Viktor Prieb

Die letzte Aufgabe eines Deutschen

oder
über den Kollaps[1] des letzten Deutschen Reiches


(Aus dem Buch "Der Zug fährt ab“
www.literatur-viktor-prieb.de)

Zwischen Scylla und Charybdis

Als die Rote Armee ihre Familien in Polen überrollte und diese von Scylla zu Charybdis „rettete“, war der Krieg für die Männer noch lange nicht vorbei – für sie begann er jetzt erst richtig.
  
Für die Männer, die diesen Krieg auf keiner Seite entfesselten, keine ruhmreichen Siege erlebten und keine Sünden und Verbrechen begangen, kam die Zeit, für ihre all dies entfesselten, erlebten und begangenen Landsleute im Dritten Deutschen Reich zu büßen, die Folgen dieses Krieges auszulöffeln und die vernichtende, dem Untergang der ganzen Nation und ihres deutschen Landes gleichkommende Niederlage zunächst aufzuhalten zu versuchen und dann mitzuerleiden.
  
Viel Auswahl hatten sie dabei auch nicht – entweder in Kämpfen zu fallen oder nach der Niederlage von Stalin als Verräter zur Rechenschaft gezogen zu werden. Umso mehr, da sie in seinem Erlass vom 28. August 1941 als „sowjetische Bürger der deutschen Nationalität“ schon im voraus zu Spionen und Verrätern abgestempelt und zur Verbannung verurteilt worden waren.
  
Unter diesen aussichtslosen Bedingungen hatte der Vater sein der Mutter gegebenes Wort zu halten, zu ihr durch die Hölle durchzukommen. Und er tat und machte alles dafür mit all seinem Überlebenstalent und mit seiner ganzen Überlebenserfahrung.
  
Nur einmal vergaß er für einen kurzen Augenblick sein Wort und seine Vernunft und dachte danach „Das war es!..“. Doch es passierte nicht in kriegerischen Handlungen. Es passierte in seiner Waffen-SS Militärschule bei Passau an der Donau.
 
Aus den Männern der dreihundertfünfzigtausend am Anfang des Krieges in die deutsche Besatzungszone geratenen Volksdeutschen Russlands wurden in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 neue Truppeneinheiten der Wehrmacht und auch einige Waffen-SS-Divisionen formiert. In einer davon war der Vater mit seinen Kameraden. Sie mussten jetzt in einem abgekürzten Schnellkurs die Kunst des Krieges üben und hatten damit noch Glück gehabt, denn manche anderen waren gleich dran – zum Beispiel gegen Amerikaner in Italien eingesetzt –, ohne mal schießen zu lernen[2].
 
Ihre Ausbildung bedeutete so viel wie fast ununterbrochen exerzieren, schießen, exerzieren, Sport üben und weiter exerzieren. Ein dicker Feldwebel aus Bayern drillte sie. Eines Tages trieb er Vaters nur mit Bajonetten bewaffnete Abteilung, auf dem Exerzierplatz im Kreise zu laufen. Hin und wieder unterbrach er ihren Lauf mit dem Befehl „Hinlegen!“. Der Befehl kam immer wieder dann, wenn die Soldaten eine große und schlammige Pfütze überquerten. Auf die inzwischen laut gewordene Unzufriedenheit in den Männerreihen reagierte er mit grobem Geschrei:
 
„Maul halten, ihr russischen Schwarzmeerschweine!“
 
Vielleicht war er der überlebte Verwundete aus dem russischen Walde, der damals, im ersten Weltkrieg, durch den damaligen Zwischenfall mit dem deutschen Artillerieoffizier der russischen Armee etwas dazu gelernt und es in den falschen Hals gekriegt hatte.
 
Den Vater interessierte es aber nicht und er wusste nicht, was in ihn gefahren war. Vielleicht kamen in ihm alle Beleidigungen, Erniedrigungen, Verfolgungen seines Lebens hoch, die er von Fremden, von Feinden, von Roten, von Grünen, von Kommunisten und von vielen anderen ertragen musste. Vielleicht hatte er sich zu sehr in den letzten Jahren darauf eingelassen, dass er endlich aus dieser Sklaven- und Viehexistenz heraus war, indem er sich mit seinen Landsleuten unter den ihnen Gleichen befand.
 
Wie dem auch sei, er sah rot, griff nach seinem Bajonett und attackierte mit dem furchterregenden, verzerrten Gesicht und wildem Schrei diesen satten, blöden und aus unerklärlichen Gründen übermäßig selbstgefälligen und überheblichen Dickwanst. Dieser stand plötzlich hilflos und tatenlos wie gelähmt da und sah mit einem bis zu grau-gelb verblassten Gesicht seinem Tod entgegen.
 
Sein Tod käme auch unausweichlich, wenn Vaters Kameraden auch nur eine Sekunde gezögert hätten. Sie zögerten aber nicht, wobei sie es nur Vaters wegen taten. Zwei seiner Kameraden und Kumpels, ein Schmied aus Prischib und noch ein Riese aus Blumenort, die in der Reihe neben dem Vater standen, warfen sich hinter ihm her und klammerten sich fest an seinen Schultern.
Dessen unbemerkt schleppte er sie noch ein paar Meter mit, bis sie ihn überwältigten und mit ihren Körpern zum Boden pressten.
 
Der Vater lag mit dem Gesicht im Dreck und wurde gleich ruhig – ihm wurde auf einmal alles so scheißegal. Der Feldwebel drehte sich abrupt um und verschwand.
 
