Matthias Elger

Das Märchen von dem Mann, der von niemandem beachtet wurde

Es war einmal ein Mann namens Herr Schmidt. Er war ein ganz gewöhnlicher Mann und lebte in einer gewöhnlichen Stadt. Eigentlich war er so normal wie jeder andere. Und doch - vielleicht auch wieder nicht. Er wohnte in einer kleinen Wohnung in einem großen Haus in dem außer ihm noch viele andere Menschen lebten. Herr Schmidt liebte graue Dinge. Seine Wohnung besaß diese Farbe ebenso wie seine Möbel. Stets trug er graue Kleidung - meist schlichte Anzüge in akuratem und faltenlosen Zustand. War seine Stimmung am Morgen niedergeschlagen und schlecht, zog er etwas dunkelgraues an, war er guter Laune wählte er einen hellgrauen Anzug für den Tag.
Herr Schmidt war Buchhalter in einer großen Firma und besaß ein kleines Büro. Ein graues, kleines Büro, in dem nur ein schmales Fenster war und eine einsame, grüne Zimmerpflanze den einzigen Farbtupfer darin bildete. Regelmäßig am Morgen, gleich nachdem er die Tür zu seinem Zimmer geöffnet und seinen Mantel auf den Haken gehängt hatte, goß er die Pflanze dort am Fenster. Doch trotzdem wollte aus den grünen Blättern einfach keine Blüte hervor treiben, obwohl es doch ihrer Natur entsprach. Irgendwann hatte Herr Schmidt aufgehört darauf zu hoffen, und strafte die Pflanze seither damit, indem er sie nicht mehr beachtete. Die Pflanze tat es ihm gleich, und wuchs nun immer langsamer.
Jeden Morgen ging Herr Schmidt pünktlich auf die Minute zur Arbeit und kehrte am späten Nachmittag ebenso pünktlich wieder zurück. Herr Schmidt war überhaupt sehr ordentlich und korrekt. Und hielt penibel an seinen Gewohnheiten fest. Immer auf dem Weg nach Hause, der, man braucht es fast nicht zu erwähnen, stets der selbe war, kam er an einem großem Supermarkt vorbei in dem er regelmäßig einkaufte. Eigentlich wäre er ja viel lieber in einen kleinen Laden gegangen, zum Fleischer, zum Bäcker - aber die Leute beachteten ihn nicht. Das war anfangs nicht so schlimm. Und wenn Herr Schmidt einmal in einer trübseligen Minute darüber nachsann, konnte er sich nicht erinnern, wann es damit angefangen hatte.
Eigentlich war es schon immer so gewesen. Und doch war es über die Jahre von Mal zu Mal schlimmer damit geworden. Herr Schmidt dachte dann oft an seine Kindheit. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er in der Schule immer in der letzten Reihe gesessen und wurde nie an die Tafel gerufen, selbst, wenn er sich mit winkenden Händen meldete - was er jedoch bald aufgab, als er einsah, daß es keinen Sinn hatte. Das war so, bis er die Schule verließ um sich eine Lehre zu suchen. Und eigentlich hatte es nie wirklich einen Grund dafür gegeben. Herr Schmidt war nicht besonders gut in der Schule - er war aber auch nicht besonders schlecht. Er hatte keine nennenswerten Hobbys. Er fuhr Rad, aber nur mäßig, mochte Tiere, aber keine speziellen, heckte gelegentlich ein paar Streiche aus, aber nur harmlose und hatte auch sonst keine besonderen Interessen. Wenn er sich hin und wieder die üblichen Fotos in seinem Album ansah, erinnerte er sich, daß er anfangs noch Freunde hatte, mit denen er zum Spielen unterwegs war. Aber diese wurden immer weniger, bis er schließlich in der 5. Klasse niemanden mehr hatte, den er wirklich seinen Freund nennen konnte. Herr Schmidt war nie betrübt deshalb. Es störte ihn auch nicht weiter. Es war eben einfach so und er nahm es hin, ohne danach zu fragen. Er konnte sich erinnern, daß die Leute, denen er begegnete, ihn bis zu einem gewissen Grad in den ersten Jahren immer noch ansprachen. Doch da es meist nur kurze Sätze mit belanglosem Inhalt waren, Sätze wie: „Iß deinen Teller leer, Junge!“ - „Mach Platz, Mann!“ - „Alles gute zum Geburtstag.“ - „Frohe Weihnachten!“ - „Räum dein Zimmer auf!“ - „Mach bitte mal den Mund auf!“ oder „Geh ins Bett!“, hörte er bald nicht mehr hin und ignorierte sie einfach. War das Falsch? Dachte er sich heute. Er schüttelte nur fest den Kopf und begriff nicht, wie dieser Gedanke auf einmal in ihn fahren konnte. Was sollte daran Falsch gewesen sein? Niemand hatte je mit ihm ein wirkliches Gespräch geführt - er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern. Lag es daran, daß man kein gemeinsames Thema finden konnte? Immer wieder kehrte er bei solchen Überlegungen zu der Feststellung zurück, daß sich die Menschen ganz einfach nicht für ihn interessiert hatten. Wobei er jedoch so ehrlich war sich einzugestehen, daß es ihm mit den Menschen stets genauso ergangen war. Früher, besonders in seiner Jugend, hatte er viel darüber nachgedacht. Aber heute nicht mehr. Es war einfach so. Er hatte Zeit seines Lebens keinen Grund dafür finden können. Als Herr Schmidt noch ein junger Mann war, hatte er sich einmal in einem aufkeimenden Gefühl von unerklärlichem Interesse beinahe in ein Mädchen verliebt.
