oder
über den Kollaps[1] des letzten Deutschen
Reiches
(Aus dem
Buch "Der Zug fährt ab“
www.literatur-viktor-prieb.de)
Aus den Männern der
dreihundertfünfzigtausend am Anfang des Krieges in die deutsche Besatzungszone
geratenen Volksdeutschen Russlands wurden in der zweiten Hälfte des Jahres 1944
neue Truppeneinheiten der Wehrmacht und auch einige Waffen-SS-Divisionen
formiert. In einer davon war der Vater mit seinen Kameraden. Sie mussten jetzt
in einem abgekürzten Schnellkurs die Kunst des Krieges üben und hatten damit
noch Glück gehabt, denn manche anderen waren gleich dran – zum Beispiel gegen
Amerikaner in Italien eingesetzt –, ohne mal schießen zu lernen
[2].
Ihre Ausbildung bedeutete so
viel wie fast ununterbrochen exerzieren, schießen, exerzieren, Sport üben und
weiter exerzieren. Ein dicker Feldwebel aus Bayern drillte
sie.
Eines Tages trieb er Vaters
nur mit Bajonetten bewaffnete Abteilung, auf dem Exerzierplatz im Kreise zu
laufen. Hin und wieder unterbrach er ihren Lauf mit dem Befehl „Hinlegen!“. Der
Befehl kam immer wieder dann, wenn die Soldaten eine große und schlammige Pfütze
überquerten.
Auf die inzwischen laut
gewordene Unzufriedenheit in den Männerreihen reagierte er mit grobem
Geschrei:
„Maul halten, ihr russischen
Schwarzmeerschweine!“
Vielleicht war er der
überlebte Verwundete aus dem russischen Walde, der damals, im ersten Weltkrieg,
durch den damaligen Zwischenfall mit dem
deutschen Artillerieoffizier der
russischen Armee etwas dazu gelernt und es in den falschen Hals gekriegt
hatte.
Den Vater interessierte es
aber nicht und er wusste nicht, was in ihn gefahren war. Vielleicht kamen in ihm
alle Beleidigungen, Erniedrigungen, Verfolgungen seines Lebens hoch, die er von
Fremden, von Feinden, von Roten, von Grünen, von Kommunisten und von vielen
anderen ertragen musste. Vielleicht hatte er sich zu sehr in den letzten Jahren
darauf eingelassen, dass er endlich aus dieser Sklaven- und Viehexistenz heraus
war, indem er sich mit seinen Landsleuten unter den ihnen Gleichen
befand.
Wie dem auch sei, er sah rot,
griff nach seinem Bajonett und attackierte mit dem furchterregenden, verzerrten
Gesicht und wildem Schrei diesen satten, blöden und aus unerklärlichen Gründen
übermäßig selbstgefälligen und überheblichen Dickwanst. Dieser stand plötzlich
hilflos und tatenlos wie gelähmt da und sah mit einem bis zu grau-gelb
verblassten Gesicht seinem Tod entgegen.
Sein Tod käme auch
unausweichlich, wenn Vaters Kameraden auch nur eine Sekunde gezögert hätten. Sie
zögerten aber nicht, wobei sie es nur Vaters wegen taten. Zwei seiner Kameraden
und Kumpels, ein Schmied aus Prischib und noch ein Riese aus Blumenort, die in
der Reihe neben dem Vater standen, warfen sich hinter ihm her und klammerten
sich fest an seinen Schultern.
Dessen unbemerkt schleppte er
sie noch ein paar Meter mit, bis sie ihn überwältigten und mit ihren Körpern zum
Boden pressten.
Der Vater lag mit dem Gesicht im Dreck und wurde gleich ruhig –
ihm wurde auf einmal alles so scheißegal. Der Feldwebel drehte sich abrupt um
und verschwand.
„Danke, Kameraden.“ – sagte
kurz der Vater aufstehend.
„Bedanke dich nicht zu früh.“
– erwiderten die Kameraden nachdenklich und traurig – „Vielleicht hätten wir
dich doch nicht aufhalten sollen – du bist ja nun sowieso erledigt, dieses
Schwein läge aber jetzt zu unserer aller Zufriedenheit hier geschlachtet, und du
wüsstest dann wenigstens, wofür du erschossen wirst.“
Der Vater verstand es genauso
wie seine Kameraden – in der Waffen-SS und besonders jetzt, wo der Krieg der
Niederlage entgegen eilte, den Vorgesetzten anzugreifen – dafür wird man im
besten Falle kurzerhand erschossen, ohne mal vor das Kriegsgericht gestellt zu
werden.
Aber gerade diese Schärfe der
Militärgesetze am Ende des Krieges rettete den Vater – es gab einen Befehl von
Hitler, alle Volksdeutschen aus dem Ausland, die vor kurzem in einem eifrigen
Einbürgerungsverfahren zu neuen Reichsdeutschen gemacht wurden, den
Alt-Reichsdeutschen gleich respektvoll zu behandeln.
Der Vater würde zweifelsohne
erschossen werden, aber neben ihm würde der gleich zu behandeln habende dicke
Bayer ebenfalls gleichbehandelt und erschossen werden. Er wusste das besser als
der Vater und meldete den Zwischenfall nicht bei seinen
Vorgesetzten.