„Danke, Kameraden.“ – sagte kurz der Vater aufstehend.
 
„Bedanke dich nicht zu früh.“ – erwiderten die Kameraden nachdenklich und traurig – „Vielleicht hätten wir dich doch nicht aufhalten sollen – du bist ja nun sowieso erledigt, dieses Schwein läge aber jetzt zu unserer aller Zufriedenheit hier geschlachtet, und du wüsstest dann wenigstens, wofür du erschossen wirst.“
 
Der Vater verstand es genauso wie seine Kameraden – in der Waffen-SS und besonders jetzt, wo der Krieg der Niederlage entgegen eilte, den Vorgesetzten anzugreifen – dafür wird man im besten Falle kurzerhand erschossen, ohne mal vor das Kriegsgericht gestellt zu werden.
 
Aber gerade diese Schärfe der Militärgesetze am Ende des Krieges rettete den Vater – es gab einen Befehl von Hitler, alle Volksdeutschen aus dem Ausland, die vor kurzem in einem eifrigen Einbürgerungsverfahren zu neuen Reichsdeutschen gemacht wurden, den Alt-Reichsdeutschen gleich respektvoll zu behandeln. Der Vater würde zweifelsohne erschossen werden, aber neben ihm würde der gleich zu behandeln habende dicke Bayer ebenfalls gleichbehandelt und erschossen werden. Er wusste das besser als der Vater und meldete den Zwischenfall nicht bei seinen Vorgesetzten.
 
So nah am Tod dran war der Vater noch nie zuvor und nur noch selten danach. Der Dickwanst zog auch seine Lehre daraus – wurde nicht mehr so überheblich und so selbstgefällig und zeigte sogar etwas Respekt den „russischen“ Schwarzmeerschweinen gegenüber. Bald war es aber mit dem Exerzieren sowieso vorbei – die Amerikaner drangen in Bayern ein und für den Vater und seine Kameraden war die Zeit gekommen, fürs Heimatland desselben bayrischen fetten Schweines zu kämpfen und zu sterben.
 
                                                                              *

Die Kriegshandlungen des Vaters oder über seine vergeblichen Versuche, Deutschland zu retten

Angefangen im Süden, gegen Amerikaner eingesetzt, kämpfte Vaters Einheit unter vielen anderen restlichen Wehrmachteinheiten in einem immer schmaler und schmaler werdenden Korridor zwischen zwei vom Osten und vom Westen zusammenrückenden Fronten – in der Mäusefalle, die vom Tausendjährigen Dritten Deutschen Reich zu der Zeit – nach zwölf Jahren seiner Existenz – noch übrig blieb.
 
Einige ihrer Einsatzorte waren: Steinkirche (ca. 50 km nordöstlich von München), Landau (ca. 100 km nordöstlich von München), Lichtenau und Waldeck (dicht nebeneinander zwischen Erfurt und Gera), Ortmannsdorf (neben Zwikau), Brettin (zwischen Magdeburg und Potsdam) , Löwenberg (50 km nördlich von Berlin) und Goldberg (50 km östlich von Schwerin).
 
Also, immer weiter nach Norden verdrängt, mussten sie nun gegen Russen kämpfen, angefangen bei Brettin, wo sich der russische Belagerungsring um Berlin herum schloss. Auch hier konnten sie nichts am Verlauf der Weltgeschichte ändern und gingen von Schlacht zu Schlacht immer weiter nach Norden. Einer der letzten Befehle des immer tollwütiger werdenden Führers betraf auch sie. Dem Befehl nach mussten sich alle Überreste der Wehrmacht und der Waffen-SS unter das Kommando von General Wenck im Norden zusammenziehen und in Richtung Berlin aufbrechen, um die Hauptstadt und die Reichsregierung aus der russischen Belagerung zu befreien.
 
Auf diesem Wege traf der Vater den Mai 1945. Der unterirdische Befehlshaber und der von seinem „ihn enttäuschten“ Volk „verratene“ Irreführer nahm endlich Abschied sowohl von diesem „ihm unwürdigen“ Volk, das er total ausrottete, in verdammten Verruf  brachte, der Rache und den Abrechnungen der anderen Völker für ewige Zeiten auf Gedeih und Verderb auslieferte, als auch von diesem deutschen Land, das er in die Hölle irregeführt und in einen Scherbenhaufen und in eine vollkommene Ruine verwandelt hatte. Etwas zu spät kam leider dieser Abgang für das deutsche Volk und für das deutsche Land.
 
Jetzt galt es nicht nur für den Vater, der es ohnehin lebenslang übte und tat, sondern auch für jeden Einheimischen, sich selbst um das eigene Leben, um das eigene Schicksal und um alle anderen menschlichen Angelegenheiten zu kümmern, was nämlich zu den normalsten Menschenpflichten und primitivsten Lebensfreiheiten eines jeden Menschen gehört.
 
Zu den Pflichten gehört, die von „Deutschländern“ vor zwölf Jahren – bei allem Verständnis für die die deutsche Nation erniedrigende Ungerechtigkeit Versailler Vertrages und der Arroganz der damaligen Alliierten, doch bestimmt aus Versehen, wahrscheinlich in ihrer naiven Hoffnung, die nächsten tausend Jahre endlich sorglos leben zu dürfen – an diesen Führer delegiert wurden. An einen Mann, der nie ein Ehemann[3], nie ein Vater und – man kann sogar denken – nie ein Sohn war und sonst auch nichts Vernünftiges in seinem Leben selbst bewerkstelligte, um den Kindern, Müttern und Vätern anderer ihre Sorgen abzunehmen.
 