Er dachte wirklich, sie könnte ihn vielleicht mögen. Sie könnte mit ihm sprechen, ja, sie könnten sich vielleicht sogar angenehm unterhalten und besser kennenlernen. Ganze eineinhalb Wochen lang war er fest dieser fixen Idee verfallen. Doch sie beachtete ihn einfach nicht. Anfangs versuchte er ihr nur zaghaft mitzuteilen, daß er gerne ihren Namen erfahren würde, was sie denn am liebsten tat und ob sie Grau auch so gern mochte, wie er. Er schrieb es auf kleine Zettel und heftete diese unter ihrem Fenster an einen Baum. Doch es gab einen Sturm in dieser Nacht, und der wehte die mühsamen Versuche seiner Liebespoesie fort, ohne daß sie je gelesen wurden. Er malte ein Plakat und klebte es an eine Mauer gegenüber ihrem Haus. Doch an diesem Tag fühlte sie sich nicht wohl und blieb Daheim. Und die Wand, an die er sein Liebesflehen geheftet hatte, wurde noch am Vormittag von einer großen Abrißbirne niedergeworfen um einem Neubau Platz zu machen. Er schrieb einen - für seine bescheidenen Möglichkeiten - glühenden Liebesbrief und vertraute ihn der Post an. Doch ein übler Jungenstreich führte dazu, daß der Kasten, in welchen er sein wohl wichtigstes Schreiben seines Lebens eingeworfen hatte, infolge des Zündens eines Knallkörpers in Flammen aufging und seinen Brief zu Asche verbrannte. Der Versuch, mit der Hilfe des Telefons zu ihr zu gelangen, scheiterte an dem verzogenen Hund seines gerade zu Besuch befindlichen Onkels, der das Kabel zerbiß. Immerhin erhielt das ungehörige Tier augenblicklich seine gerechte Strafe in Form eines mächtigen Stromschlages, von dem es ein so starkes Hinken zurückbehielt, daß es dabei immer mit der Schnauze auf den Boden schlug. Ein öffentliches Telefon in seiner Nähe war außer Funktion, ein Zweites wurde gerade aufgrund durchgeführter Rationalisierungsmaßnahmen demontiert und am Dritten fehlte ihm schließlich einfach das nötige Kleingeld. Dennoch gab er sich nicht geschlagen. Als er Tags darauf an einem Cafe vorbeikam, sah er seine Angebetete dort bei einem Eis mit Freunden sitzen. Schließlich nahm er allen Mut zusammen und war fest entschlossen, sie einfach anzusprechen. Nun war er aber nicht gewohnt sich mit Menschen zu unterhalten und geriet bei der richtigen Wahl seiner Worte, erschwert durch seine ihn verwirrenden Gefühle und der Anwesenheit ihrer Freunde in ein ebenso hoffnungs- wie sinnloses Gebrabbel. Dabei gestikulierte er derart heftig mit seinen Händen, daß er ihren Eisbecher - ohne es zu wollen, versteht sich - auf dem Tresen umstieß. Dieser fiel gegen eine Flasche Mineralwasser, das Wasser gegen einen Milchshake, dieser wiederum warf einen Erdbeereiscocktail über den Tisch der gegen eine Flasche Klaren kippte und in eine hübsch geordnete Gruppe von gerade aufgefüllten Likörgläsern stürzte. Von allem, was denn bei dieser kleinen Dominopartie über den Tresen schwappte, ergoß sich ein nicht unerheblicher Teil auf die nicht schnell genug zurückspringenden Anwesenden. In seinem ganzen Leben nicht wieder, war Herr Schmidt daraufhin von einer Vielzahl aufgebrachter Personen gleichzeitig und noch dazu in erheblicher Lautstärke auf ein wiederholtes Mal direkt angesprochen worden.
An diesem Tag sah er ein, daß es keinen Sinn machte, sein lächerliches Ziel weiter zu verfolgen, beugte seine Gefühle der Vernunft und gab sein Vorhaben auf.
Daß er nach Jahren dennoch eine Frau fürs Leben fand und diese vor den Traualtar führte, war jedoch weniger den Pfeilen Amors als vielmehr einer Reihe unglücklicher - oder auch glücklicher, wie man es auch immer bezeichnen möchte - Zufälle zu verdanken.
Als er bei einem letzten Versuch, der aus einer unvorsichtigen Laune heraus geboren wurde, seine persönlichen Angaben einer Partnervermittlung anvertraute, muß diesen irgendwie ein geringfügiger Fehler unterlaufen sein, denn schon sehr bald erhielt er von der Agentur Antwort in Form von Glückwünschen, die ihn dahingehend unterrichteten, daß er sich doch bitte zu untengenanntem Ort und Datum zu seiner Trauung einfinden möchte.
Nun war es sowohl ihm als auch seiner - ihm zu diesem Zeitpunkt gänzlich unbekannten - Zukünftigen Gattin allzu peinlich, das bereits bestellte Aufgebot wieder fortschicken zu müssen. Also gingen beide die Ehe ein und führten diese 21 Jahre lang tadellos, ohne jeden Schnörkel, der Farbe in ihr Leben hätte bringen können und ohne auch nur ein Wort miteinander zu sprechen. Denn seine Angetraute, die ihm das Schicksal auf so wunderliche Weise zugedacht hatte, war ebenso blind wie stumm und verbrachte treu jeden Tag an seiner Seite, wenn er von der Arbeit kam, ohne daß es je zu Klagen hätte Anlaß geben können. Das einzige Mal, als sie das Haus allein verließ, stürzte ein herabfallender Ziegel auf ihren Kopf, der sie einen unbeherrschten Schritt nach vorn tun und auf ein ausgedientes Skateboard treten ließ, mit dem sie gegen einen mächtigen Behälter roter Farbe rollte und schließlich in selbigen hinein stürzte. Auf ihrer Beisetzung hatte Herr Schmidt am Schluß der ziemlich kurzen Grabrede tatsächlich einen Moment lang vor, noch einen Satz hinzufügend an die kleine Trauergemeinde zu richten, nämlich den, daß es am Ende nun doch noch ein wenig Farbe in ihrem Leben gegeben hätte, doch außer dem Pfarrer war niemand da, also behielt er diesen Gedanken für sich.