So nah am Tod dran war der
Vater noch nie zuvor und nur noch selten danach. Der Dickwanst zog auch seine
Lehre daraus – wurde nicht mehr so überheblich und so selbstgefällig und zeigte
sogar etwas Respekt den „russischen“ Schwarzmeerschweinen gegenüber. Bald war es
aber mit dem Exerzieren sowieso vorbei – die Amerikaner drangen in Bayern ein
und für den Vater und seine Kameraden war die Zeit gekommen, fürs Heimatland
desselben bayrischen fetten Schweines zu kämpfen und zu
sterben.
*
Angefangen im Süden, gegen
Amerikaner eingesetzt, kämpfte Vaters Einheit unter vielen anderen restlichen
Wehrmachteinheiten in einem immer schmaler und schmaler werdenden Korridor
zwischen zwei vom Osten und vom Westen zusammenrückenden Fronten – in der
Mäusefalle, die vom Tausendjährigen Dritten Deutschen Reich zu der Zeit – nach
zwölf Jahren seiner Existenz – noch übrig blieb.
Einige ihrer Einsatzorte waren: Steinkirche (ca. 50 km nordöstlich von München), Landau (ca. 100 km nordöstlich von München), Lichtenau und Waldeck (dicht
nebeneinander zwischen Erfurt und Gera), Ortmannsdorf (neben Zwikau), Brettin (zwischen Magdeburg und Potsdam) , Löwenberg (50 km nördlich von Berlin) und Goldberg (50 km östlich von Schwerin).
Also, immer weiter nach
Norden verdrängt, mussten sie nun gegen Russen kämpfen, angefangen bei Brettin,
wo sich der russische Belagerungsring um Berlin herum
schloss.
Auch hier konnten sie nichts
am Verlauf der Weltgeschichte ändern und gingen von Schlacht zu Schlacht immer
weiter nach Norden. Einer der letzten Befehle des immer tollwütiger werdenden
Führers betraf auch sie. Dem Befehl nach mussten sich alle Überreste der
Wehrmacht und der Waffen-SS unter das Kommando von General Wenck im Norden
zusammenziehen und in Richtung Berlin aufbrechen, um die Hauptstadt und die
Reichsregierung aus der russischen Belagerung zu befreien.
Auf diesem Wege traf der Vater
den Mai 1945. Der unterirdische Befehlshaber und der von seinem „ihn
enttäuschten“ Volk „verratene“ Irreführer nahm endlich Abschied sowohl von
diesem „ihm unwürdigen“ Volk, das er total ausrottete, in verdammten Verruf brachte, der Rache und den Abrechnungen der
anderen Völker für ewige Zeiten auf Gedeih und Verderb auslieferte, als auch von
diesem deutschen Land, das er in die Hölle irregeführt und in einen
Scherbenhaufen und in eine vollkommene Ruine verwandelt hatte. Etwas zu spät kam
leider dieser Abgang für das deutsche Volk und für das deutsche
Land.
Jetzt galt es nicht nur für
den Vater, der es ohnehin lebenslang übte und tat, sondern auch für jeden
Einheimischen, sich selbst um das eigene Leben, um das eigene Schicksal und um
alle anderen menschlichen Angelegenheiten zu kümmern, was nämlich zu den
normalsten Menschenpflichten und primitivsten Lebensfreiheiten eines jeden
Menschen gehört.
Zu den Pflichten gehört, die
von „Deutschländern“ vor zwölf Jahren – bei allem Verständnis für die die
deutsche Nation erniedrigende Ungerechtigkeit Versailler Vertrages und der
Arroganz der damaligen Alliierten, doch bestimmt aus Versehen, wahrscheinlich in
ihrer naiven Hoffnung, die nächsten tausend Jahre endlich sorglos leben zu
dürfen – an diesen Führer delegiert wurden. An einen Mann, der nie ein Ehemann
[3], nie ein
Vater und – man kann sogar denken – nie ein Sohn war und sonst auch nichts
Vernünftiges in seinem Leben selbst bewerkstelligte, um den Kindern, Müttern und
Vätern anderer ihre Sorgen abzunehmen.
*
Als erstes nach dieser
Verantwortungsübernahme beendete der Vater eigenhändig seinen Krieg, seinem der
Mutter gegebenen Wort treu folgend. Auf einem Fußmarsch meldete er dem Offizier
seine durch schlecht umwickelte Fußlappen bis zu Blutblasen geschlagenen Füße,
die er dringend umwickeln müsse. Dagegen war nichts einzuwenden: Ein Soldat mit
kaputten Füßen ist auf dem Marsch noch schlimmer als gar
keiner.
„Mach das und hol uns
schnellst wieder ein.“ – befahl der Offizier.
„Jawohl, Herr Offizier!“ –
bestätigte der dankbare Vater seine Bereitschaft, dem Befehl unverzüglich zu
folgen.
Er ließ sich am Straßenrand
nieder, zog seine Stiefel aus und wickelte langsam die Fußlappen um, bis seine
Abteilung hinter dem nächsten Hügel verschwand. Dann ließ er seine Waffen liegen
und lief in den nah liegenden Wald hinein.