*

Die Beendigung des Krieges oder darüber, welche der Weltrichtungen am sichersten ist und warum die Lehrer schmutzige Hände haben

Als erstes nach dieser Verantwortungsübernahme beendete der Vater eigenhändig seinen Krieg, seinem der Mutter gegebenen Wort treu folgend. Auf einem Fußmarsch meldete er dem Offizier seine durch schlecht umwickelte Fußlappen bis zu Blutblasen geschlagenen Füße, die er dringend umwickeln müsse. Dagegen war nichts einzuwenden: Ein Soldat mit kaputten Füßen ist auf dem Marsch noch schlimmer als gar keiner.
 
„Mach das und hol uns schnellst wieder ein.“ – befahl der Offizier.
 
„Jawohl, Herr Offizier!“ – bestätigte der dankbare Vater seine Bereitschaft, dem Befehl unverzüglich zu folgen.
 
Er ließ sich am Straßenrand nieder, zog seine Stiefel aus und wickelte langsam die Fußlappen um, bis seine Abteilung hinter dem nächsten Hügel verschwand. Dann ließ er seine Waffen liegen und lief in den nah liegenden Wald hinein. Der Vater lief durch den Wald und stieß bald auf ein Försterhaus. Er musste dem alten Förster nichts vormachen und nichts lange erklären. Der Spuk war für jeden vorbei, und es galt für jeden nur noch, sich selbst zu retten und einander dabei womöglich zu helfen.
 
Er bekam von dem Förster einen alten, etwas zu engen und zu kurzen Zivilanzug und alte Schuhe. Seine schwarze SS-Uniform – dem Förster war auch angst und bange davon, trotz aller Stoffqualitäten, Gebrauch zu machen – vergrub der Vater unter dem nächsten Baum samt all seiner Papiere, Fotos und sonstiger Kleinigkeiten, die seine jüngste Vergangenheit verraten könnten. Er wurde zu einem Niemand, aus einem Nirgendwoher, in einem Nirgendwo namens Ex-Deutschland.
 
Der Vater wusste bereits aus dem Briefwechsel mit seiner Schwester – der mit der Mutter vereinbarten Kontaktperson –, dass seine Familie mit allen in Polen hinterbliebenen Flüchtlingsfamilien unterwegs nach Sibirien war. Sein Plan war so einfach wie auch gefährlich: Die vordersten russischen Kampftruppen vorbeiziehen zu lassen und dann – wie versprochen – zu seiner Familie nach Osten zu gehen, wo immer sie dort auch sein möge. Hauptsache – die Richtung war vorbestimmt.
 
Seine Kameraden, deren Familien ebenfalls in Polen zurückblieben und die über ihre Deportation von dort nach Sibirien Bescheid wussten, wählten die Gegenrichtung, als sie unter sich, zusammen mit dem Vater ihre Nachkriegspläne überlegten. Der Osten war ihnen zu brenzlig und sie wollten nur noch zu Amerikanern in den Westen gehen.
 
In seinen Fluchtplan weihte der Vater nur zwei seiner Kumpels ein, die ihn vor der Ermordung des Feldwebels mit ihrem Körpereinsatz aufhielten und denen er vertraute. Die beiden entschieden sich ebenfalls für den Westen und kriegten von dem Vater die Adresse seiner Schwester dort – ein Stückchen Papier, das den Kameraden etwas Heimgefühl und Wärme in der  Fremde vermitteln durfte.
 
Recht hatten sie: Das Risiko war hundertprozentig da. Die Chance, am Kriegsende mit ihren für sie als sowjetische Bürger im Vergleich zu den übrigen SS-Angehörigen doppelt so gefährlichen Brandmalen[4] der Waffen-SS unter den Armen durchzukommen, war nahe zu Null. Sie hatten schon die schrecklichen Geschichten über die Jagd auf die SS-Männer, und zwar bei allen Alliierten, gehört, bei der alle großwüchsigen Kriegsgefangenen, von ihrer Bekleidung unabhängig, sich ausziehen und ihre linken Arme hoch halten mussten.
 
Da sie sich doch nicht schuldig fühlten, mit dem von der SS begangenen Greuel etwas am Hut zu haben und nur notangeschafftes Kanonenfutter darstellten, sahen sie ihre einzige Rettung darin, im Westen wenigstens einen fairen Prozess zu bekommen, was bei den „heimatlichen“ Russen undenkbar gewesen wäre. Der Vater gab ihnen auch recht, dass die Chance zu überleben im Westen größer sei, aber ihm ging es nun nicht um die Chancen. Ihm ging es um seine Familie – um die Mutter und drei schutzlose Kinder.
 
Was sie alle aber damals noch nicht gehört hatten und nicht wissen konnten, war die Tatsache, dass der Weg nach Westen für mehrere wie sie trotzdem im Osten endete. Noch dazu, nach allem in den Rheingefangenenlagern[5] erlebten Schrecken. Die Amerikaner und Engländer lieferten die ex-sowjetischen Bürger den Russen aus, dessen voll bewusst, dass sie Stalins Rache ausgesetzt werden und dass die Auslieferung für die Betroffenen ihren absolut sicheren Tod bedeutete. Die Hälfte von hundertfünfzigtausend im Mai 1945 im Dritten Reich aufenthältlichen Deutschen aus Russland – meistens Männer im Militärdienst – wurde von westlichen Alliierten den Sowjets zur Repatriierung ausgeliefert.
 
