist ihr Licht länger unterwegs und folglich liegt das, was ich sehe, weiter in der Vergangenheit.“

 

„Sehr gut“, sagte Rélpek zufrieden und lehnte sich auf dem Stuhl, auf dem er mittlerweile saß, zurück. „Und bei noch größerer Auflösung?“

 

„Na ja, dann blicke ich eben noch weiter in die Vergangenheit zurück.“

 

„Genau, ja, genau…“ Der alte Mann lächelte zufrieden.

 

„Doch nun, mein junger Freund, sagen Sie mir: Gibt es eine Grenze für dieses Zurückgehen in der Zeit? Können wir das endlos so weitermachen oder stoßen wir irgendwann an einen Punkt, hinter den wir nicht mehr blicken können?“

 

„Das hängt wohl davon ab, ob es einen absoluten Anfang gab, einen Beginn, an dem das Universum zu existieren begann. Die Astronomen gehen doch von einem Urknall aus, oder? Das heißt, wir müssten dann den…“

 

Ettore schwieg. Er hatte vor einigen Tagen über eine astronomische Entdeckung gelesen, die als sensationell galt. Es waren Aufnahmen der Geburt von Sternen wenige Millionen Jahre nach dem Urknall. Im Vergleich zum geschätzten Alter des Universums war dies nur ein Augenblick.

 

„Sie meinen also, wir könnten den Urknall sehen“, ergänzte Rélpek.  „Denken Sie, wir würden diesen Anblick überleben, diese unbeschreibliche, absolut … unfassbare Gewalt?“

 

„Vielleicht, vielleicht auch nicht … ich weiß nicht. Sagen Sie es mir!“ Ettore begann ungeduldig zu werden.

 

„Kommen Sie her und sehen Sie durch das Teleskop.“  

 

Ettore stand auf und schaute in Richtung des Teleskops. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen, die Worte des alten Mannes hatten offenbar eine lähmende Wirkung auf ihn.  Oder lag es daran, dass sein Unterbewusstsein ihn davor warnte, durch das Teleskop zu blicken? Noch zwei Schritte… noch einer… Ettore Pons stand vor dem Teleskop. Durch ein kleines Fenster konnte er nach draußen sehen. Es war mittlerweile dunkel geworden, und alles was er erkennen konnte, war die erleuchtete Spitze des Veitsdoms, der jetzt, gerade in diesem Moment, unzähligen Besuchern Prags auf der Karlsbrücke, an den Ufern der Moldau oder beim Blick aus den Fenstern des Café Slavia wie eine auf dem Haupte Prags ruhende Krone erscheinen mochte.

 

„Sehen Sie durch das Teleskop“, sagte der Astronom noch einmal.

 

Der junge Mann wusste nicht recht, was er erwartet hatte, ob er überhaupt etwas erwartet hatte. Er glaubte ein leicht bläulich schimmerndes, fluktuierendes, wie Plasma erscheinendes Etwas zu erkennen, von dem er nicht sagen konnte, ob es fest, flüssig oder gasförmig war.

 

„Das ist der Urknall?“ fragte er ungläubig.

 

„Das ist das, wonach die Alchimisten auf der Prager Burg vor rund vierhundert Jahren wirklich gesucht haben.“

 

Ettore Pons verstand immer weniger. War es bei diesen Alchimisten nicht um die Herstellung von Gold aus Blei gegangen?

 

