Florence Siwak

Google-Leben



Der Gedanke daran, dass sie in 12 Stunden wieder einem neuen Montag ins Gesicht sehen musste, trieb ihr schon bei der abendlichen Nachrichten-sendung Schauer über den Rücken.
 
Wieder mal mit dem Rücken zur Wand stehen; außen vor statt mitten drin.
 
Kontakte, Erlebnisse jeder Art wurden genüsslich von allen Seiten betrachtet – gerade an den verhassten Montagen.
Die vier anderen Tage waren ja zu ertragen, aber diese Tage...inmitten von Menschen, die ein Leben hatten – ein richtiges Leben....!
 
Es gab mal Zeiten, da wurde sie noch in ein Gespräch gezogen. Nachdem sie aber nichts Besseres zu bieten hatte als einsilbige Antworten, Berichte von einsamen Spaziergängen, Tatort-Besichtigungen in den diversen dritten Programmen; ein Leben aus zweiter oder dritter Hand also, wurde sie in Ruhe gelassen; höflich, aber gleichgültig.

Sie wusste zwar durch ausdauerndes Zappen, dass Kaugummi durch Kälteeinwirkung entfernt werden konnte und dass Nofretete wahrscheinlich eine Augenkrankheit hatte, aber irgendwie fand dieses Wissen nie den Weg zu den potenziellen Zuhörern und so versank sie immer mehr in dieser Ruhe, wurde immer gelähmter.
Es begann jetzt schon am Sonntagmorgen  – diese Angst vor mitleidigen oder hämischen Blicken, dieses flaue Gefühl in der Magengegend.

Heute aber raffte sie sich auf – nach dem Tatortabspann. Sie musste noch mal raus; nur um die Häuser. Einfach so, sich müde laufen, schlafen würde sie doch nicht können; konnte sie nie am Sonntagabend.

So ging sie in Richtung Theater. Es musste kurz nach 10 sein; Besucher strömten aus den Türen, fröhliche Menschen, erregte Menschen.
 
Kopf zwischen die Schultern – und vorbei – dachte sie. Jedoch, gerade als sie um die Ecke biegen wollte, traf sie eine messerscharfe, klare Stimme.
„Hallo, Frau Gorenflo, hallo“.
Sie blickte sich verunsichert um.
Das hatte ihr noch gefehlt – Frau Heitmeyer aus dem Parterre, am Arm eines jungen Mannes.
Sie schlurfte zurück und murmelte einen leisen Gruß, wurde von der eleganten alten Dame aber energisch am Arm gepackt.
„Gut, dass ich Sie treffe, dann muss mich Marco nicht nach Hause begleiten.
Sie kennen doch Marco?“

Natürlich kannte sie Marco nicht. Woher auch.

„Mein Neffe aus Kaiserslautern; hat mich besucht. Seinen Koffer hat er schon im Auto. Er will heute Abend noch zurück – verrückt, was?“

Der verrückte Neffe trampelte von einem Fuß auf den anderen. Peinlich!
„Lass doch, ich...“
„Papperlapapp. Sie wollen doch wohl nach Hause?!“
Wollte sie zwar nicht, aber der Ton sagte ihr, sie sollte!
„Natürlich begleite ich Sie, gerne sogar.“

„Hier halten Sie mal!“
Die alte Dame reichte ihr ein paar Kleinigkeiten, die sie aus Marcos Manteltasche gezupft hatte. Taschentuch, Eintrittskarte, eine Tüte Bonbons.

„Haben Sie auch einen Vornamen, Frau Gorenflo?“
Marco schien ihr wirklich dankbar zu sein; hätte er sich sonst nach ihrem Namen erkundigt?
„Natürlich....Angelika“.
„Schön, vielen Dank, Angelika. Sie haben mich gerettet...“
Die letzte Bemerkung flüsterte er ihr ins Ohr, während seine Tante ungeduldig an seinem Mantel zupfte.

‚O, mein Gott!’
Hinter ihm erspähte Angelika Karin und Petra, die schlimmsten Klatschmäuler, die je einen Bürostuhl in ihrer Nähe gedrückt hatten. Die zwei saugten die Szene mit offenem Mund in sich auf.
Nun presste der junge Mann auch noch seine warmen Lippen auf ihre eiskalte Wange und schob sie dann seiner Tante in die Arme.

„Ich gehe schon mal zum Wagen. Bis dann!“
Er winkte und verschwand, während sich Angelika mit ihrer Nachbarin auf den Heimweg machte.

Sie grüßte ihre Kolleginnen im Vorbeigehen mit einem entschuldigenden Schulterzucken und eine halbe Stunde später begann für sie die Nacht vor dem Montag, dem erbarmungslosen!