Bevor man mit der Umschulung von „nazidegradierten“ und „pervers gewordenen“ Deutschen beginnen und ihnen dann Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit beibringen wollte, musste man eben etwas Dreck aufräumen, mit den Russen einen Deal machen und eigene Kriegsgefangene, die durch Sowjets aus deutschen Kriegsgefangenenlagern „befreit“ wurden und in die sowjetischen Lager gelangten, rausholen, auch wenn ihre die Gerechtigkeit bringenden Hände dabei schmutzig werden mögen.
 
Das wollten die ausgelieferten deutschen als auch russischen Sowjetbürger nicht verstehen und wollten sich damit nicht zufrieden geben. Auch die russischen Kosaken nicht, die von Engländern verräterisch entwaffnet und danach doch noch den Sowjets übergeben wurden. Dabei brachten sie sich samt ihrer Familien eigenhändig und massenhaft um, bevor die Reste ihrer im Kriege auf der deutschen Seite kämpfenden Armee dann in Russland von der NKWD[6] massenhaft umgebracht wurden.
 
Ob das gleiche seinen Kameraden passierte, erfuhr der Vater nie. Seine Schwester schrieb ihm später aus Westdeutschland, dass sie doch ein Mal kurz bei ihr unterwegs nach den Westen vorbei gekommen waren. Seitdem hörte sie nichts mehr von ihnen. Sie schrieb – nur so zwischendurch – über die Herren namens sowieso, als ob sie ihre alten Bekannten gewesen wären und nicht Vaters Kameraden. Der Vater aber verstand diese Botschaft, und das war das letzte und das einzige, was der Vater nach Jahrzehnten von seiner Schwester über seine Kumpels erfuhr.
 
Was er dann später dazu von der „Deutschen Welle“ erfuhr, bestätigte nur zusätzlich seine Entscheidung. All diejenigen, die politisch und historisch an diesem Krieg schuld waren, diesen Krieg provozierten, ihn nicht verhinderten, ihn entfesselten und führten, rechneten jetzt mit den Soldaten ab, die sie aus ihren politischen Überlegungen und zur Gloria der Weltpolitik ins gegenseitige Abschlachten – wie immer den Dreck und das Blut jeder misslungenen Politik in Kriegen auszulöffeln – schickten. Diese Abrechnung kam dabei von allen Seiten.
 
Die vor kurzem noch allesamt „perversen“, nun aber umgeschulten und in Westdeutschland demokratisierten Deutschen verrieten genauso – wie ihre Umschullehrer die Sowjetbürger verrieten – die armseligen noch am Leben gebliebenen Reste ihrer Elitesoldaten, indem sie diese – von ihrem Staat und Vaterland ausgelesenen, nazierzogenen, ausgenutzten, ausgerotteten und schon einmal ausgelieferten – Männer, im Unterschied zu den kleinwüchsigen und nicht weniger dreckigen Wehrmachtsangehörigen, so gut wie ausgebürgert hatten, für sie nicht sorgen und von ihnen als „Persona non grata[7] nichts wissen wollten.
 
Angesichts dieser späteren Auslieferungen und „Ausbürgerungen“ erwies sich die damals fast verrückt erscheinende Entscheidung des Vaters doch als die einzig richtige, die ihn rettete. Der Vater nutzte seine winzige Chance besser als seine Kameraden, weil er sich wieder mal von Massen und Herden trennte und sich nicht auf Deutsche, Amerikaner, Briten, Franzosen, Russen und nicht einmal auf den allmächtigen, aber zur Zeit abwesenden Gott, sondern nur auf sich selbst verließ. Und so ging sein Plan auf.
 
Jeden Tag ritt der Förster auf seinem Pferd zu der Strasse hinaus, von welcher der Vater zu ihm abbog, um zu gucken, ob die Russen anrücken. Als er nach zwei solchen Auskundschaftsausflügen von der Strasse zurückkehrte, meldete er dem Vater, dass die russischen Kampftruppen mit Panzern und Geschützen vorbeiziehen. Der Vater wartete noch zwei Tage im Walde und ging dann auf die Strasse, der aufgehenden Sonne entgegen.
 
Das erste, was ihm begegnete, war eine Soldateska auf einem Gaul mit Wickelgamaschen aus Fußlappen statt Stiefeln und in einem dreckigen Soldatenmantel weit über seine Größe – ein großer Sieger von rückwärtigen Diensten.
 
„Uhr jestj?“[8] – begrüßte er den Vater auf Halbdeutsch-Halbrussisch und zeigte noch sein nacktes Handgelenk dazu.
 
„Ne-e-e, Nema Tschasow.“[9] – erleichterte der Vater mit seinem „puren“ Halbrussisch-Halbukrainisch die fremdsprachigen Bemühungen des Siegers, zeigte ihm ebenfalls sein nach der Vergrabung all seiner „Schätze“ nun ebenfalls nacktes Handgelenk dazu und dachte sich:
 
„Na du scheinst ein guter Krieger zu sein, wenn du noch nicht einmal eine Uhr erbeutet hast, während deine Kameraden schon ganze Beutezüge vollbeladen mit sich schleppen und nach Hause schicken.“
 
Der vor allem durch die vom Vater benutzte eigene Heimatsprache enttäuschte Reiter verlor vollkommen das Interesse an Vaters Person. Gerade das erhoffte der Vater und plante es für seinen Gang nach Osten, als er die russischen Kampftruppen im Wald vorbei ziehen ließ. Er selbst trug nur ein mageres Säckchen am Rücken. Darin lagen ein Stück Brot und drei schön bemalte und absolut wertlose Blechdosen, die hierzulande auf jedem Müll- oder Scherbenhaufen zu finden wären.
 
In einer der Dosen lag sein Rasierzeug, in den anderen beiden ein paar wertlose Souvenirs, ein paar Pfennige und Reichsmark. Sonst rein gar nichts – ein gesichtsloser, langer Kerl in einem komischen, viel zu kurzen und zu engen, abgetragenen Anzug und klappernden Schuhen – einer von Millionen zu dieser Stunde Null durch Europa strolchenden Menschen aller Nationalitäten.
 
*

Der Militärdienst auf der anderen Seite oder darüber, wie ein Mensch zu einem real existierenden Menschen wird

Der Vater ging weiter, zeigte bei jeder Begegnung mit Russen gleich sein nacktes, nicht beuhrtes Handgelenk und fragte nach dem Aufenthaltsort des nächsten russischen Kommandanten. Er fand ihn so gegen Abend in einem kleinen und komplett zerstörten Städtchen in Mecklenburg-Vorpommern, meldete sich beim Kommandanten und erzählte ihm seine längst vorbereitete und innerlich mehrmals auf seinem Wege wiederholte Legende.
 
Die Legende bestand aus wahrheitsgetreuen und leicht überprüfbaren Angaben sowie zwischendurch aus kleinen, diese Angaben verbindenden und manches überbrückenden Lügen, die unter den herrschenden Umständen gar nicht zu überprüfen wären, und klang ungefähr so:
 
„Ich lebte mit meiner Familie in Stalino und arbeitete als Maurer sogar am Bau einer Munitionsfabrik, als die faschistischen Okkupanten kamen. Unter ihnen musste ich weiter als Maurer arbeiten. Bei ihrem Rückzug im Jahre 1943 verschleppten sie mich nach Deutschland. Hier musste ich als Zwangsarbeiter weiter mauern, und zwar in einem Örtchen hier in der Nähe. Meine Frau mit zwei Kindern war dort drüben geblieben, und ich möchte jetzt gerne zu meiner Familie zurück. Mit dieser Absicht bin ich in einer Nacht, als sich die Front näherte, in den Wald abgehauen, versteckte mich dort und wartete auf meine Befreiung durch unsere glorreichen russischen Truppen. Und jetzt stehe ich hier vorm Genossen Kommandanten und bitte ihn hochachtungsvoll, mir zurück zu meiner Familie zu verhelfen.“
 
Der nicht so alte und mit der NKWD nichts zu tun habende Kampfoffizier – der jetzt plötzlich von seinen Befehlshabern verpflichtet wurde, ein Zivilleben vor allem für seine Soldaten, aber auch für die deutsche Bevölkerung hier einzurichten, ohne die leiseste Ahnung davon zu haben, wie es in diesen Ruinen gehen soll – verstand aus dem ganzen Gequatsche nur eins, nämlich das, was der Vater auch von ihm wollte: Herr Gott schickte ihm in die Hände einen dringend benötigten, professionellen Maurer, um ihn sein böses Zivilschicksal zu erleichtern.
 
„Du willst es wohl besser, als ich haben, was?“ – fing er streng an, seine Freude verbergend – „Schlag dir diesen ‚nach Hause’-Gedanken  zunächst aus dem Kopf. Wir alle haben unsere Familien seit Jahren nicht gesehen und wollen nicht weniger als du zu ihnen nach Hause. Also, du bleibst hier unter meinem Kommando und mauerst tags und nachts, was ich dir zu mauern befehle. Klar? Finde dir hier in der Nähe der Kommandantur eine Ecke als Unterkunft. Verpflegung mit Soldaten. Gleich morgen früh beginnst du mit der Wiederherstellung von Backöfen in der hiesigen zerstörten Bäckerei, damit ich alle hier wenigstens mit etwas Brot versorgen kann. Kannst du das?“
 
„Schon mal gemacht“ – murmelte kurz der sichtlich traurig gewordene und im Inneren jubelnde Vater, Genossen Kommandanten verlassend.
 
Es übertraf all seine ziemlich frommen Hoffnungen und Erwartungen. Sein individueller Plan namens „Drang nach Osten“ funktionierte. Seine Überlebenschance stieg überraschend schnell weit über die anfängliche Null hinauf. Gleichwohl verstand er, dass es noch nicht alles und noch lange nicht alles vorüber war.
 
Das waren eben die Frontbedingungen mit ihrer Hektik und ihrem notdürftig-provisorisch eingerichteten Dasein, die er selbst kannte und auf die er setzte. Sobald sich die Lage etwas stabilisiert und beruhigt, kommen professionelle Verhörer und Henker von der NKWD nach. Dann wird es ernst. Aber zunächst war er durch diese offizielle Arbeitsstelle legalisiert und hatte eine Verschnaufpause.
 
