Birgit Wolf

Rolleroll


Wir bewegen uns zu wenig.
Viel zu wenig, das steht fest, und es kommt der Tag, an dem uns die etwas schwabbelige Konsistenz unserer Oberschenkel zu denken gibt.
 
Für mich ist Körperertüchtigung so etwas wie die REM-Phase im Schlaf, und eigentlich finde ich, dass ich schon genug hin- und herlaufe. Aber an diesem speziellen Dienstag, an dem ich so ein enges Abendkleid anprobierte, weil wir zu einer Feier eingeladen waren, da wurde mir beim Blick in den Spiegel schlagartig klar: Etwas Sport könnte nicht schaden. Denn das Kleid war ja wirklich schick, sehr sexy, nur passte es an diesem Tag nicht zu mir. Genau genommen passte ich nicht hinein. Also zumindest war es sehr eng.
 
Mein Gewissen stand also neben mir wie in der Weichspüler-Werbung vor vielen Jahren und guckte mich kopfschüttelnd an. So, antwortete ich, das hört auf.
 
Von den klassischen Sportarten halte ich nicht so viel, das ist ja alles ziemlich anstrengend, ein Fitnesscenter gibt’s bei uns nicht – aber es gibt jede Menge geteerte Straßen und Wege, auf denen kaum Verkehr herrscht.
 
Wie gut, dass wir auf dem Land leben.
 
Ich erinnerte mich spontan, dass meine Kinder schon lange betteln, ich möge ihnen doch Inline-Skater kaufen – die ängstliche Mama hat die Dinger natürlich seit Jahren abgelehnt mit der Begründung „Dafür seid ihr noch viel zu klein!“, aber wie wäre es denn, wenn wir alle...?
 
Gute Gedanken soll man hurtig in die Tat umsetzen, also waren wir schon am Nachmittag dieses denkwürdigen Dienstags stolze Besitzer von 3 Paar Inlinern – eins davon meiner Nachbarin Lena für ein paar Piepen gebraucht abgekauft, ein Paar aus dem Sportgeschäft, die waren billiger, weil jemand Schrammen ´reingekratzt hat, und das dritte Paar gehörte einem Mädchen, das ich morgens immer am Schulbus treffe. Netterweise hat sie mir die Dinger spontan geliehen, damit ich das Rollschuhfahren für Fortgeschrittene mal ausprobieren kann. Ich erinnere mich deutlich an die äußerst skeptischen Gesichter meiner lieben Kleinen, als wir im Flur unsere sechs Füße in die Skater steckten und verzweifelt daran herumschnürten, bis sich alles halbwegs gut anfühlte. Nein, sie haben kein kritisches Wort fallen lassen, und sie haben mich auch nicht etwa ausgelacht. Die hochgezogenen Augenbrauen in ihren Gesichtern genügten völlig. Mama will Inliner fahren – lächerlich!
 
Ich stand da natürlich völlig drüber.
 
Beruhigt nahm ich zur Kenntnis, dass sich die Knirpse zwar etwas schlingernd, aber doch senkrecht vorwärts bewegten. Niemand fiel hin, das fand ich schon ganz beachtlich. Nun durfte ich mir natürlich keine Blöße geben, obwohl – meine letzten Rollschuherfahrungen lagen fast 30 Jahre zurück. Das nur zu meiner Entlastung.
 
Ich atmete also tief ein und schwang mich von der Treppenstufe. Es war erstaunlich – kein Wackeln, kein Schwanken, ich eierte aufrecht die Straße entlang und fühlte mich wie eine schwebende Elfe. Die ersten Bedenken angesichts meiner relativ hohen Geschwindigkeit (ich musste den Kindern schließlich auf den Fersen bleiben!) kamen mir ein paar hundert Meter weiter, wo Kalli Martens gerade seine Hecke beschnitt. Kopfschüttelnd starrte er mich an und grüßte mechanisch, als hätte er einen Amboss im Gleitflug gesehen. Vielleicht war ich ja doch zu alt für derartige Mätzchen?
 