Die Jahre vergingen, ohne daß sich in Herrn Schmidts Leben etwas wirklich gravierendes ereignete. Die Menschen schenkten ihm auch weiterhin keine Beachtung und ignorierten seine Anwesenheit in ihrer Nähe mit absoluter Hartnäckigkeit. Doch Herr Schmidt hatte sich längst daran gewöhnt, keine Antwort zu erhalten, wenn er eine Frau im Supermarkt nach der Richtigkeit des Preises für die Butter fragte, weil diese fälschlicherweise mit den Strichcodes der Videorecorder ausgezeichnet worden war und ihm dies doch ein wenig Überteuert erschien. Längst war es ihm zur Gewohnheit geworden, an der Kinokasse um das Geld für das Billet gebeten zu werden, nur um festzustellen, daß die Frau hinter dem Tresen eigentlich den Jungen neben ihm gemeint hatte und er wieder einmal umsonst in die Vorstellung konnte. Als direkt angenehm empfand er es, wenn er manchmal den nicht zu umgehenden Weg zur Behörde antreten mußte, um hier eine Angelegenheit zu erledigen. Die Menschen hier schienen ihn jedoch noch auf eine ganz und gar intensivere Art zu ignorieren. Dabei erlaubte er sich so manches mal, sich seinen Paß und einige Urkunden selbst auszustellen, bekam von dem Beamten Stempel gereicht und erhielt auch ohne Kommentar dessen Unterschrift auf die Papiere. Bei dem Gedanken, wie er das Erste Mal Stundenlang hinter den Beamten hergelaufen war, nur um die Auskunft zu erhalten, wo er denn ein spezielles Formular bekommen konnte und schließlich in dem großen Gebäude über Nacht eingeschlossen wurde, stahl sich Herrn Schmidt ein verschmitztes Schmunzeln auf seine Lippen. Seit jener Nacht, in der er viel Zeit hatte durch das Haus zu gehen und alles zu erkunden, wußte er genau, wo welche Behörde zu finden war und mit ihr sämtliche Formulare, Akten, Daten und was es sonst noch Wissenswertes in Erfahrung zu bringen gab. Einmal jedoch ging er wegen seinem Problem zum Psychiater.
Fast eine halbe Stunde lang saß er ausgestreckt und entspannt auf dem ledernen Sofa des Arztes und sah diesem bei seiner Arbeit am Schreibtisch zu. Immer wieder blickte der beflissene Mann dabei auf seine Uhr, bis er letztendlich den Kopf schüttelte und in einem kleinen Büchlein blätterte. Schließlich drückte der gute Doktor eine Taste auf seinem Sprechgerät und fragte seine Sekretärin draußen am Empfang, wo denn Herr Schmidt bleiben würde, mit dem er seit einer halben Stunde einen Termin hätte. Herr Schmidt stand von dem Sofa auf, öffnete die Tür und verließ die Praxis ohne ein Wort des Abschieds.
Auf dem Weg nach Hause beschlich ihn jedoch ein unwohles Gefühl der Angst. So schlimm war es noch nie gewesen. Wie konnte es nur sein, daß niemand ihn sehen konnte? Er war doch nicht unsichtbar - er war doch wie immer! Auf seinem Weg blickte er den Leuten auf der Straße in die Augen. Sie gingen an ihm vorüber ohne auch nur einen flüchtigen Blick auf ihn zu werfen. Sie merkten einfach nicht, daß er da war. Und seine Angst wuchs immer weiter, je näher er dem großen Haus kam, in dem er wohnte. Als er die Treppen nach oben stieg und noch ganz in Gedanken versunken darüber nachgrübelte, hörte er plötzlich oben zwei Frauen miteinander schwatzen. Als er um den Absatz herum kam sah er, daß es seine ziemlich füllige Nachbarin Frau Mehrmann war, die sich so gerne Eierlikörtorten vom Konditor unten an der Ecke kommen ließ, obwohl ihr der kleine Weg bis dorthin nur gut tun würde. Doch zum einen war sie tranig wie eine zu lang gekochte Nudel und zum anderen machte sie dem hübschen Jungen der die Torten austrug immer schöne Augen. Sie stand dort, mit einem Paket Waschmittel in der Hand und schwatzte mit der Dame aus der Etage darunter, die ihren leicht minderbemittelten Sohn jeden Dienstag den Treppenabsatz vor ihrer Wohnung schrubben ließ. Als Herr Schmidt näher kam konnte er nicht umhin, als ihr Gespräch mit anzuhören.
„Haben Sie auch diese entsetzliche Sache in der Zeitung gelesen von dem Rentner, der zwei Jahre lang tot in seiner Wohnung vor sich hin stank, ohne daß ihn jemand aus dem Haus vermißt hatte?“
Und die Dicke meinte darauf: „Ja, greulich nicht wahr! Aber meines Sie nicht, daß so etwas hier in unserem Haus durchaus auch passieren könnte? Ich meine ich habe meinen Nachbar ziemlich lange schon nicht mehr bemerkt. Entweder geht dieser Herr Schmidt zu sehr seltsamen Zeiten aus dem Haus oder er hat gar etwas zu verbergen und geht uns aus dem Weg. Oder aber er sitzt auch dort drinnen - schon seit Wochen - und fängt längst an zu stinken.“
Herr Schmidt blieb empört kaum einen Meter von den beiden entfernt stehen und drehte sich herum, als er diesen Satz vernahm.
„Aber meine gute Frau, wir treffen uns doch beinahe jeden Tag, wenn ich von der Arbeit komme und sie ihr Paket Waschmittel durch das Haus tragen!“ entgegnete Herr Schmidt leicht gereizt und war dabei selbst über seinen forschen Ton verblüfft. Doch keine der beiden schien sein an sie gerichtetes Wort bemerkt zu haben, und fuhren einfach in ihrer Unterhaltung fort. Jetzt sinnierten sie gerade darüber nach, ob es den rechtens wäre, einmal den Hausmeister darüber zu informieren, der überprüfen sollte, ob ihr Nachbar noch gesund und in Ordnung sei.
Da wurde es Herrn Schmidt zu bunt. Energisch trat er an die gute Frau heran und brüllte sie mit leichter Wut in der Stimme an: „Ja hören Sie denn überhaupt was ich sage, Sie fette Schrulle!? Ich bin doch hier! Hier stehe ich und verlange in aller Form einen Entschuldigung!“
Doch noch immer nahm keine der beiden Damen Notiz von seiner Anwesenheit. Sie würdigten ihn nicht einmal eines flüchtigen Blickes, fuhren nur weiterhin in ihrem Tratsch fort und verfielen dabei schließlich auf ein Neues Thema, nachdem sie das vorherige mit dem Beschluß zu Ende geführt hatten, daß es wohl doch besser sei, sich nicht in fremder Leute Angelegenheiten einzumischen.
Herr Schmidt blieb völlig verwirrt neben ihnen stehen und konnte nicht verstehen, was hier eigentlich vor sich ging. Die Angst, die den ganzen Weg über langsam in ihm nach oben gekrochen war, ließ plötzlich seinen Hals trocken werden und schnürte ihm sein Herz zu.