Die Teeküche. Der Vorhof zur Hölle.
Am liebsten kam sie sehr früh – als Erste. Oder spät, so kurz vor 9, um sich nur schnell einen Pulverkaffee aufzubrühen.
Heute jedoch stürzte sie noch mit Mantel und Stiefeln herein: sie hatte verschlafen. Zum ersten mal!

„Hier – ich habe gerade Kaffee gemacht; trink doch einen mit.“
Petra -  d i e  Petra bot ihr einen Kaffee an.
Fassungslos bedankte sie sich mit hochrotem Kopf.

„Tolle Vorstellung gestern, was?“
Angelika murmelte ihre Zustimmung in die Kaffeetasse.
„Toller Junge auch – Dein Freund?“

Nie hatten sie sich geduzt – Angelika schrumpfte in sich zusammen; der vertraute Schmerz breitete sich wieder aus.

„Bekannter, nur ein Bekannter.“
Stimmte ja auch, aber irgendwie klangen diese Worte wie Freund, Liebhaber.
Warum auch nicht? Sie würde ihn nie wieder sehen. Schließlich hatte sie ihm die Tante abgenommen; jetzt war er dran mit einem Gefallen.

In ihrem Büro sah sie auf die Eintrittskarte, die sie noch in der Manteltasche trug – Frau Heitmeyers Vermächtnis.
„Macbeth – meine Güte.“ Ihr Lieblingsstück. Eine erfolgreiche Frau, die bekam, was sie wollte – und am Ende das, was sie verdiente.

Schnell googlete sie die Darsteller, die Kritik und war nach drei Minuten bestens informiert – für alle Fälle.

Mittags setzte sie sich im Café an einen Tisch mit dem Gesicht zur Wand – wie üblich, blieb aber diesmal nicht lange allein.
Petra, Karin und Robert, ein Kollege aus der Buchhaltung, setzten sich zu ihr.
Robert war es sichtlich unangenehm. Verlegen murmelte er eine Entschuldi-gung, die seine Begleiterinnen aber resolut vom Tisch wischten.
„Ach was, wer sitzt schon gern allein?
Also – das Stück  – wir hatten ja Freikarten... Und Du, warst Du freiwillig da?“

Nach dieser Mittagspause war Angelika todmüde; eine Dreiviertelstunde Gespräche, 45 Minuten Menschen, die ihr zuhörten.  Wahnsinn.

Aber schöner Wahnsinn.
Warum konnte es nicht immer so sein?
‚Es könnte!’ dachte sie.

Es gab Theater, Kino, Ausstellungen, Ausflüge. Kostete alles Geld. Geld, das sie nicht entbehren konnte. Und überall gab es Menschen, viele Menschen. Menschen, die sie fürchtete, die sie nicht mochten.

Aber es ging so viel einfacher!

Jeden Morgen und spät am Abend – zu Hause oder im Büro - saß sie jetzt am Computer und wählte ihre „Erlebnisse“ aus.
Vorsichtig und mit Überlegung natürlich.
Der Sänger des Rigoletto zum Beispiel galt als sehr infektanfällig. Also rief sie kurz vor der Vorstellung an und erkundigte sich, ob er denn tatsächlich auftreten würde.

Nach dem abendlichen Fernsehprogramm spazierte sie mal zum Theater, mal zur Oper, schnappte hier und dort was auf, das sie in den nächsten Tagen ganz beiläufig und bescheiden ins Gespräch werfen konnte. Sie war ja zurückhaltend, drängte sich nicht auf.

Sicher – sie hätte auch die eine oder andere Vorstellung besuchen können, aber sie genoss es, in ihrer sauberen kleinen, weiß gestrichenen Wohnung mit den wenigen guten Möbeln zu sitzen und zu suchen, zu planen, sich den Genuss vorzustellen. Das war so schön und aufregend – wie ein Vorspiel dachte sie verschämt und verdrängte den Gedanken umgehend.

Sogar einen neuen Haarschnitt gönnte sie sich – als Aida auf ihrem Programm stand. Ihre Schultern strafften sich; sie wurde schlanker, ging aufrechter. Schließlich war sie mit Marco einem Fitness-Club beigetreten, wie sie beiläufig erwähnte. Und ihre Augen, diese farblosen, blinzelnden Fenster zur Seele, wirkten hinter der neuen leichten Brille frischer und größer.  Marco hatte die alte nicht mehr gefallen.

Robert hatte sie gestern stotternd und mit hochrotem Kopf eingeladen. Auf irgendein Frühlingsfest. Sie wäre vielleicht sogar mitgegangen; bei ihm fühlte sie sich nicht ganz so unvollkommen, aber die unsägliche Petra war dabei.