Der Vater lief durch den Wald
und stieß bald auf ein Försterhaus. Er musste dem alten Förster nichts vormachen
und nichts lange erklären. Der Spuk war für jeden vorbei, und es galt für jeden
nur noch, sich selbst zu retten und einander dabei womöglich zu
helfen.
Er bekam von dem Förster einen
alten, etwas zu engen und zu kurzen Zivilanzug und alte Schuhe. Seine schwarze
SS-Uniform – dem Förster war auch angst und bange davon, trotz aller
Stoffqualitäten, Gebrauch zu machen – vergrub der Vater unter dem nächsten Baum
samt all seiner Papiere, Fotos und sonstiger Kleinigkeiten, die seine jüngste
Vergangenheit verraten könnten. Er wurde zu einem Niemand, aus einem
Nirgendwoher, in einem Nirgendwo namens Ex-Deutschland.
Der Vater wusste bereits aus
dem Briefwechsel mit seiner Schwester – der mit der Mutter vereinbarten
Kontaktperson –, dass seine Familie mit allen in Polen hinterbliebenen
Flüchtlingsfamilien unterwegs nach Sibirien war. Sein Plan war so einfach wie
auch gefährlich: Die vordersten russischen Kampftruppen vorbeiziehen zu lassen
und dann – wie versprochen – zu seiner Familie nach Osten zu gehen, wo immer sie
dort auch sein möge. Hauptsache – die Richtung war
vorbestimmt.
Seine Kameraden, deren
Familien ebenfalls in Polen zurückblieben und die über ihre Deportation von dort
nach Sibirien Bescheid wussten, wählten die Gegenrichtung, als sie unter sich,
zusammen mit dem Vater ihre Nachkriegspläne überlegten. Der Osten war ihnen zu
brenzlig und sie wollten nur noch zu Amerikanern in den Westen
gehen.
In seinen Fluchtplan weihte
der Vater nur zwei seiner Kumpels ein, die ihn vor der Ermordung des Feldwebels
mit ihrem Körpereinsatz aufhielten und denen er vertraute. Die beiden
entschieden sich ebenfalls für den Westen und kriegten von dem Vater die Adresse
seiner Schwester dort – ein Stückchen Papier, das den Kameraden etwas Heimgefühl
und Wärme in der Fremde vermitteln
durfte.
Recht hatten sie: Das Risiko
war hundertprozentig da. Die Chance, am Kriegsende mit ihren für sie als
sowjetische Bürger im Vergleich zu den übrigen SS-Angehörigen doppelt so
gefährlichen Brandmalen
[4] der
Waffen-SS unter den Armen durchzukommen, war nahe zu Null. Sie hatten schon die
schrecklichen Geschichten über die Jagd auf die SS-Männer, und zwar bei allen
Alliierten, gehört, bei der alle großwüchsigen Kriegsgefangenen, von ihrer
Bekleidung unabhängig, sich ausziehen und ihre linken Arme hoch halten
mussten.
Da sie sich doch nicht
schuldig fühlten, mit dem von der SS begangenen Greuel etwas am Hut zu haben und
nur notangeschafftes Kanonenfutter darstellten, sahen sie ihre einzige Rettung
darin, im Westen wenigstens einen fairen Prozess zu bekommen, was bei den
„heimatlichen“ Russen undenkbar gewesen wäre. Der Vater gab ihnen auch recht,
dass die Chance zu überleben im Westen größer sei, aber ihm ging es nun nicht um
die Chancen. Ihm ging es um seine Familie – um die Mutter und drei schutzlose
Kinder.
Was sie alle aber damals noch
nicht gehört hatten und nicht wissen konnten, war die Tatsache, dass der Weg
nach Westen für mehrere wie sie trotzdem im Osten endete. Noch dazu, nach allem
in den Rheingefangenenlagern
[5] erlebten
Schrecken. Die Amerikaner und Engländer lieferten die ex-sowjetischen Bürger den
Russen aus, dessen voll bewusst, dass sie Stalins Rache ausgesetzt werden und
dass die Auslieferung für die Betroffenen ihren absolut sicheren Tod bedeutete.
Die Hälfte von hundertfünfzigtausend im Mai 1945 im Dritten Reich
aufenthältlichen Deutschen aus Russland – meistens Männer im Militärdienst –
wurde von westlichen Alliierten den Sowjets zur Repatriierung
ausgeliefert.
Bevor man mit der Umschulung
von „nazidegradierten“ und „pervers gewordenen“ Deutschen beginnen und ihnen
dann Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit beibringen wollte, musste man eben
etwas Dreck aufräumen, mit den Russen einen Deal machen und eigene
Kriegsgefangene, die durch Sowjets aus deutschen Kriegsgefangenenlagern
„befreit“ wurden und in die sowjetischen Lager gelangten, rausholen, auch wenn
ihre die Gerechtigkeit bringenden Hände dabei schmutzig werden
mögen.
Das wollten die ausgelieferten
deutschen als auch russischen Sowjetbürger nicht verstehen und wollten sich
damit nicht zufrieden geben. Auch die russischen Kosaken nicht, die von
Engländern verräterisch entwaffnet und danach doch noch den Sowjets übergeben
wurden. Dabei brachten sie sich samt ihrer Familien eigenhändig und massenhaft
um, bevor die Reste ihrer im Kriege auf der deutschen Seite kämpfenden Armee
dann in Russland von der NKWD
[6] massenhaft
umgebracht wurden.
