Klaus Buschendorf

Meine Stadt

Erfurt – das ist keine Stadt. Erfurt – das ist ein Land.

 
So antwortete der Bauer dem Kaufmann im Mittelalter, wenn der ihn, vom fernen Frankfurt kommend, unterhalb der Burg derer von Gleichen nach Weg und Zeit fragte. Dabei mag er ihm die gegenüber liegende Mühlburg zeigen, die Stadtburg der Erfurter Kaufleute, die ihn hier schon schütze, ihn und seine Waren, eine Tagesreise weit vor ihrer Stadt.
 
Dann wird der Kaufmann seinen Wagentross in die nahe Herberge gefahren und seine Reisige untergebracht haben. Dort erzählte man ihm, dass auch die in der Ferne ragende Wachsenburg ihn schütze und alle sächsischen Herren ringsum, mit denen Erfurt Verträge habe zum sicheren Geleit. So gedieh der Handel und machte die Stadt reich durch ihren Waid und die Puffbohnen aus eigenem Anbau und den vielen Waren aus fernen Ländern, die Kaufleute feil boten auf Fischmarkt, Krämerbrücke und Wenigemarkt, ehe sie weiter zogen nach Leipzig, Chemnitz und dem fernen Dresden.
 
Inmitten sächsischer Länder lag Erfurt und gehörte doch nicht dazu. Im fernen Mainz saß der Erzbischof, der in den Zeiten der Christianisierung in Erfurt einen Bischofssitz errichtete, mit einem Dom für den Glauben und Küchendörfern zu seiner Versorgung ausstattete, wenn er in Erfurt zu weilen gedächte. Doch das geschah kaum. Die Erfurter erwiesen sich als renitent. So kam die Feste Petersberg hinzu, nicht die Stadt zu schützen, das vermochte sie allein. Ihre stärksten Bastionen waren gegen die Stadt gerichtet, im Horchgang darinnen überwachten Mainzer Landsknechte die geschäftigen Stadtviertel vor dem Dom. Schwoll der Lärm an, drohte Unruhe in der Stadt, eilten sie herbei und schlugen den Aufruhr nieder.
 
Doch die Erfurter rappelten sich immer wieder auf, schlossen neue Verträge mit den sächsischen Herren ringsum. Von Mal zu Mal mussten sie mehr Verträge schließen, denn dieses ernestinische Sachsen, genannt nach dem einen Bruder Ernst, der Sachsen mit seinem Bruder Albert zum ersten Mal teilte und für seinen Teil bestimmte, dass kein Erbe ohne Herrschaft bliebe – dieses Sachsen zerbröselte förmlich in viele kleine Ländchen. Bald vergaßen die Menschen von der Rhön und dem Thüringer Wald im Süden bis zum fernen Wittenberg im Norden, dass sie Sachsen waren. Vom Gebirge wanderte der Name Thüringen bis in den Süden des Harzes, unter diesem Namen fanden sie eine neue Gemeinsamkeit. Nur Erfurt gehörte immer noch nicht dazu.
 
Als die geistlichen Fürstentümer des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ aufgelöst wurden und mit ihnen der Mainzer Erzbischof seine weltliche Herrschaft verlor, griff Preußen nach Erfurt. Das war ganz unnütz. Als es gebraucht wurde nach der verlorenen Schlacht bei Jena und Auerstedt, ergab sich diese starke Festung ohne einen Schuss dem Namen Napoleon – welch Schmach für Preußens Gloria.
 
Nun saßen statt Mainzer und Preußen Franzosen auf dem Petersberg. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig schossen die Preußen auf die Bastionen. Ihre Kanoniere zielten schlecht. Die Stadtviertel unterhalb Dom und Feste Petersberg brannten ab. Ob es Opfer unter den Franzosen gab, das weiß man nicht. Nach Napoleons Ende ebneten die Erfurter die Brandstätten ein. So hat Erfurt den Preußen seinen großen, weiten Domplatz zu danken.
 
Die nächsten Kriege sprangen glimpflicher mit Erfurt um. Nur wenige Bomben fielen am Ende des letzten großen Krieges. Sie bescherten der Stadt einen durchgängigen Straßenzug vom Hauptbahnhof zum Domplatz. Die allierten Sieger tilgten den Namen Preußen von Deutschlands Landkarte. Erfurt war endlich auch Thüringen, scheel betrachtet von Weimar, das die Hauptstadtwürde des Landes an Erfurt verlor.
 
Erfurt war anders.
 
Das war der letzte Satz, den zu denken sich Karl gestattete in seinem Sinnen auf der langen Fahrt. Das Ausfahrtsschild kam heran geflogen. Er nahm den Fuß vom Gaspedal.
 
Bert verließ von Osten kommend die Autobahn nach rechts, fuhr durch ein Waldstück. Die Stadt lag breit und fern vor ihm, die Türme von Dom und Severikirche ragten auf dem Domberg, zogen schon hier den Blick auf sich. Die vielen Kirchen des alten Bischofssitzes strebten ihnen nach.
 
Erfurt – das ist ein Land.
 
Er passierte das Ortseingangsschild und fuhr noch durch Dörfer. