Enno Ahrens

Zuhause

Frederik hatte diese lästige Ausfragerei satt. Morgens auf dem Schulweg war es jedes Mal die dicke Magd Tiene: „Na Jungchen, wie geht's dir denn heute?“ In der Schule waren es die Lehrer, die einen unentwegt mit Fragen löcherten und zuhause bei seinen Eltern sollte er auch Rede und Antwort stehen.

So wünschte er, in jenem Dorf zu sein, in dem keiner irgendwelche Fragen stellte und alle gerade deshalb so glücklich wären. Sein Großvater hatte davon geschwärmt, um ihn zum Stillsein zu animieren, als Frederik selbst noch unentwegt wegen jeder Kleinigkeit gefragt hatte. Hier in der Mark Brandenburg, wo Frederiks Elternhaus stand und der Neunjährige aufwuchs, gleich hinter dem dunklen Wald, sollte es liegen, von außergewöhnlich sattgrünen Wiesen umsäumt mit munteren Kühen darauf.

Eines Nachmittags schnürte Frederik heimlich ein Bündel mit Proviant, klemmte Vaters Spazierstock unter den Arm und zog los, dieses Wunderdorf  kennen zu lernen, und er schlenderte frohgemut über die langweiligen Wiesen seines Heimatortes hinein in den angrenzenden, tiefen Mischwald.

Die Sonne stand noch hoch und blinzelte durch die Baumkronen. Seine Armbanduhr benutzte Frederik als Kompass, was ihn sein Vater beigebracht hatte. Immer wieder verließ er die kreuz und quer verlaufenden Forstwege, um seinen Kurs nach Norden einzuhalten. Stundenlang war er voller Zuversicht so weitergetrabt, als ein Gewitter aufzog. Er dachte an Umkehr. Doch seiner Annahme nach war er schon viele Kilometer gewandert, so dass es zum ersehnten Dorf kürzer dauerte, als wenn er den Rückweg antrat.

Allen Mut zusammen nehmend, marschierte er deshalb trotzig weiter. Es wurde zunehmend schwüler. Dann krachte es ohrenbetäubend. Ein Blitz war in geringer Entfernung von ihm in einen Birkenbaum eingeschlagen. Reflexartig hatte Frederik sich auf den Boden geworfen, als hätte ihn die Einschlagswucht niedergestreckt. Ein Todesschrecken durchzitterte seine Glieder. Die Hände hatte Frederik vor die Augen gepresst. Erst als kein Donner mehr ertönte, spähte er zaghaft umher. Um ein übriggebliebenes Baumskelett züngelten letzte Flammen und Regen prasselte nieder.

Kurz darauf trafen stellenweise Sonnenstrahlen auf den dunklen Waldboden, über dem es wie in einer Sauna dampfte, und grasiger Ozongeruch erfrischte die Luft. Während der Wald zunehmend heller wurde, sammelte der Junge sich wieder, und Hoffnung keimte auf, dass sich das Dorf in der sich ihm auftuenden Lichtung befände, und mäßigte seinen Puls. Jedoch zeigte sich ihm nur ein schmutziger Tümpel; das idyllische Dorf rückte in unerreichbare Ferne, denn ein nicht endender Wald stand bedrohlich vor ihm. Erdrückende Zweifel begannen ihn zu quälen.

Frederiks Beine wurden zunehmend schwerer. Doch er peitschte sie mit seinem verzweifeltem Willen erbarmungslos an, durch einen düsteren Fichtenbestand. Regenwasser ergoss sich in kleinen Schwällen von den Ästen. Frederik rutschte auf einem der glattgewordenen und überall rumliegenden Aste aus, seine Armbanduhr stieß dabei gegen einen Baumstumpf und funktionierte nicht mehr. Inzwischen dämmerte es gespenstisch. Und Panik ergriff wieder von ihm Besitz.

Unter den hastenden Sohlen krachte das Reisig verräterisch, und Frederik fühlte sich beklommen, denn er glaubte, es hätte böse Waldgeister aufgeweckt, die ihn nun unsichtbar umzingelten. Plötzlich flog eine Eule auf und glitt über ihn hinweg, bedrohlich und blutgierig wie ein Flugsaurier. Frederik stockte der Atem. Er war erschöpft und einer Ohnmacht nahe, fühlte sich hilflos und sehnte sich nach der häuslichen Geborgenheit und nach Tiene, die sich so rührend um ihn gekümmert hatte. Er hatte aber längst die Orientierung und den Glauben an eine Wiederkehr verloren.

Ein Sprung Rehe wurde aufgescheucht und verschwand im vor ihm auftauchenden Unterholz. Vom Fieber gepackt hielt er sie für die räuberischen, fliegenden Hunde des Zeus, von denen der Lehrer erzählt hatte, und es graute ihm entsetzlich; seine Sinne schienen schon zu schwinden, als er das Licht registrierte, was in den Büschen flutete. Hier fand der Wald endlich sein jähes Ende.

Vor Frederik lagen in der untergehenden Abendsonne einige Auen. Es musste der gelobte Ort sein, und er wurde ruhiger. Aber den Rückweg nach Hause musste er allein finden, denn jemanden zu fragen, galt hier ja als tabu.

Rechts von ihm weideten friedlich ein paar Kühe. Eine davon hatte die gleiche Blesse wie seine Lieblingskuh Ella. Nicht all zu weit entfernt stand ein ähnliches Haus wie das seiner Eltern. Auf der Holzbank davor saßen zwei Leute. Ihre Köpfe bewegten sie hin und her, als wenn sie nach irgend etwas Ausschau hielten. Und als Frederik dem Haus näher kam, zeigte der pfeiferauchende Mann auf ihn. Es war sein Vater, und Frederiks Mutter eilte ihm entgegen. Sie sagte: „Junge, wir haben uns große Sorgen gemacht. Wo bist du nur solange gewesen?!“ Er stotterte: „Mei-meine Uhr. . .“ Doch seine Mutter hörte gar nicht hin, sonder drückte ihn einfach an sich. Seinen Vater sah er milde lächeln.

Dass er im Kreis gelaufen war, wurde ihm dann auch bewusst. Irgendwie war es ihm nun aber egal, ob es ein Dorf gab, in dem es verpönt war, Fragen zu stellen. Und als Tiene ihn am Morgen fragte: „Na Jungchen, wie geht's dir denn heute?“, störte es ihn nicht einmal mehr.

*

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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