Ob das gleiche seinen
Kameraden passierte, erfuhr der Vater nie. Seine Schwester schrieb ihm später
aus Westdeutschland, dass sie doch ein Mal kurz bei ihr unterwegs nach den
Westen vorbei gekommen waren. Seitdem hörte sie nichts mehr von ihnen. Sie
schrieb – nur so zwischendurch – über die Herren namens sowieso, als ob sie ihre
alten Bekannten gewesen wären und nicht Vaters Kameraden. Der Vater aber
verstand diese Botschaft, und das war das letzte und das einzige, was der Vater
nach Jahrzehnten von seiner Schwester über seine Kumpels
erfuhr.
Was er dann später dazu von
der „Deutschen Welle“ erfuhr, bestätigte nur zusätzlich seine Entscheidung. All
diejenigen, die politisch und historisch an diesem Krieg schuld waren, diesen
Krieg provozierten, ihn nicht verhinderten, ihn entfesselten und führten,
rechneten jetzt mit den Soldaten ab, die sie aus ihren politischen Überlegungen
und zur Gloria der Weltpolitik ins gegenseitige Abschlachten – wie immer den
Dreck und das Blut jeder misslungenen Politik in Kriegen auszulöffeln –
schickten. Diese Abrechnung kam dabei von allen Seiten.
Die vor kurzem noch allesamt
„perversen“, nun aber umgeschulten und in Westdeutschland demokratisierten
Deutschen verrieten genauso – wie ihre Umschullehrer die Sowjetbürger verrieten
– die armseligen noch am Leben gebliebenen Reste ihrer Elitesoldaten, indem sie
diese – von ihrem Staat und Vaterland ausgelesenen, nazierzogenen, ausgenutzten,
ausgerotteten und schon einmal ausgelieferten – Männer, im Unterschied zu den
kleinwüchsigen und nicht weniger dreckigen Wehrmachtsangehörigen, so gut wie
ausgebürgert hatten, für sie nicht sorgen und von ihnen als „
Persona non
grata“
[7] nichts
wissen wollten.
Angesichts dieser späteren
Auslieferungen und „Ausbürgerungen“ erwies sich die damals fast verrückt
erscheinende Entscheidung des Vaters doch als die einzig richtige, die ihn
rettete. Der Vater nutzte seine winzige Chance besser als seine Kameraden, weil
er sich wieder mal von Massen und Herden trennte und sich nicht auf Deutsche,
Amerikaner, Briten, Franzosen, Russen und nicht einmal auf den allmächtigen,
aber zur Zeit abwesenden Gott, sondern nur auf sich selbst verließ. Und so ging
sein Plan auf.
Jeden Tag ritt der Förster auf
seinem Pferd zu der Strasse hinaus, von welcher der Vater zu ihm abbog, um zu
gucken, ob die Russen anrücken. Als er nach zwei solchen Auskundschaftsausflügen
von der Strasse zurückkehrte, meldete er dem Vater, dass die russischen
Kampftruppen mit Panzern und Geschützen vorbeiziehen. Der Vater wartete noch
zwei Tage im Walde und ging dann auf die Strasse, der aufgehenden Sonne
entgegen.
Das erste, was ihm begegnete,
war eine Soldateska auf einem Gaul mit Wickelgamaschen aus Fußlappen statt
Stiefeln und in einem dreckigen Soldatenmantel weit über seine Größe – ein
großer Sieger von rückwärtigen Diensten.
„Uhr jestj?“
[8] – begrüßte
er den Vater auf Halbdeutsch-Halbrussisch und zeigte noch sein nacktes
Handgelenk dazu.
„Ne-e-e, Nema Tschasow.“
[9] – erleichterte der Vater mit seinem „puren“
Halbrussisch-Halbukrainisch die fremdsprachigen Bemühungen des Siegers, zeigte
ihm ebenfalls sein nach der Vergrabung all seiner „Schätze“ nun ebenfalls
nacktes Handgelenk dazu und dachte sich:
„Na du scheinst ein guter
Krieger zu sein, wenn du noch nicht einmal eine Uhr erbeutet hast, während deine
Kameraden schon ganze Beutezüge vollbeladen mit sich schleppen und nach Hause
schicken.“
Der vor allem durch die vom
Vater benutzte eigene Heimatsprache enttäuschte Reiter verlor vollkommen das
Interesse an Vaters Person. Gerade das erhoffte der Vater und plante es für
seinen Gang nach Osten, als er die russischen Kampftruppen im Wald vorbei ziehen
ließ. Er selbst trug nur ein mageres Säckchen am Rücken. Darin lagen ein Stück
Brot und drei schön bemalte und absolut wertlose Blechdosen, die hierzulande auf
jedem Müll- oder Scherbenhaufen zu finden wären.
In einer der Dosen lag sein
Rasierzeug, in den anderen beiden ein paar wertlose Souvenirs, ein paar Pfennige
und Reichsmark. Sonst rein gar nichts – ein gesichtsloser, langer Kerl in einem
komischen, viel zu kurzen und zu engen, abgetragenen Anzug und klappernden
Schuhen – einer von Millionen zu dieser Stunde Null durch Europa strolchenden
Menschen aller Nationalitäten.