„Da hast Du keine Chance, Schätzchen, Du solltest mal ihren Freund sehen. Ein Sahneschnittchen....“
Sofort senkte Robert den Kopf und murmelte eine Entschuldigung.

Ihr Leben funktionierte plötzlich. Es funktionierte sogar großartig.

Bis sie auf einmal Marco kennen lernen wollten, ihren Marco!

„Bring ihn doch mal mit. Was treibt Ihr Euch immer so allein rum?
Er muss ja einen Haufen Kohle verdienen – Theater, Oper, Kino, Essen gehen. Was macht er denn so – beruflich?“

Welchen Beruf sollte sie ihm bloß geben?
Fürs Erste überhörte sie die Frage.

„Wir haben so wenig Zeit füreinander. Er ist ja meist unterwegs auf Tour...
Und wenn wir nicht ausgehen,  kochen wir uns was Schönes, machen es uns nett und...unterhalten uns...“

„Lieben uns – meinst Du wohl!“
Wie dreckig Petra lachen konnte. Angelika errötete vor Zorn. So einer war Marco nicht – wirklich nicht. Er war ein feiner Mensch.
Sie dachte an seinen einzigen zarten Kuss, diese leise Berührung.

„Aber mal werdet Ihr doch Zeit haben!“  Der Vorwurf konnte nicht mehr ignoriert werden. Es musste was geschehen!

„Marco ist krank!“
Das hatte sie letzten Montag betrübt gesagt. Nicht gerade zu Tode betrübt, aber immerhin besorgt. - Auf die Nuance kam es an.

Wie krank sollte sie ihn werden lassen?
Sehr krank? – Zu viel Mitleid! Also nicht reise- aber telefonierfähig.

Ab jetzt blieb sie pflichtschuldigst zu Hause – google-mäßig.

Das heißt, zweimal ging sie eher widerwillig mit Petra und Karin ins Kino und Kaffee trinken - in echt - aber immer leicht deprimiert, wie es sich gehörte für eine Frau, deren Freund krank und nicht bei ihr war.

Eines Abends dann, als sie übellaunig vor dem Fernseher saß – sie vermisste Marco und ihre gemeinsamen Unternehmungen ja so – kam der Anruf!

SEIN Anruf!

Es hatte einen Unfall gegeben. Er war glimpflich davon gekommen, aber seine Tante, die auf Besuch bei ihm war, hatte es schlimm erwischt. Sehr schlimm sogar. Schlimmer ging es gar nicht. Sie war ihren Verletzungen erlegen.
Ob sie – Angelika – nicht zur Beisetzung kommen wollte! Seine Tante wollte im Familiengrab beigesetzt werden und hätte sicher gewollt, dass sie – ihre liebe Nachbarin – ihr die letzte Ehre erweisen würde.
Er klang wirklich betroffen und Angelika weinte ein paar Tränen.

Armer Marco. Hoffentlich war er nicht entstellt. Aber das würde ihn nur interessanter machen.
Andererseits – das war die Lösung!

Sie nahm drei Tage Urlaub und als sie – ausgerechnet an einem Montag - zurück kehrte ins Büro, in leichte Halbtrauer gekleidet. weinte sie sich an den Schultern ihrer Kolleginnen die Seele aus dem Leibe. Und – die Tränen strömten wie von selbst!

„Er ist tot“ schluchzte sie wieder und wieder.
„Ein Unfall. Er war ja noch nicht wieder auf dem Posten, aber seine Tante, dieser Besen....Er sollte sie irgend wohin fahren und dabei ist es dann passiert...“

Wie sie sie hasste – die Frau Heitmeyer, diese herrische Person.

„O mein Gott, wein Dich nur aus“. .....„Das Leben geht doch weiter...“

Von allen Seiten kamen gute Ratschläge, Kräutertees, Cappuccinos und – „erst wenn Du willst, natürlich....“ – Einladungen.

Eine Woche gab sie sich – zur angemessenen Trauer, die ihr nicht schwer fiel. Sie hatte Marco wirklich sehr lieb gehabt.

Am nächsten Montag in der Frühe googlete sie ihr Sonntags-Erlebnis – einen dramatischen Film, nichts Leichtes natürlich – und alle bewunderten ihre tapfere Haltung.

‚So drei, vier Wochen noch!’ dachte sie.

Länger musste sie wirklich nicht warten. Sie waren ja schließlicht nicht verheiratet, nicht mal verlobt gewesen, sie und Marco, sondern eben nur gute Bekannte.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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