Noch hatte ich jedenfalls Sichtkontakt zu meinen davon heulenden Lieblingen, und das ließ mich die Befürchtungen vergessen, was Muskelkater am folgenden Tag anging.
 
Da vorne waren sie nach rechts abgebogen, ich ahnte ihre Absicht – in der Richtung lag der Bäcker, und dort gab es dieses ganze schreckliche Gummi- und Schokozeug zu kaufen, das alle Mamis verabscheuen. Elegant legte ich mich in die Kurve, als hätte ich nie etwas anderes getan, und nahm voller Hochgefühl die Verfolgung auf. Da erspähte ich verwundert meine wohlerzogenen Kinder, die diszipliniert vor dem Schaufenster des Geschäfts stehen geblieben waren und artig auf mich warteten. Ha, wahrscheinlich hatten sie ihr Taschengeld vergessen. Das machen sie absichtlich, denn sie wissen ja, dass Mama zahlen kann.
 
Ich war schon ganz nahe dran, wirklich ziemlich nahe, als ich eine erschreckende Feststellung machen musste. Ich konnte nicht bremsen.
 
Warum nicht, fragte ich mich, schließlich hatte ich das doch zu Hause ausprobiert, und während ich konsterniert darüber nachdachte, benutzte ich die kleine Türschwelle des Ladeneingangs als Sprungschanze. Und Hopp.
 
Schade, dass ich so sehr damit beschäftigt war, den Tresen anzusteuern und nach der Säule zu greifen, die in der Mitte des Raums stand. In den Gesichtern der Verkäuferin und des einzigen Kunden, ausgerechnet Heini Lehmann, der mich sowieso nicht leiden kann, spiegelte sich eine erfrischende Fassungslosigkeit. Ich konnte nur hoffen, dass die Säule massiv und nicht etwa ein Dekorationsstück aus Pappe war, und zumindest in dem Punkt hatte ich Glück. Mit aller Kraft klammerte ich mich fest. Meine Füße waren leider etwas schneller als ich und rutschten einfach davon, und so schwebte ich für einen Augenblick tatsächlich in der Luft. Ein erhebendes Gefühl. Mit einem ahnungsvollen „Oh-oh“ glitt ich dann sackartig an der Säule herunter und plumpste auf den Hosenboden. Und dieser auf eine Palette Hühnereier, das Stück 25 Pfenning. Es hätte schlimmer kommen können, finden Sie nicht?
 
Meine liebenden Kinder standen breit grinsend vor dem Schaufenster, drückten ihre Nasen an die Scheibe und brachen in schadenfrohes Gelächter aus.
 
„Für den doppelten Rittberger musst du wohl noch ein bisschen üben!“ spottete Heini, seine Mundwinkel hatten ungefähr die Höhe der Ohren erreicht. Ich sagte ja schon, der kann mich nicht leiden. Die Kleinen waren inzwischen aus meinem Blickfeld verschwunden, und ich ahnte schnell, warum. Sie nahmen Anlauf.
 
Unnötig zu erwähnen, dass Kinder gundsätzlich die Heldentaten ihrer Eltern nachahmen, und zwar ohne jede Wertung. Mir blieb also nur, die Augen zu schließen und nach dem Geld in meinen Hosentaschen zu kramen, bis es zu letzten Mal dumpf gepoltert hatte.
 
Dann zog ich mein Bares aus der Tasche, murmelte etwas wie „Ich glaub‘, ich hab’s passend“, hievte uns alle mühsam auf die Beine und verließ mit meinem kichernden Gefolge aufrecht die Stätte des Geschehens.
 
Ob ich an diesem Tag meiner Vorbildfunktion gerecht wurde, wage ich zu bezweifeln, und ich überlegte auch, in der nächsten Zeit lieber bei einem anderen Bäcker einzukaufen. Aber der Tag war ja noch nicht zu Ende, und man kann ja noch einer alten Dame über die Straße helfen oder einen Goldfisch vor dem Ertrinken retten. Als Ausgleich sozusagen.
 
Mir wird schon etwas einfallen, da bin ich ganz zuversichtlich.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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