Und er tat etwas, daß er eigentlich gar nicht tun wollte. Etwas, daß gar nicht in seiner Natur lag und im Grunde nichts weiter als eine Reflexhandlung war. Er holte aus und stieß die füllige Frau Mehrmann die Treppe hinunter! Sie schrie kurz schrill auf, als sie mit einem etwas ungelenken Überschlag den Absatz nach unten stürzte und dort in der Ecke wimmernd, aber offensichtlich nicht ernstlich verletzt, liegen blieb. Wobei allerdings das Paket Waschmittel den Sturz nicht überstanden und seinen weißen Inhalt gänzlich über die Unglückliche verstreut hatte. Als ihre Gesprächspartnerin ihr entsetzt von dem Vorfall zu Hilfe eilen wollte, begann sie wüst zu zetern und schlug um sich.
„Sie hinterhältige Hexe! Rühren Sie mich nicht an! Sind sie jetzt völlig beschränkt? Verschwinden Sie! Gehen Sie weg von mir!“
„Aber Frau Mehrmann, ich habe doch überhaupt nichts getan! Die Tür schlug zu. Sie hatten wohl das Fenster offen und Durchzug und waren etwas schwach auf den Beinen!“
„Das ist ja nicht zu fassen! Was erlauben Sie sich! Erst werfen sie mich die Treppe runter, sie heimtückisches Luder, und dann schieben sie es auch noch mir in die Schuhe! Unglaublich!“
Wild keifend warf sie die aufgeplatzte Schachtel Waschmittel nach ihrer Rivalin, die fluchtartig Treppabwärts das Weite suchte.
Herr Schmidt stand nur benommen oben an der Treppe und ging schließlich ziemlich niedergeschlagen in seine kleine, graue Wohnung um sich einen starken Tee zu machen.
Von diesem Tage an sollte sich alles für Herrn Schmidt verändern.
Denn von diesem Tage an, wurde er nicht nur nicht mehr von den Menschen beachtet, sondern sie waren einfach nicht mehr in der Lage seine Anwesenheit überhaupt noch wahrzunehmen.
Es war, als wäre er für alle ein Geist, der in einer anderen, für sie nicht sichtbaren Welt existierte. Herr Schmidt nahm seine lange Jahre vergessenen Vorlieben wieder auf und ging in die kleinen Läden um die täglichen Dinge des Lebens einzukaufen. Das heißt, einkaufen konnte man es wirklich nicht nennen. Da niemand ihn mehr auch nur im mindesten bemerkte wenn er da war, ging er einfach zum Konditor hinein, trat hinter den Tresen, nahm sich, was immer er wollte, und bezahlte, in dem er das Geld selbst in die Kasse tat und sich auch das Wechselgeld selbst herausnahm.
Denn stehlen, stehlen wollte er nicht! Das verbot ihm einfach sein Anstand. Dabei wäre es für ihn nun wirklich überhaupt kein Problem mehr gewesen.
Einmal, es war ein später Samstag Abend und die Geschäfte hatten längst alle geschlossen, überkam ihn ein entsetzlicher Heißhunger auf Käsehäppchen und Kartoffelchips. Als er ihn nicht mehr zügeln konnte, warf er sich schließlich den Mantel über und ging nach unten zu dem Supermarkt, den er immer auf seinem Weg von der Arbeit besuchte. Doch auch dieser hatte längst geschlossen und alles war dunkel. In seiner Not griff er sich einen Stein und warf an der Seite des Gebäudes ein kleines Fenster ein. Augenblicklich gingen die Alarmsirenen los und es dauerte nicht lang, da waren auch schon die Polizisten da und durchsuchten die dunklen und verlassenen Räume des Supermarktes nach dem vermeintlichen Einbrecher. Aber Herr Schmidt machte sich ihretwegen keine Sorgen. Sie bemerkten ihn, wie nicht anders zu erwarten war, ja doch nicht. Und da er sich in der Finsternis nicht zurecht fand und ziemlich lange nach dem Regal mit den Kartoffelchips suchte, kamen sie ihm gerade recht. Sie leuchteten ihm mit ihren Taschenlampen den Weg und in seeliger Ruhe ging er mit seinen Sachen im Wagen, den er vor sich herschob (denn es waren doch noch ein paar Kleinigkeiten mehr geworden) an ihnen vorüber zu den Kassen. Dort legte er sein Geld auf das Laufband und fügte auch noch einen Zettel bei, daß er den Restbetrag (denn er hatte sich in seiner Eile nicht ausreichend eingesteckt), am Montag vorbei bringen würde. Mit freundlichem Gruß, schrieb er darauf, und unterzeichnete auch, wie es sich für einen mitternächtlichen Einbrecher gehörte, brav mit seinem Namen. Ohne natürlich zu vergessen, sich noch für das zerbrochene Fenster zu entschuldigen. Als er am besagten Montag in den Supermarkt ging um seine Schuld zu begleichen, hörte er die Verkäuferinnen über den sonderbaren Fall aufgeregt schwatzen und konnte nicht umhin sich darüber zu amüsieren. Er legte sein Geld auf den Glastresen am Brötchenstand und hatte auch diesem wieder einen kleinen Zettel beigefügt, denn wie sonst sollten sie erfahren, wofür es gedacht war. Kaum hatte er es dort abgelegt, wurde es auch schon von der ziemlich dicken Dame, die gerade noch neben ihm gestanden hatte um selbst einiges einzukaufen, gefunden und mit einem wunderlichen Gesichtsausdruck an die Verkäuferin weitergereicht. Diese warf nur einen flüchtigen Blick darauf und lief dann sogleich in heller Aufregung in Richtung der Büroräume des Marktleiters um diesen von ihrem Fund zu berichten. Herr Schmidt schüttelte nur den Kopf und ging, ohne noch weiter abzuwarten, was denn weiter geschah.