*
Der Vater ging weiter, zeigte
bei jeder Begegnung mit Russen gleich sein nacktes, nicht beuhrtes Handgelenk
und fragte nach dem Aufenthaltsort des nächsten russischen Kommandanten. Er fand
ihn so gegen Abend in einem kleinen und komplett zerstörten Städtchen in
Mecklenburg-Vorpommern, meldete sich beim Kommandanten und erzählte ihm seine
längst vorbereitete und innerlich mehrmals auf seinem Wege wiederholte
Legende.
Die Legende bestand aus
wahrheitsgetreuen und leicht überprüfbaren Angaben sowie zwischendurch aus
kleinen, diese Angaben verbindenden und manches überbrückenden Lügen, die unter
den herrschenden Umständen gar nicht zu überprüfen wären, und klang ungefähr
so:
„Ich lebte mit meiner Familie
in Stalino und arbeitete als Maurer sogar am Bau einer Munitionsfabrik, als die
faschistischen Okkupanten kamen. Unter ihnen musste ich weiter als Maurer
arbeiten. Bei ihrem Rückzug im Jahre 1943 verschleppten sie mich nach
Deutschland. Hier musste ich als Zwangsarbeiter weiter mauern, und zwar in einem
Örtchen hier in der Nähe. Meine Frau mit zwei Kindern war dort drüben geblieben,
und ich möchte jetzt gerne zu meiner Familie zurück. Mit dieser Absicht bin ich
in einer Nacht, als sich die Front näherte, in den Wald abgehauen, versteckte
mich dort und wartete auf meine Befreiung durch unsere glorreichen russischen
Truppen. Und jetzt stehe ich hier vorm Genossen Kommandanten und bitte ihn
hochachtungsvoll, mir zurück zu meiner Familie zu
verhelfen.“
Der nicht so alte und mit der
NKWD nichts zu tun habende Kampfoffizier – der jetzt plötzlich von seinen
Befehlshabern verpflichtet wurde, ein Zivilleben vor allem für seine Soldaten,
aber auch für die deutsche Bevölkerung hier einzurichten, ohne die leiseste
Ahnung davon zu haben, wie es in diesen Ruinen gehen soll – verstand aus dem
ganzen Gequatsche nur eins, nämlich das, was der Vater auch von ihm wollte: Herr
Gott schickte ihm in die Hände einen dringend benötigten, professionellen
Maurer, um ihn sein böses Zivilschicksal zu erleichtern.
„Du willst es wohl besser, als
ich haben, was?“ – fing er streng an, seine Freude verbergend – „Schlag dir
diesen ‚nach Hause’-Gedanken zunächst
aus dem Kopf. Wir alle haben unsere Familien seit Jahren nicht gesehen und
wollen nicht weniger als du zu ihnen nach Hause. Also, du bleibst hier unter
meinem Kommando und mauerst tags und nachts, was ich dir zu mauern befehle.
Klar? Finde dir hier in der Nähe der Kommandantur eine Ecke als Unterkunft.
Verpflegung mit Soldaten. Gleich morgen früh beginnst du mit der
Wiederherstellung von Backöfen in der hiesigen zerstörten Bäckerei, damit ich
alle hier wenigstens mit etwas Brot versorgen kann. Kannst du
das?“
„Schon mal gemacht“ – murmelte
kurz der sichtlich traurig gewordene und im Inneren jubelnde Vater, Genossen
Kommandanten verlassend.
Es übertraf all seine ziemlich
frommen Hoffnungen und Erwartungen. Sein individueller Plan namens „Drang nach
Osten“ funktionierte. Seine Überlebenschance stieg überraschend schnell weit
über die anfängliche Null hinauf. Gleichwohl verstand er, dass es noch nicht
alles und noch lange nicht alles vorüber war.
Das waren eben die
Frontbedingungen mit ihrer Hektik und ihrem notdürftig-provisorisch
eingerichteten Dasein, die er selbst kannte und auf die er setzte. Sobald sich
die Lage etwas stabilisiert und beruhigt, kommen professionelle Verhörer und
Henker von der NKWD nach. Dann wird es ernst. Aber zunächst war er durch diese
offizielle Arbeitsstelle legalisiert und hatte eine
Verschnaufpause.
Seine Legende war so gut wie
unanfechtbar. Der Vater ging sie trotzdem immer wieder gedanklich
durch:
„Diese ‚anderen’ werden alles,
was sie können, überprüfen lassen. Und alles wird genau stimmen – mein Name,
meine Adresse und mein Arbeitgeber vor dem Krieg in Stalino. Alles andere müssen
sie mir glauben. Oder auch nicht.“
Er freute sich jetzt besonders
über seine mehr instinktive Entscheidung vom Frühling 1942, nicht auf sein
Landgut zurückzukehren, sondern ein Stück neutrales Land ziemlich weit weg von
seinem Landgut zu nehmen. Manche beanspruchten doch ihr Land zurück und
veranstalteten dort sogar ihre Racheaktionen.