Seine Legende war so gut wie unanfechtbar. Der Vater ging sie trotzdem immer wieder gedanklich durch:
 
„Diese ‚anderen’ werden alles, was sie können, überprüfen lassen. Und alles wird genau stimmen – mein Name, meine Adresse und mein Arbeitgeber vor dem Krieg in Stalino. Alles andere müssen sie mir glauben. Oder auch nicht.“
 
Er freute sich jetzt besonders über seine mehr instinktive Entscheidung vom Frühling 1942, nicht auf sein Landgut zurückzukehren, sondern ein Stück neutrales Land ziemlich weit weg von seinem Landgut zu nehmen. Manche beanspruchten doch ihr Land zurück und veranstalteten dort sogar ihre Racheaktionen.
 
„Es wird vor allem dort nach Zeugen gesucht und gefragt, ob die alten Herren zurück waren. Sie hatten diese Befragungen womöglich bei der Befreiung der Ukraine schon durchgeführt und haben die Namenslisten bei sich in ihren Akten. So wird jetzt diese Rache wieder zurückschlagen, wie sie es noch immer in ihren Teufelskreisen tat.“
 
„Bei mir kriegten sie aber bestätigt, dass ich nicht einmal in der Nähe unseres Landguts war und hier, in zerstörtem Deutschland, finden sie jetzt auch rein gar nichts. Dass meine Familie hier war und von ihnen nach Sibirien verschleppt wurde, finden sie natürlich heraus. Aber ich konnte ja davon nichts gewusst haben, auch von dem dritten Kind nicht, deswegen das Jahr 1943. Ich wurde ja viel früher als Arbeitskraft nach Deutschland verschleppt und wusste nur, dass meine Familie damals dort drüben blieb.“
 
„Das Entscheidende wird aber sein, dass sie so viel Zeit für mich auch nicht haben werden. Ich, als Deutscher, wurde ja mit Stalins Erlass vom August 1941 bereits zur Deportation in die Verbannung verurteilt und, wenn sie zu meiner Nationalität keine zusätzlichen Belastungen und Extras aus der Kriegszeit finden, werden sie schließlich auch nach diesem Erlass handeln. Es ist auch schon schlimm genug und schlimmer als das – vorausgesetzt natürlich, dass sie mir doch nichts anderes nachweisen können – darf es nicht kommen.“
 
Dieses Grübeln packte ihn jede freie Sekunde, vor allem aber abends. Und trotz aller logischen und vernünftigen Voraussagen und Schlussfolgerungen, zu denen er gelangte, blieb eine totale Ungewissheit, die ihm zu schaffen machte und seinen Kopf fast platzen ließ: Die Brutalität und Unberechenbarkeit der NKWD-Henker waren mit keiner Logik und mit keiner Vernunft zu bemessen und vorherzusagen.
 
Zwei Monate lang arbeitete der Vater im Haushalt des russischen Kommandanten, der mit ihm sehr zufrieden war. Als die besagte Filtrierungszeit kam, bescheinigte der Kommandant, dass der Bürger sowieso vom dann und dann bis dato bei ihm, im Haushalt seiner Militärabteilung, als Maurer beschäftigt gewesen sei und wegen Repatriierungsmaßnahmen mit der besten Referenz entlassen werde. Unterschrieben Major sowieso und besiegelt, wie es sich gehört.
 
Dies war das erste Dokument in Vaters neuem Leben. Er war kein Niemand mehr, sondern hatte einen bescheinigten und besiegelten Namen, konnte sich hiermit ausweisen und sogar seine Verdienste bei der sowjetischen Armee nachweisen. Dies war schon gar nicht so wenig.
 
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Die Filtrierung und die Repatriierung oder darüber, was die Kriegszeit kostet

Die von NKWD-Leuten im Rahmen der Repatriierung durchgeführte Filtrierung bedeutete nichts anderes als die von sowjetischen Bürgern auf den vom Dritten Deutschen Reich besetzten Territorien begangenen Verbrechen aufzudecken und ein entsprechendes Bestrafungsmaß festzulegen. Dabei gab es a priori keine Unschuldigen. Ein Verbrechen stand bei  jedem im voraus fest, der bei Deutschen war, während sein „Vaterland“ kämpfte und ausblutete.
 
Diejenigen filtrierten Verbrecher, deren in kurzen Prozessen gefälltes Urteil kein gleich hier vor Ort vollstrecktes Todesurteil war, galten als repatriiert, was wiederum mehrjährige Zwangsarbeit in Lagern ihrer Heimat bedeutete. Am schlimmsten traf es eigene sowjetische Kriegsgefangene. Die Mindeststrafe dafür, dass sie sich bei ihrer Gefangennahme zu erschießen vergaßen, wie es ihnen Stalin befahl, war jahrelange Untertagesklavenarbeit in Kohlegruben oder als Holzfäller in sibirischen Wäldern.
 
Für den Vater ging es so aus, wie er das vorhergesehen hatte. Ohne ihm etwas Zusätzliches nachweisen zu können, verurteilten sie ihn pauschal zur Lagerzwangsarbeit mit abschließender Zwangseinsiedlung unter Kommandanturaufsicht in eine der seit 1941 bereits existierenden deutschen Sondersiedlungen hinter dem Ural. Dadurch bekam er weitere offiziell besiegelte Bescheinigungen mit den wichtigen Vermerken „filtriert“ und „repatriiert“.
 