Da er seine Zettel, immer wenn er einmal nicht genügend Geld bei sich hatte - und dies wurde ihm zu einer unangenehmen Angewohnheit - bald in der ganzen Stadt verteilte, war es nur eine Frage der Zeit, wann er es zu erstaunlicher Berühmtheit brachte. Denn alle Welt rätselt, wer denn nur der geheimnisvolle Unbekannte sein mochte, der überall seine Zettelchen verteilte um höflich für seine Schulden um Verzeihung zu bitten und diese dann auch sehr bald mit einer neuen Nachricht anbei beglich. Die Polizei wußte nicht, ob es denn nun in ihre Zuständigkeit fiel, den Unbekannten zu enttarnen und festzunehmen und die „Geschädigten“ wußten nicht, ob sie sich darüber ärgern oder froh sein sollten, daß ihnen letztlich nichts gestohlen wurde und sie obendrein noch eine kostenlose Werbung in der Presse erhielten. Jeder kannte ihn bald, und doch wußte niemand, wer er wirklich war noch hatte ihn je jemand gesehen. Eine Zeitlang amüsierte sich Herr Schmidt über seine neue Berühmtheit. Ja, er glaubte sogar, damit auf seine Weise den Menschen wieder ein Stück näher gekommen zu sein und das gab ihm ein gutes Gefühl. Doch irgendwann waren die Meldungen nichts Neues mehr. Und nach einer Weile sprach niemand mehr davon oder erinnerte sich daran. Und für Herrn Schmidt kehrte die alte Einsamkeit zurück, vor der er sich mehr und mehr zu fürchten begann.
Immer öfter grübelte er jetzt darüber nach, was in seinem Leben nicht Richtig gelaufen war und was er Falsch gemacht hatte? Denn etwas mußte es doch gewesen sein!
Aber er fand keine Antwort darauf. Oder war es am Ende eine seltene Krankheit?
Bei solchen Gedanken saß er einmal an einem herrlichen Sommertag im Park auf einer Bank und beobachtete dabei wehmütig die an ihm vorbeigehenden Leute. Eine alte Dame, die mit ihrem quirligen Enkelkind unterwegs war und dessen überschäumende Energie kaum zu bremsen vermochte, ein verliebtes Pärchen, daß ganz in seiner Nähe stehen blieb um sich voller Leidenschaft zu küssen, einen Jogger, der an ihm vorüberhastete oder auch den alten Herrn mit seinem Hund, der sich Zeit nahm, um den Enten am See zuzusehen.
Wie gerne würde er zu ihm hinüber gehen, sich mit ihm unterhalten und gemeinsam mit ihm die Enten füttern. Ein paar Tauben kamen angeflogen und ließen sich auf der Bank und davor nieder. Eine von ihnen setzte sich auf die Schulter von Herrn Schmidt, ganz so, als wäre er nichts weiter als irgendein Platz sonst auf den man sich niederlassen konnte. Und da erkannte Herr Schmidt, daß nicht einmal die Tiere ihn mehr bemerkten. Mit seiner Taube auf der Schulter ging er hinüber zu dem alten Mann mit seinem Hund. Dieser saß brav neben seinem Herrchen und blickte zu den Enten hinüber. Herr Schmidt ging in die Hocke um ihn zu streicheln. Doch der Hund reagierte nicht darauf. Herr Schmidt stand wieder auf, blickte die Taube auf seiner Schulter an und seufzte schwer. Dabei stahl sich eine Träne auf sein Gesicht. Die Taube flog zurück zu ihren Artgenossen und Herr Schmidt ging mit schweren Schritten trübselig den Weg zwischen all den Menschen entlang, die ihn nicht eines Blickes würdigten, hinaus aus dem Park.
Von diesem Tag an vergrub Herr Schmidt sich in seiner Wohnung und ging nicht mehr zur Arbeit. Bald bekam er ein Schreiben von seiner Firma - den ersten Brief seit einer kleinen Ewigkeit! - in dem man ihm mitteilte, daß er seine Stelle verlieren würde, wenn er sich nicht mit einem entsprechenden Grund bei seinem Arbeitgeber meldete. Doch Herr Schmidt kümmerte sich nicht darum. Die Welt war ihm gleichgültig geworden und alles um ihn herum machte ihn nur noch traurig. Bald erhielt er sogar einen zweiten Brief: seine Kündigung. Aber Herr Schmidt las ihn überhaupt nicht. Oft stand er lange Zeit an seinem Fenster und spielte mit dem Gedanken es zu öffnen und hinaus zuspringen. Doch der Gedanke, daß er dann einfach dort unten liegen würde und niemand seine Leiche fortschaffte um sie zu beerdigen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Als er an so einem Tag wieder einmal seine grauen Wände anstarrte, kam ihm der Gedanke etwas zu verändern. Und wie er noch so dabei war und sich bereits eine Liste mit den Dingen machte, die er dafür benötigte, trugen ihn seine Gedanken immer weiter und begannen sich regelrecht zu überschlagen. Wenn er denn schon etwas veränderte, dann wollte er es auch gleich gründlich tun. Mit seiner Liste in der Tasche und dem festen Willen seinen Plan in die Tat umzusetzen ging er los um einzukaufen. Zunächst einmal kaufte er Farben. Viele bunte Farben und Tapeten mit lustigen Mustern. Natürlich nahm er sich wie gewohnt alles einfach aus den Regalen und legte sein Geld mit einem Zettel an der Kasse ab. Er räumte seine Möbel zusammen, deckte sie mit Folie ab und begann seine Wände zu streichen und zu tapezieren. Jede Wand bekam eine andere Farbe. Und so kam es vor, daß sich in einem Zimmer mindestens vier verschiedene Farben oder Tapetenmuster wiederfanden. Voller Begeisterung war er bei der Arbeit und je bunter alles wurde, um so freudiger wurde Herr Schmidt und konnte das Ergebnis kaum abwarten. Am Ende gefiel ihm seine Wohnung sehr. Doch irgendwie paßten nun die grauen Möbel einfach nicht hinein. Zu seinem Bedauern mußte Herr Schmidt jedoch mit einem Blick auf seinen Kontoauszug feststellen, daß seine finanzielle Situation es ihm nicht erlaubte, sich so einfach neue Möbel zu kaufen. Doch völlig von seiner ungestümen Laune und dem Wunsch sein Leben radikal zu verändern bestimmt dachte er sich: „Was soll`s! Es bemerkt ja doch niemand! Und sie haben alle gute Versicherungen!“
So machte er sich auf, lieh sich im Autohaus einen kleinen Transportlastwagen und fuhr mit diesem bei dem nächsten Einrichtungshaus vor. Rote Schränke, ein grünes Sofa, gelbe Stühle, einen blauen Glastisch, pinkfarbene Bilderrahmen, lila Hocker und eine Menge anderer Dinge in sehr ausgefallenem und zuweilen eigenwilligem Design lud er in den Wagen ein. Dabei war es gar nicht so einfach die schweren Möbelstücke so ganz allein durch das Einrichtungshaus bis hin zu seinem Wagen zu schleppen, sie einzuladen und vor allem bis hoch in seine Wohnung zu bekommen. Über eine Woche lang war er damit beschäftigt die vielen Dinge auszuwählen, einzuladen und in seine Wohnung zu transportieren. Das gestaltete sich mit unter ziemlich schwierig und war äußerst Mühsam. Doch als er es schließlich endlich geschafft hatte, alle Möbel an ihrem Platz standen und er den Wagen wieder bei dem Autohaus abstellte, war er Glücklich und zufrieden mit sich. Doch dann fiel ihm beim einräumen der Schränke auf, daß er nur graue Anzüge und Kleider in seinem Schrank hatte. Das war nicht gut. Wenn er schon sein Leben so radikal veränderte, dann wollte er es auch konsequent tun. Also beschloß er, daß es an der Zeit für einen kleinen Bummel durch die Modehäuser und Boutiquen war. Herr Schmidt verstand nicht viel von Mode. Um nicht zu sagen er verstand absolut überhaupt nichts davon! All die vielen Jahre seines Lebens war immer nur Grau seine Lieblingsfarbe gewesen - und er hatte so richtig nie einen eigenen Stil besessen.