„Es wird vor allem dort nach
Zeugen gesucht und gefragt, ob die alten Herren zurück waren. Sie hatten diese
Befragungen womöglich bei der Befreiung der Ukraine schon durchgeführt und haben
die Namenslisten bei sich in ihren Akten. So wird jetzt diese Rache wieder
zurückschlagen, wie sie es noch immer in ihren Teufelskreisen
tat.“
„Bei mir kriegten sie aber
bestätigt, dass ich nicht einmal in der Nähe unseres Landguts war und hier, in
zerstörtem Deutschland, finden sie jetzt auch rein gar nichts. Dass meine
Familie hier war und von ihnen nach Sibirien verschleppt wurde, finden sie
natürlich heraus. Aber ich konnte ja davon nichts gewusst haben, auch von dem
dritten Kind nicht, deswegen das Jahr 1943. Ich wurde ja viel früher als
Arbeitskraft nach Deutschland verschleppt und wusste nur, dass meine Familie
damals dort drüben blieb.“
„Das Entscheidende wird aber
sein, dass sie so viel Zeit für mich auch nicht haben werden. Ich, als
Deutscher, wurde ja mit Stalins Erlass vom August 1941 bereits zur Deportation
in die Verbannung verurteilt und, wenn sie zu meiner Nationalität keine
zusätzlichen Belastungen und Extras aus der Kriegszeit finden, werden sie
schließlich auch nach diesem Erlass handeln. Es ist auch schon schlimm genug und
schlimmer als das – vorausgesetzt natürlich, dass sie mir doch nichts anderes
nachweisen können – darf es nicht kommen.“
Dieses Grübeln packte ihn jede
freie Sekunde, vor allem aber abends. Und trotz aller logischen und vernünftigen
Voraussagen und Schlussfolgerungen, zu denen er gelangte, blieb eine totale
Ungewissheit, die ihm zu schaffen machte und seinen Kopf fast platzen ließ: Die
Brutalität und Unberechenbarkeit der NKWD-Henker waren mit keiner Logik und mit
keiner Vernunft zu bemessen und vorherzusagen.
Zwei Monate lang arbeitete der
Vater im Haushalt des russischen Kommandanten, der mit ihm sehr zufrieden war.
Als die besagte Filtrierungszeit kam, bescheinigte der Kommandant, dass der
Bürger sowieso vom dann und dann bis dato bei ihm, im Haushalt seiner
Militärabteilung, als Maurer beschäftigt gewesen sei und wegen
Repatriierungsmaßnahmen mit der besten Referenz entlassen werde. Unterschrieben
Major sowieso und besiegelt, wie es sich gehört.
Dies war das erste Dokument in
Vaters neuem Leben. Er war kein Niemand mehr, sondern hatte einen bescheinigten
und besiegelten Namen, konnte sich hiermit ausweisen und sogar seine Verdienste
bei der sowjetischen Armee nachweisen. Dies war schon gar nicht so
wenig.
*
Die von NKWD-Leuten im Rahmen
der Repatriierung durchgeführte Filtrierung bedeutete nichts anderes als die von
sowjetischen Bürgern auf den vom Dritten Deutschen Reich besetzten Territorien
begangenen Verbrechen aufzudecken und ein entsprechendes Bestrafungsmaß
festzulegen. Dabei gab es a priori keine Unschuldigen. Ein Verbrechen
stand bei jedem im voraus fest, der bei
Deutschen war, während sein „Vaterland“ kämpfte und
ausblutete.
Diejenigen filtrierten
Verbrecher, deren in kurzen Prozessen gefälltes Urteil kein gleich hier vor Ort
vollstrecktes Todesurteil war, galten als repatriiert, was wiederum mehrjährige
Zwangsarbeit in Lagern ihrer Heimat bedeutete. Am schlimmsten traf es eigene
sowjetische Kriegsgefangene. Die Mindeststrafe dafür, dass sie sich bei ihrer
Gefangennahme zu erschießen vergaßen, wie es ihnen Stalin befahl, war jahrelange
Untertagesklavenarbeit in Kohlegruben oder als Holzfäller in sibirischen
Wäldern.
Für den Vater ging es so aus,
wie er das vorhergesehen hatte. Ohne ihm etwas Zusätzliches nachweisen zu
können, verurteilten sie ihn pauschal zur Lagerzwangsarbeit mit abschließender
Zwangseinsiedlung unter Kommandanturaufsicht in eine der seit 1941 bereits
existierenden deutschen Sondersiedlungen hinter dem Ural. Dadurch bekam er
weitere offiziell besiegelte Bescheinigungen mit den wichtigen Vermerken
„filtriert“ und „repatriiert“.
Sie sind nie darauf gekommen,
ihm unter den linken Arm zu gucken. Das wäre sein Ende. Ihn rettete – wie schon
gesagt – die Tatsache, dass er jetzt, wie im August 1941 und im Mai 1945, wieder
im Alleingang und nicht mit Massen unterwegs war, dass er nicht in der Frontnähe
in seiner Uniform gefasst wurde, sondern sich ziemlich weit von der Frontlinie
freiwillig stellte und sich noch dazu in der sowjetischen Armee verdient gemacht
hat, ohne dieser Armee irgendwelche Diversionsschäden eingerichtet zu
haben.