Sie sind nie darauf gekommen, ihm unter den linken Arm zu gucken. Das wäre sein Ende. Ihn rettete – wie schon gesagt – die Tatsache, dass er jetzt, wie im August 1941 und im Mai 1945, wieder im Alleingang und nicht mit Massen unterwegs war, dass er nicht in der Frontnähe in seiner Uniform gefasst wurde, sondern sich ziemlich weit von der Frontlinie freiwillig stellte und sich noch dazu in der sowjetischen Armee verdient gemacht hat, ohne dieser Armee irgendwelche Diversionsschäden eingerichtet zu haben.
 
Dazu kamen noch seine komischen Lumpen und sein so entrüstendes Russisch mit einem mehr ukrainischen als deutschen Akzent. Und als Allerletztes spielte bestimmt eine Rolle Vaters schauspielerische und in seinem Leben immer nützlich gewesene Gabe, sich als Einfaltspinsel so gut darzustellen, dass es keinem einfiel, bei so einem irgendwelche Hintergedanken oder Geheimnisse zu vermuten. Der Vater und die anderen Repatriierten wurden wie üblich in Viehwaggons gestopft und verriegelt.
 
Der Zug fuhr knarrend und keuchend in Richtung Osten ab.
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Die Gefangenschaft oder über die Relativität aller KZs und  menschlicher Belastungsgrenzen

Der Zielort war unbekannt. Die Reise mit mehreren langen Zwischenstopps, mit Hunger, Kälte, Krankheiten und mit ebenfalls vielen Toten dauerte bis in den Spätherbst. Es wurde auf einmal weiß draußen und immer kälter. Hungernde und frierende Menschen starben wie Fliegen im Herbst. Ihre Leichen wurden beim nächsten Halt von den Kameraden-Gefangenen gleich hier, an den Gleisen, auf die schnelle begraben.
 
Ende Oktober kam der Zug in Molotow[10] am Ural an. Der eisige Wind und Frost machten den erschöpften Aussteigenden sehr zu schaffen. Der Vater hatte immer noch seinen wirklich bis zu Lumpen abgetragenen kurzen Anzug vom Förster an, aber den Körper drunter wickelte er mit altem Papier um, das er noch vor der Abreise vorsorglich in seinen mageren Sack reinstopfte. – Seine auf den Kenntnissen über perfekte Wärmeisolierungseigenschaften von Papier basierende Erfindung, die ihm auch später immer nützlich war und sein Leben rettete.
 
Weiter ging es im Fußmarsch. Der Zug stand auf einem Abstellgleis fern vom Bahnhof. Hier wurden sie in eine Kolonne zusammengetrieben und krochen fort, beiderseitig von den bewaffneten Rotarmisten umzingelt. Außerhalb der Stadt führte der Weg – eine vollverschneite Landstrasse – in den Wald. Im Walde war es nicht so windig, und es schien dadurch, etwas wärmer zu werden.
 
Auch die Bewegung erwärmte die Sträflinge. Nur kostete diese Bewegung die kaum noch gebliebene, kostbare Energie und die Energie kostete das Leben. Ab und zu hörte man am Ende der Kolonne kurze trockene Schüsse – noch ein Entkräfteter fiel in den Schnee und wurde von der Wache erlöst. Erst zum Abend hin, schon in der Dunkelheit, erreichte ihre Kolonne das mit Stacheldraht und Wachtürmen an jeder Ecke umzäunte Konzentrationslager. Ihr Endziel.
 
Der Vater schaffte es wieder, seine nächste Lebensstation erschöpft, aber immer noch lebend zu erreichen. Wieder ein Grund, sich selbst mehr als jemand anderem oder sogar dem Schicksal zu danken. An Gott glaubte er schon lange nicht mehr, seit sein tief evangelischer Vater im evangelischen Prischib starb und er, noch ein kleines und ebenfalls evangelisches Kind, von Vaters Haus in die gottlose Welt fort musste.
 
Am Anfang sehnte er sich nach Gott und versuchte, die auf ihn auferlegte Gottesstrafe zu verstehen. Aber für seine kleinen Kindersünden wurde diese Strafe immer größer, immer schwerer und immer unverständlicher, bis er es aufgab, Gottes Vorhaben mit ihm zu rechtfertigen und nach Gottes unergründlichen Wegen zu suchen.
 
Er allein war für sein Schicksal und sein Leben zuständig und verantwortlich. Er lächelte nur verbittert, als er sich mit dem Gürtel „Gott mit uns!“ umschnallen musste. Die meisten damit beschmückten Kameraden wurden gemetzelt und gelangten mit ihrem Glauben an Gott und mit seiner Hilfe bestimmt ins Paradies unter Gottes Wache. Der Vater bevorzugte diese dreckige irdische Hölle und diese dreckige menschliche Wache.
 
Er freute sich nicht. Er überlegte nur, ob er jetzt und hier, von kleinwüchsigen, zum Militärdienst aus welchen Gründen auch immer nicht geeigneten oder nicht zugelassenen Rotarmisten bewacht, unter denen die meisten – welch schwarze, in alle Geschehnisse tausendmal hineinschleichende Ironie des Lebens! – sowjetische Juden waren, den Höhepunkt dieser Hölle erreicht hat. Und doch ist das Leben – mit oder ohne Gott – viel zu ironisch und immer für Überraschungen viel zu gut, um es gegen Paradies mit Gott umzutauschen. Schließlich kann man das echte Paradies auch nicht zu schätzen wissen, ohne mal durch die echte Hölle gegangen zu sein.
 