So war es nicht weiter verwunderlich das die Wahl seiner neuen Kleider ganz und gar ungewöhnlich und - man könnte sagen - schrill ausfiel. Bunt sollte es sein! Hauptsache bunt, das war wichtig! Und so fanden sich wirklich bald alle noch so bizarren Farbkombinationen und Stile in seinem reich gefüllten Schrank wider. Doch Herrn Schmidt machte es direkt Spaß, durch die Geschäfte zu gehen, alles was ihm gerade in den Sinn kam einmal anzuziehen, sich selbst einzupacken, wenn es ihm gefiel und mitzunehmen. Und dabei war es ihm völlig egal, was auf dem Preisschild stand, denn er lachte nur, wenn einmal etwas unter einer Dreistelligen Summe lag. „Was denn, nur so billig?“ fragte er Scherzhaft die Verkäuferin, die ihn nicht bemerkte, und tanzte beschwingt durch den ganzen Laden. Als schließlich alles in seinem neuen Leben perfekt war und Herr Schmidt in seiner neuen Wohnung, in seinen neuen Kleidern auf seinem neuen Grasgrünen Sofa saß lehnte er sich vergnügt zurück und fühlte sich wohl. Aber es dauerte nur ein paar Tage, da verfiel er wieder den alten trübseligen Gedanken und fragte sich: „Was fange ich nur mit all den schönen, neuen Sachen an, wenn niemand da ist, dem ich sie zeigen kann und der meine Freude darüber mit mir teilt?“

Dann, an einem späten Nachmittag, hörte Herr Schmidt plötzlich, wie sich jemand an seiner Wohnungstür zu schaffen machte. Es war der Hausverwalter, der mit einigen völlig Wildfremden Leuten hereintrat. Herr Schmidt ging um sie herum, sah sie sich genau an, stellte aber gleich auf den ersten Blick fest, daß sie ihm nicht sympathisch waren. Und bei dem, was der gute Mann dort diesen Leuten eröffnete, fuhr ihm ein Schreck in die Glieder.
„Es ist schon ein wenig seltsam, müssen sie wissen. Das will ich gerne zugeben. Bitte lassen sie sich nicht durch das viele durcheinander an bunten Farben stören. Sie können natürlich alles nach ihrem Geschmack verändern, wenn sie sich zu einem Kauf entscheiden sollten. Aber es ist überhaupt alles recht sonderbar an ihrem Vorgänger gewesen, müssen sie wissen. Mehr als dreißig Jahre hat er hier in dieser Wohnung gewohnt und stets zuverlässig seine Miete gezahlt. Er war unauffällig und ...eigentlich erinnere ich mich gar nicht mehr daran, wie er denn tatsächlich war. Aber dann, dann war er plötzlich ohne ein Wort zu sagen verschwunden. Alles hat er da gelassen, wie sie sehen. Wirklich alles. Wir wissen nicht einmal, wann genau er auf einmal nicht mehr da war. Erst nachdem er seine Miete nicht mehr zahlte und auf wiederholte Anschreiben hin nicht geantwortet hat, ist es uns aufgefallen. Nun, uns kam es ja sehr gelegen. Es sollten ja sowieso Eigentumswohnungen daraus entstehen. Bitte, sehen sie sich also nur in aller Ruhe um und lassen sie sich Zeit damit.“
Aufgeregt lief Herr Schmidt um die vier Personen herum und brüllte sie dabei an:
„Aber das können sie doch nicht machen! Das ist meine Wohnung! Ich bin doch hier! Was reden sie denn nur, ich bin doch überhaupt niemals fortgegangen! Das geht doch nicht! Hören sie auf und verschwinden sie sofort aus meiner Wohnung! Auf der Stelle!“
Aber der Hausverwalter und auch die anderen Leute bemerkten ihn nicht. Sie gingen an ihm vorüber, als wäre er überhaupt nicht da. Sie spazierten durch alle Räume, stöberten sogar in seinen Sachen und schüttelten immer wieder entsetzt über die furchtbaren Farben ihre Köpfe.
Ein Schauspiel dieser Art wiederholte sich in den kommenden zwei Wochen noch fünf weitere Male. Und jedesmal war Herr Schmidt froh, wenn es vorüber war. Dann, in der dritten Woche, kamen plötzlich kräftige Männer in blauen Arbeitsanzügen in seine Wohnung und begannen damit, die Möbel heraus zutragen. Wie es schien, hatte es doch noch einen Käufer für die Wohnung gegeben. Und diese teilten seinen neuen Geschmack offenbar ganz und gar nicht. Alles wurde leer geräumt. Und obwohl Herr Schmidt wie ein wilder um sie herumlief, sie schubste, sie trat oder nach ihnen schlug, nichts konnte sie daran hindern. Sie bemerkten ihn einfach nicht. Er konnte machen, was immer er wollte. Sie dachten, sie hätten sich gestoßen, etwas wäre gegen sie gefallen oder einer ihrer Kollegen hätte sie geschlagen, worüber sie gelegentlich in Streit gerieten.