Dazu kamen noch seine
komischen Lumpen und sein so entrüstendes Russisch mit einem mehr ukrainischen
als deutschen Akzent. Und als Allerletztes spielte bestimmt eine Rolle Vaters
schauspielerische und in seinem Leben immer nützlich gewesene Gabe, sich als
Einfaltspinsel so gut darzustellen, dass es keinem einfiel, bei so einem
irgendwelche Hintergedanken oder Geheimnisse zu vermuten. Der Vater und die
anderen Repatriierten wurden wie üblich in Viehwaggons gestopft und
verriegelt.
Der Zug fuhr knarrend und
keuchend in Richtung Osten ab.
*
Der Zielort war unbekannt. Die
Reise mit mehreren langen Zwischenstopps, mit Hunger, Kälte, Krankheiten und mit
ebenfalls vielen Toten dauerte bis in den Spätherbst. Es wurde auf einmal weiß
draußen und immer kälter. Hungernde und frierende Menschen starben wie Fliegen
im Herbst. Ihre Leichen wurden beim nächsten Halt von den Kameraden-Gefangenen
gleich hier, an den Gleisen, auf die schnelle begraben.
Ende Oktober kam der Zug in
Molotow
[10] am Ural
an. Der eisige Wind und Frost machten den erschöpften Aussteigenden sehr zu
schaffen. Der Vater hatte immer noch seinen wirklich bis zu Lumpen abgetragenen
kurzen Anzug vom Förster an, aber den Körper drunter wickelte er mit altem
Papier um, das er noch vor der Abreise vorsorglich in seinen mageren Sack
reinstopfte. – Seine auf den Kenntnissen über perfekte
Wärmeisolierungseigenschaften von Papier basierende Erfindung, die ihm auch
später immer nützlich war und sein Leben rettete.
Weiter ging es im Fußmarsch.
Der Zug stand auf einem Abstellgleis fern vom Bahnhof. Hier wurden sie in eine
Kolonne zusammengetrieben und krochen fort, beiderseitig von den bewaffneten
Rotarmisten umzingelt. Außerhalb der Stadt führte der Weg – eine vollverschneite
Landstrasse – in den Wald. Im Walde war es nicht so windig, und es schien
dadurch, etwas wärmer zu werden.
Auch die Bewegung erwärmte die
Sträflinge. Nur kostete diese Bewegung die kaum noch gebliebene, kostbare
Energie und die Energie kostete das Leben. Ab und zu hörte man am Ende der
Kolonne kurze trockene Schüsse – noch ein Entkräfteter fiel in den Schnee und
wurde von der Wache erlöst. Erst zum Abend hin, schon in der Dunkelheit,
erreichte ihre Kolonne das mit Stacheldraht und Wachtürmen an jeder Ecke
umzäunte Konzentrationslager. Ihr Endziel.
Der Vater schaffte es wieder,
seine nächste Lebensstation erschöpft, aber immer noch lebend zu erreichen.
Wieder ein Grund, sich selbst mehr als jemand anderem oder sogar dem Schicksal
zu danken. An Gott glaubte er schon lange nicht mehr, seit sein tief
evangelischer Vater im evangelischen Prischib starb und er, noch ein kleines und
ebenfalls evangelisches Kind, von Vaters Haus in die gottlose Welt fort
musste.
Am Anfang sehnte er sich nach
Gott und versuchte, die auf ihn auferlegte Gottesstrafe zu verstehen. Aber für
seine kleinen Kindersünden wurde diese Strafe immer größer, immer schwerer und
immer unverständlicher, bis er es aufgab, Gottes Vorhaben mit ihm zu
rechtfertigen und nach Gottes unergründlichen Wegen zu
suchen.
Er allein war für sein
Schicksal und sein Leben zuständig und verantwortlich. Er lächelte nur
verbittert, als er sich mit dem Gürtel „Gott mit uns!“ umschnallen musste. Die
meisten damit beschmückten Kameraden wurden gemetzelt und gelangten mit ihrem
Glauben an Gott und mit seiner Hilfe bestimmt ins Paradies unter Gottes Wache.
Der Vater bevorzugte diese dreckige irdische Hölle und diese
dreckige menschliche Wache.
Er freute sich nicht. Er
überlegte nur, ob er jetzt und hier, von kleinwüchsigen, zum Militärdienst aus
welchen Gründen auch immer nicht geeigneten oder nicht zugelassenen Rotarmisten
bewacht, unter denen die meisten – welch schwarze, in alle Geschehnisse
tausendmal hineinschleichende Ironie des Lebens! – sowjetische Juden waren, den
Höhepunkt dieser Hölle erreicht hat. Und doch ist das Leben – mit oder ohne Gott
– viel zu ironisch und immer für Überraschungen viel zu gut, um es gegen
Paradies mit Gott umzutauschen. Schließlich kann man das echte Paradies auch
nicht zu schätzen wissen, ohne mal durch die echte Hölle gegangen zu
sein.
Schon mehrmals in seinem Leben
dachte der Vater:
„Na, wenn ich das überlebe,
kann mir nichts mehr passieren.“
Er unterschätzte die
Steigerungsfähigkeit der teuflischen Schicksalsrückschläge. Schlimmer ging es
immer. Nun wusste er, die richtig echte Hölle bisher noch nicht erlebt zu haben.