Johan Rélpek bemerkte den leeren Blick des jungen Mannes und erklärte ihm, dass es den Alchimisten des Mittelalters zwar angeblich um die Herstellung von Gold ging. Doch das sei nur ein Vorwand gewesen, um die Könige und Fürsten, auf deren finanzielle Unterstützung sie angewiesen waren, zufrieden zu stellen. Das eigentliche Motiv für ihr Forschen war ein anderes: Sie wollten nichts weniger als die geistige Ursubstanz aufspüren, die Quelle, aus der alles Existierende entsprang. Sie nannten es die Essenz oder das All. Dieser Essenz schrieben sie die Kraft zu, alles hervorzubringen, was Menschen wahrnahmen, genauso wie den Menschen und seine Wahrnehmung selbst. Sie glaubten nicht an die Trennung zwischen physischer und geistiger Ebene, vielmehr war alles war was existierte, nur existent in dieser geistigen Urquelle, buchstäblich alles um uns herum war eine geistige Projektion dieser Quelle. Sie hatte immer existiert und würde in Ewigkeit existieren, ohne Anfang und Ende, nichts konnte außerhalb ihrer Grenzen sein, denn sie hatte keine Grenzen und nichts konnte ohne sie sein, denn ohne sie gab es nichts, wo etwas hätte sein können. Auch der menschliche Geist entsprang dieser Quelle und stand in Verbindung mit ihr, ein schwaches Abbild ihrer Schöpferkraft und doch stark genug, um seine Herkunft erkennen zu können und selbst mit Schöpferkraft versehen. Sie lehnten die Vorstellung ab, dass das menschliche Gehirn eine physische Konstruktion sei, die das Bewusstsein erzeugte. Für sie war es genau umgekehrt: Das Gehirn war eine komplexe Architektur, eine gigantische Empfangsantenne, geschaffen einzig zu dem Zweck, Geist aus dieser Essenz schöpfen zu können. Geist, der immer und überall gegenwärtig war, denn immer und überall existierte alles nur in diesem Geist. Und doch verbarg sich diese Quelle vor dem Zugriff des Menschen, ihre Existenz ließ sich weder beweisen noch widerlegen.

 

„Ist diese Urquelle… Gott?“ fragte Ettore.

 

„Viele Menschen würden sie so nennen. Andere würden, wenn sie von ihrer Existenz wüssten, ihr einen wissenschaftlichen Namen geben und versuchen, ihre Eigenschaften zu erforschen und zu katalogisieren. Doch sie würden letztlich scheitern, so wie die Alchimisten gescheitert sind.“

 

„Warum?“

 

„Weil die wirklich wichtigen Dinge sich aufzulösen beginnen, sobald der Mensch anfängt, über sie zu reden, sie in Worte zu zwingen. Es ist, als würde er sie dadurch aus seinem Kopf zu drängen und in die Welt werfen, wo sie dann welken wie eine Blume, die abgeschnitten wird. Sie sind ihrer spirituellen Quelle entrissen.“  

 

Der junge Mann war sehr schweigsam geworden. Er blickte noch mal durch das Teleskop und betrachtete das bläuliche Schimmern. Dann sagte er:

 

„Aber es wäre doch wichtig, wenn man die Existenz Gottes beweisen könnte.“

 

„Fragen Sie sich nicht manchmal, was es bedeutet, dass man die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen kann?“

 

„Vielleicht bedeutet es, dass es keinen Gott gibt oder dass wir immer im Unklaren darüber bleiben werden.“

 

„Gehen wir doch für den Moment von der Annahme aus, er würde existieren. Wofür spricht es dann, dass wir dann seine Existenz nicht beweisen können?“

 

„Ich weiß nicht… vielleicht wissen wir einfach noch nicht genug.“

 

„Es spricht für eine Absicht, die dahinter steht. Und das könnte einzig seine Absicht sein. Denn wenn es nur ein Ausdruck mangelnden Wissens wäre oder purer Zufall, dann würde dieser Zustand nicht von Dauer sein. Früher oder später würden wir Gottes Existenz beweisen. Gut. Nehmen wir nun das Gegenteil an, dass Gott also nicht existiert. Wofür spricht es, dass wir seine Nichtexistenz ebenfalls nicht beweisen können?“

 

Ettore überlegte.

 

„Nun ja… in diesem Fall kann es ja nicht seine Absicht sein… Es wird wohl daran liegen, dass wir noch nicht alles wissen. Oder es ist einfach… Zufall.“

 

Da war er wieder, der Tyrann des Ettore Pons, der Sinnzerstörer Zufall.

 

„Aber die Zeit vergeht, wir wissen jeden Tag mehr, und der Zufall wirkt nie nur in eine Richtung. Früher oder später hätten wir den endgültigen Beweise für Gottes Nichtexistenz gefunden.“

 

Der junge Mann kam sich vor wie in einem philosophischen Seminar.

 

„Fassen wir also zusammen“, fuhr Johan Rélpek fort und lächelte nachsichtig. „Aller wissenschaftliche und technische Fortschritt, alle philosophische und theologische Scharfsinnigkeit hat uns nicht in die Lage versetzt, die Frage nach der Existenz Gottes endgültig zu beantworten. Doch jeder weitere Tag, an dem wir seine Existenz weder beweisen noch widerlegen können, bedeutet keinen Gleichstand der Argumente, kein Unentschieden.“

 

Rélpek erhob sich etwas mühsam aus seinem Stuhl und begann, im kleinen Zimmer des Mihalka-Turms umherzugehen. Er schien nun völlig in sich gekehrt, als hätte er die Anwesenheit des jungen Mannes vergessen.