Schließlich stand Herr Schmidt in seiner leeren Wohnung und blickte kalt vor Entsetzten die bunten Wände an. Er ging ziellos durch die Stadt und sah sich die vielen Menschen um sich herum an.
„Sie alle haben ein Leben,“ dachte er sich „und was habe ich?“
Als er wieder zurück kam, waren die Handwerker eingetroffen und begannen damit, die Tapeten herunterzureißen und die Wände mit neuer Farbe zu streichen. Er ging um sie herum. Saß auf einer einsamen Kiste und beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Dabei fühlte er sich wie ein Geist, der dazu verdammt war alles zu Beobachten aber nichts tun zu können. Und es kam ihm ein Gedanke! Warum sollte er seine Wohnung, die er so viele Jahre über geliebt hatte, so einfach aufgeben und kapitulieren? Er würde hier bleiben, wenn die neuen Leute einzogen. Er würde mit ihnen zusammen hier wohnen und schon einen Weg finden, ihnen das Leben hier so richtig zur Hölle zu machen, bis sie freiwillig wieder das Feld räumten!
Dieser Gedanke gefiel ihm. Schließlich waren alle Arbeiten abgeschlossen und die Männer in den blauen Anzügen kamen und begannen damit neue Möbel hereinzutragen. Und an diesem Tag sah er einen kleinen Jungen mit seinem Teddy im Arm auf einem Sofa mitten im Zimmer sitzen, wo früher einmal sein gelber Tisch in Form einer Malpalette gestanden hatte. Das Sofa war nur einfach dort abgestellt worden und hatte noch nicht seinen endgültigen Platz gefunden. Der Junge hatte große blaue Augen die fröhlich strahlten und ganz offenbar hatte er einen Spaß daran, den Arbeitern zuzusehen, wie sie schwer keuchend die Möbel hereintrugen. Seine Füße ließ er vergnügt baumeln, denn sie reichten noch nicht bis zum Boden. Herr Schmidt stand neben ihm und hatte den Eindruck, als würde der kleine Bursche auf etwas warten. Als zwei der Arbeiter einen Schrank mit vielen bunten Aufklebern auf der Außentür hereintrugen, sprang er plötzlich auf.
„Das ist mein Schrank! Da kommt mein Schrank! Mami, Mami wo ist mein Zimmer für den Schrank?“
Eine junge Frau in Jeans kam angelaufen und führte den kleinen in seinen noch leeren Raum, welcher einmal das Arbeitszimmer von Herrn Schmidt gewesen war. Jetzt war er mit hellen Tapeten an den Wänden beklebt worden auf denen dem Betrachter lustige Figuren entgegen lachten. Voller Begeisterung stürmte der Junge in den Raum.
„Oh, ist das toll! Ein ganzes Zimmer ganz für mich allein!“
Herr Schmidt stand an der Tür, sah die lachenden Augen des kleinen Jungen und all seine Pläne waren dahin. Hätte ihn jemand bemerkt, wäre ihm das glückliche Lächeln aufgefallen, daß sich für einen Moment auf sein Gesicht stahl. Herr Schmidt atmete schwer, als er durch die Wohnungstür nach draußen in den Flur trat und noch einen letzten traurigen Blick zurückwarf. Nur einen Koffer hatte er bei sich. Und mit diesem in der Hand ging er die Treppen nach unten aus dem Haus und auf die Straße. Er wußte noch nicht, wo er diese Nacht bleiben sollte. Ziellos wanderte er durch die Straßen der Stadt, wie er es schon so oft getan hatte, und sah dabei den vielen Menschen die achtlos an ihm vorbeigingen in die Gesichter. Schließlich entschloß er sich in der Möbelabteilung eines Kaufhauses die Nacht auf einer bequemen Couch zu verbringen. In einer anderen Nacht bevorzugte er statt dessen in einem Möbelhaus lieber ein richtiges Bett. Jede Nacht probierte er ein anderes aus um herauszufinden, in welchem davon sich denn am besten schlafen ließ. Einmal fand er es ganz lustig, sich an einer belebten Straße im Schaufenster eines Warenhauses auf die Campingmatratze zu legen, die dort mit anderen Urlaubsutensilien und drei lebensgroßen Puppen ausgestellt war. Wie viele Menschen doch Nachts noch unterwegs waren. Aber irgendwann schien es ihm so, als hätte er so ziemlich alle öffentlich zugänglichen Schlafgelegenheiten der Stadt durchgetestet. Mit seinem Koffer in der Hand spazierte er trübselig durch den Park. Die Blätter an den Bäumen und Sträuchern nahmen eine rote, braune oder gelbe Färbung an und wehten bei dem leichten Wind um ihn herum, denn inzwischen war es Herbst in der Welt geworden. Herr Schmidt setzte sich auf eine Bank nahe dem Fluß, stellte seinen Koffer neben sich ab und sah den Vögeln bei ihrem geschäftigen Treiben zu. Hin und wieder kam auch jemand an ihm vorüber. Doch selbst wenn sie nicht mit sich selbst beschäftigt gewesen wären, hätten sie ihn nicht bemerkt. Herr Schmidt atmete die angenehme Luft, doch er war zu Niedergeschlagen, als daß er die herrliche Sonne genießen konnte, die an diesem Tag vom Himmel lächelte. Da sah er einen ziemlich elenden Mann in schmutzigen Kleidern ein Stück weit entfernt auf sich zukommen. Der Mann hatte ungepflegte, zerzauste Haare, einen wirren Bart und er trug neben einer halbvollen Plastiktüte noch eine zusammengerollte Zeitung der letzten Woche unter seinem Arm. Als er näher gekommen war, warf er einen prüfenden Blick in den Abfalleimer bei der Bank und nahm dann müde neben Herrn Schmidt Platz. Er stellte seine Plastiktüte neben sich und holte eine halbvolle Flasche Kornbrand zusammen mit einem nicht mehr ganz frisch erscheinendem, belegten Brot daraus hervor. Er verströmte einen ziemlich unangenehmen Geruch und Herr Schmidt rutschte unwillkürlich ganz an das äußerste Ende der Bank. Ohne Herrn Schmidt bemerkt zu haben begann er seine Mahlzeit einzunehmen. Ein eleganter Mann in dunklem Mantel mit einem schmalen Aktenkoffer kam an ihnen vorüber.