Schon mehrmals in seinem Leben dachte der Vater:
 
„Na, wenn ich das überlebe, kann mir nichts mehr passieren.“
 
Er unterschätzte die Steigerungsfähigkeit der teuflischen Schicksalsrückschläge. Schlimmer ging es immer. Nun wusste er, die richtig echte Hölle bisher noch nicht erlebt zu haben. Die Sträflinge fällten Holz im Walde. Vom Werkzeug gab es nur Zweihandsägen und Äxte. Die gefallenen Holzstämme schleppten sie, an Leinen ziehend, ans Ufer eines Flusses und stapelten sie dort hoch. Im Frühling, als das Eis brach und den Fluss befreite, wurden die Holzstämme ins Wasser heruntergelassen und zur Eisenbahn hin abgeflößt.
 
Die an Flussbögen ans Ufer angetriebenen oder im Fluss verstauten Holzstämme mussten im Herbst von den bis zur Hüfte im eiskalten Wasser stehenden Männern mit Hackstöcken weiterbefördert werden. Zu dieser aus den stärksten und noch einigermaßen gesunden Sträflingen ausgewählten „Elitetruppe“ gehörte auch der Vater. In ein paar Wochen waren sie erledigt. Vaters durch Hunger, Kälte und Nässe erschöpfter Körper fing an, bläulich anzuschwellen. Dieser, sich noch vor zwei Tagen einem Skelett ähnelnde Körper wurde allmählich zu einer Wasserblase mit Elefantenbeinen.
 
„Das war es...“ – dachte der Vater mit einem kaum noch menschlichen Gefühl.
 
Sein Organismus war jedoch immer noch nicht bereit aufzugeben und klammerte am Leben mit einer über alle menschlichen Überlebensfähigkeiten gehenden Sturheit. Diese Resistenz überzeugte sogar die Lagerverwaltung und der Vater wurde ins Lazarett eingeliefert. Ein paar Tage Erholung und etwas besseres Essen machten ein Wunder möglich und schafften den Rest: Die Anschwellung verschwand und etwas Kraft kehrte zurück. In zwei Wochen wurde er aus dem Lazarett entlassen und wieder für die Bullenarbeit eingesetzt.
 
Der wieder auf die Art „Wenn ich schon das überlebt habe,...“ gerstärkte Wille brachte es doch fertig, das Arbeitslager bis zum Ende durchzustehen. Der Vater verlor nur eine Menge Haare, fast alle Zähne und konnte bis zu seinem Lebensende nur noch mühsam und elend Wasser ablassen.
 
Zum Schluss bestimmten sie dem Vater seinen Verbannungsort und waren dabei sogar großzügig: Sibirien ist ja sehr groß und fast gleichmäßig dem normalen Menschenleben fremd, daher war es den Vollstreckern schließlich egal, wohin mit dem Vater und sie fragten ihn, ob er irgendwelche Sonderwünsche hätte, beziehungsweise irgendwelche von ihm bevorzugten Orte in Sibirien wüsste.
 
Er wusste überraschenderweise einen, nämlich dort in der Nähe von Nowosibirsk, wo seine Familie, bereits seit mehr als zwei Jahren auf ihn wartend, in so einer Sondersiedlung krepierte. Seine drei Jahre andauernde Kriegsodyssee ging endlich zu Ende und der Vater stand – dank seines fast unerwartet geglückten Plans – unmittelbar davor, seine Familie wieder zu sehen.
 
Es wurde ihm mit seinem „Sonderwunsch“ entsprochen, und im Herbst oder, nach sibirischen Verhältnissen, schon im Frühwinter 1947 kehrte er – wie versprochen – zu seiner in diese sibirische Sondersiedlung gesteckten Familie –  „nach Hause“ – zurück.
*
 


[1] hier: durch mangelhafte Gehirnfunktionen verursachter und auf einen Schock folgender Zusammenbruch eines Organismus (freie Interpretation)
[2] Ingeborg Fleischhauer „Das Dritte Reich und die Deutschen in der Sowjetunion“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), Stuttgart, 1983 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Nr. 46)
[3] Hitler schloss nur unmittelbar vor seinem Ende formale Ehe mit Eva Braun
[4] Die Soldaten der Waffen-SS trugen eine Tätowierung mit ihrer Blutgruppe unter dem linken Arm, um die Hilfe bei Verletzungen schneller bekommen zu können
[5] Im Rheintal wurden einige Hektar Wiese mit Stacheldraht umgezäumt, dorthin wurden Tausende der deutschen Kriegsgefangenen zusammengetrieben und ohne Verpflegung sich selbst überlassen. In diesen Lagern kam es zum Kannibalismus – die hungernde Kriegsgefangene verzerrten ihre am Hunger und an Krankheiten gestorbenen Kameraden
[6] Narodnij Komissariat Wnutrennich Del (rus)  – Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, der Vorgänger des KGBs (bis 1946), der zusammen mit seinem Nachfolger KGB  in der UdSSR von 20 bis 50 Mio Opfer – Ermordeten, zu Tode Gefolterten, in KZs Umgekommenen – zu verschulden hat
[7] Person unerwünscht (lat.) – juristischer Ausdruck für Personen – wie ausländische Diplomaten –, die aus dem Lande ausgewiesen werden.
[8] „Hasst du eine Uhr?“
[9] „Nein, ich habe keine Uhr“
[10] heutige Stadt Permj am Ural in Russland 

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