 

„Dieses scheinbare Patt ist kein Gleichgewicht, sondern neigt die Waagschale ein wenig in eine Richtung. Es macht auf mich den Eindruck eines genialen Arrangements, in dem es tunlichst vermieden wird, einen Beweis zu geben für das, worum es geht. Nein, das wäre zu einfach. Wenn wir bedenken, dass dieses Patt andauert, seit Menschen denken und die Frage nach Gott, nach ihrer eigenen Herkunft und nach dem Sinn all dessen stellen… dann gibt uns das einen Hinweis, einen Hinweis, wie er eindeutiger nicht sein könnte. Ein `Beweis´ wäre doch nur von vorübergehender und eher zweifelhafter Wirkung. Denn Menschen zweifeln alles an, egal wie schlagend ein Beweis sein mag. Doch dieses… Arrangement lässt uns die Freiheit einer persönlichen Entscheidung und richtet zugleich die Frage an uns, wer wir sind.“

 

Der alte Astronom war sich offenbar der Gegenwart von Ettore Pons wieder bewusst geworden, denn er blickte ihn jetzt direkt an.

 

„Es kann alles einen Sinn ergeben, mein Freund.“  

 

Ettore wollte noch einen letzten Blick durch das Teleskop werfen, tat es dann aber doch nicht. Was würde er dabei sehen? Die bläulich schimmernde Urquelle, die geistige Essenz alles Existierenden oder nur eine unendlich weit entfernte Gaswolke, für die Wissenschaftler eines Tages eine andere Erklärung finden würden? Er war sich nicht so sicher wie Johan Rélpek, aber er musste sich eingestehen, dass die Worte des Astronomen in nicht unberührt ließen. Er würde nachdenken müssen über die Worte des seltsamen Astronomen im Mihalka-Turm neben der Prager Burg.

 

Es war sehr spät geworden. Ettore sagte, dass er gehen wolle und hoffe, dass sie beide sich irgendwann wieder sehen würden.

 

„Und noch etwas“, fuhr er fort.

 

„Ich danke Ihnen, dass Sie… na ja, Sie wissen schon. Ich war dabei, eine Dummheit zu begehen, und Sie haben mich daran gehindert. Ich werde nicht mehr… also ich meine…“

 

„Schon gut“, sagte Rélpek. „Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort, das ist alles.“ Er lächelte den jungen Mann an.

 

„Das ist sehr viel“, sagte Ettore.  

 

Fast wollte er schon gehen, das fiel ihm etwas ein, das er beinahe vergessen hatte.

 

„Woher wissen Sie eigentlich, dass Sie nur noch ein Jahr zu leben haben? Sie sagten doch, die Ärzte hätten nichts feststellen können. Vielleicht haben Sie also noch viele Jahre vor sich.“

 

Johan Rélpek warf Ettore Pons einen undeutbaren Blick zu. Dann schaute er lange das Teleskop an, das noch am kleinen Fenster des Turms stand, und wandte sich dann wieder dem jungen Mann zu. Er lächelte.

 

„Vielleicht“, sagte er. „Vielleicht.“  

 

Hatte der alte Mann durch das Teleskop etwa mehr gesehen als nur die schimmernde Substanz? Hatte er… alles gesehen? Ettore wollte darauf wohl keine Antwort.

 

„Es tut mir Leid, das ich Ihnen nicht sagen kann, was Sie in dem Jahr, das Ihnen Ihrer Überzeugung nach noch bleibt, tun sollen“, sagte er.

 

„Ich glaube“ sagte Rélpek, „das habe ich schon heute getan.“

 

Ettore reicht ihm die Hand und sagte:

 

„Ja, das glaube ich auch.“ 

(c) Joachim Güntzel 

AKTUELL: Die Geschichte wurde in meinem soeben erschienenen Buch "Der Gefühlstütenwanderer. Dreizehn Geschichten am Limit" abgedruckt (bookmundo 2018, Hardcover), ISBN 9789463673181.
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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