„He, Sie! Ham`se mal`n bißchen Kleingeld für`n alten Mann übrig?“ rief der Heimatlose diesem zu.
„Ach verschwinde doch bloß, Alter!“ kam die wütende Antwort des Angesprochenen, der vorbei eilte.
„Armer Wicht.“ grummelte er zu sich selbst in den Bart, nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche und setzte sein einseitiges Gespräch fort. „Weißt ja gar nicht, wie arm du wirklich dran bist. Kuck mich an. Ich sitz hier, hab was zu beißen, genieße die Freiheit und den schönen Tag und du bist in deiner armseligen Welt voller Zwänge und Hetze gefangen und kannst nicht raus. Da nutzt dir auch dein schicker Flusen und die viele Kohle nix. Ne, mit dir will ich nich tauschen! Das hab ich hinter mir!“ Herr Schmidt sah den Mann an. Eine ganze Weile lang. Dann stahl sich eine Träne in seine Augen und er richtete seinen verzweifelten Blick dem blauen Himmel entgegen.
„Siehst du das da oben, Gott?! Dieser Mann hat nichts. Er lebt wie ein armer Hund auf der Straße, und weiß nicht, ob er am anderen Tag was zu essen hat oder einen Platz zum Schlafen findet. Und doch ist er glücklich so wie es ist. Ihn beachten die Menschen noch und er weiß, wo er hingehört. Ich habe nicht einmal mehr das. Ja, selbst du da oben, bemerkst nicht einmal mehr, das ich noch da bin! Was soll ich dann noch hier?“
Herr Schmidt senkte den Kopf und weinte. Dann stand er auf, ließ seinen Koffer neben der Bank stehen und ging einfach fort. Er ging den Weg durch den Park hinaus weiter auf die große Brücke zu. Auf dem Fußgängerweg neben der Autostraße trottete er mit schweren Schritten an den grauen, mächtigen Eisenträgern vorüber bis er die Mitte der Brücke erreicht hatte. Dort blieb er stehen. Er ließ seinen Blick über das Geländer streifen. Weit über das unruhige Wasser auf die entfernten Häuserzeilen. Überall dort lebten Menschen. Und jeder einzelne von ihnen war glücklicher als er. Ohne noch einen weiteren Gedanken zu verschwenden umfaßte Herr Schmidt einen breiten Stahlträger, hielt sich daran fest und stieg auf das breite Geländer.
Was machte es noch für einen Sinn zu leben, wenn er für die ganze Welt überflüssig war.
Gerade wollte Herr Schmidt loslassen und sich in die Tiefe stürzen, da hielt er inne. Hatte er da nicht gerade eine Stimme hinter sich gehört?
„Menschen können aber nicht fliegen! Ich würde das lieber sein lassen!“
Herr Schmidt drehte seinen Kopf herum und sah hinter sich unten auf dem Gehweg ein kleines Mädchen stehen. Es hatte lange, blonde Haare, trug ein grünes Kleid und - es sah zu ihm herauf!
Herr Schmidt war derart irritiert darüber, daß er einen falschen Schritt tat und beinahe gefallen wäre, hätte ihn das Mädchen nicht am Saum seiner Hose zu fassen bekommen und zurückgezogen. Im letzten Moment erlangte er sein Gleichgewicht wieder und umfaßte mit beiden Armen den sicheren Stahlträger neben sich. So stand er dort oben und blickte das Mädchen mit riesigem Erstaunen in den tränennassen Augen an, als hätte er einen Geist gesehen.
„Warum hast du geweint?“, wollte die Kleine von ihm wissen.
„Kannst du mich denn sehen?“ kam heiser nur diese eine Frage über Herrn Schmidts zitternde Lippen. „Aber klar doch! Willst du nicht von da oben runter kommen und mir erzählen, was dich so traurig macht? Wir können in den Park gehen und durch das Laub mit den Füßen treten, das macht Spaß!“ Mit wackligen Knien kam er von dem Geländer herunter und setzte sich vor Schreck einfach vor ihr auf den Asphalt des Weges. Er reichte ihr seine Hände entgegen und ein ungläubiges Lächeln, daß sich in ein strahlendes Lachen überschwenglicher Freude verwandelte flog über sein Gesicht. Er lachte voller Erleichterung und wollte gar nicht mehr damit aufhören. Er lachte so viel, daß er vor lauter Glück schließlich weinen mußte und dicke Tränen über seine Wangen rollten.
„Nein! Bitte weine nicht! Es ist so ein schöner Tag und da gehört es sich nicht, wenn man traurig ist.“ sagte die Kleine um Trost bemüht.
Herr Schmidt drückt sie fest an sich und sah ihr dann in die Augen.
„Nein, meine Kleine, ich weine nicht! Ich bin nur so glücklich, daß mich endlich wieder ein Mensch bemerkt hat! Ich bin so glücklich und so froh wie in meinem ganzen Leben nicht!“
„Und da mußt du weinen?“
„Ja, ich weine vor Glück! Komm, laß uns in den Park gehen und durch die bunten Blätter laufen!“
Er nahm sie bei der Hand und gemeinsam liefen sie schnell wie der Wind durch das Laub und freuten sich, weil es so ein schöner Tag war.
Das Mädchen und Herr Schmidt wurden die besten Freunde. Und auch wenn alle anderen Menschen Herrn Schmidt immer noch nicht bemerkten, so hatte er doch jemanden gefunden, mit dem er sprechen, lachen, weinen und glücklich sein konnte. Jemand, der ihn beachtete und der ihn gern mochte, so, wie er es sich immer gewünscht hatte. Und da die Eltern des Mädchens viel in der Welt reisten, sah Herr Schmidt mit seiner neuen Freundin viele fremde Länder und er vergaß, daß außer ihr ihn sonst niemand beachtete, denn er war wirklich glücklich.
Wenn Du also irgendwann einmal ein Mädchen triffst, daß mit jemandem redet, der gar nicht da ist, könnte vielleicht Herr Schmidt ganz in deiner Nähe sein und dich anlächeln.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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