Die Sträflinge fällten Holz im Walde. Vom Werkzeug gab es nur Zweihandsägen und
Äxte. Die gefallenen Holzstämme schleppten sie, an Leinen ziehend, ans Ufer
eines Flusses und stapelten sie dort hoch. Im Frühling, als das Eis brach und
den Fluss befreite, wurden die Holzstämme ins Wasser heruntergelassen und zur
Eisenbahn hin abgeflößt.
Die an Flussbögen ans Ufer
angetriebenen oder im Fluss verstauten Holzstämme mussten im Herbst von den bis
zur Hüfte im eiskalten Wasser stehenden Männern mit Hackstöcken weiterbefördert
werden. Zu dieser aus den stärksten und noch einigermaßen gesunden Sträflingen
ausgewählten „Elitetruppe“ gehörte auch der Vater. In ein paar Wochen waren sie
erledigt. Vaters durch Hunger, Kälte und Nässe erschöpfter Körper fing an,
bläulich anzuschwellen. Dieser, sich noch vor zwei Tagen einem Skelett ähnelnde
Körper wurde allmählich zu einer Wasserblase mit
Elefantenbeinen.
„Das war es...“ – dachte der
Vater mit einem kaum noch menschlichen Gefühl.
Sein Organismus war jedoch
immer noch nicht bereit aufzugeben und klammerte am Leben mit einer über alle
menschlichen Überlebensfähigkeiten gehenden Sturheit. Diese Resistenz überzeugte
sogar die Lagerverwaltung und der Vater wurde ins Lazarett eingeliefert. Ein
paar Tage Erholung und etwas besseres Essen machten ein Wunder möglich und
schafften den Rest: Die Anschwellung verschwand und etwas Kraft kehrte zurück.
In zwei Wochen wurde er aus dem Lazarett entlassen und wieder für die
Bullenarbeit eingesetzt.
Der wieder auf die Art „Wenn
ich schon das überlebt habe,...“ gerstärkte Wille brachte es doch fertig, das
Arbeitslager bis zum Ende durchzustehen. Der Vater verlor nur eine Menge Haare,
fast alle Zähne und konnte bis zu seinem Lebensende nur noch mühsam und elend
Wasser ablassen.
Zum Schluss bestimmten sie dem
Vater seinen Verbannungsort und waren dabei sogar großzügig: Sibirien ist ja
sehr groß und fast gleichmäßig dem normalen Menschenleben fremd, daher war es
den Vollstreckern schließlich egal, wohin mit dem Vater und sie fragten ihn, ob
er irgendwelche Sonderwünsche hätte, beziehungsweise irgendwelche von ihm
bevorzugten Orte in Sibirien wüsste.
Er wusste überraschenderweise
einen, nämlich dort in der Nähe von Nowosibirsk, wo seine Familie, bereits seit
mehr als zwei Jahren auf ihn wartend, in so einer Sondersiedlung krepierte.
Seine drei Jahre andauernde Kriegsodyssee ging endlich zu Ende und der Vater
stand – dank seines fast unerwartet geglückten Plans – unmittelbar davor, seine
Familie wieder zu sehen.
Es wurde ihm mit seinem
„Sonderwunsch“ entsprochen, und im Herbst oder, nach sibirischen Verhältnissen,
schon im Frühwinter 1947 kehrte er – wie versprochen – zu seiner in diese
sibirische Sondersiedlung gesteckten Familie – „nach Hause“ – zurück.
*
[1] hier: durch mangelhafte Gehirnfunktionen verursachter und auf einen
Schock folgender Zusammenbruch eines Organismus (freie
Interpretation)
[2] Ingeborg Fleischhauer „Das Dritte Reich und die Deutschen in der
Sowjetunion“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart, 1983 (Schriftenreihe
der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Nr. 46)
[3] Hitler schloss nur unmittelbar vor seinem Ende formale Ehe mit Eva
Braun
[4] Die Soldaten der Waffen-SS trugen eine Tätowierung mit ihrer Blutgruppe
unter dem linken Arm, um die Hilfe bei Verletzungen schneller bekommen zu
können
[5] Im Rheintal wurden einige Hektar Wiese mit Stacheldraht umgezäumt,
dorthin wurden Tausende der deutschen Kriegsgefangenen zusammengetrieben und
ohne Verpflegung sich selbst überlassen. In diesen Lagern kam es zum
Kannibalismus – die hungernde Kriegsgefangene verzerrten ihre am Hunger und an
Krankheiten gestorbenen Kameraden
[6] Narodnij Komissariat Wnutrennich Del (rus) – Volkskommissariat für innere
Angelegenheiten, der Vorgänger des KGBs (bis 1946), der zusammen mit seinem
Nachfolger KGB in der UdSSR von 20 bis
50 Mio Opfer – Ermordeten, zu Tode Gefolterten, in KZs Umgekommenen – zu
verschulden hat
[7] Person unerwünscht (lat.) – juristischer Ausdruck für Personen – wie
ausländische Diplomaten –, die aus dem Lande ausgewiesen
werden.
[8] „Hasst du eine Uhr?“
[9] „Nein, ich habe keine Uhr“
[10] heutige Stadt Permj am Ural in Russland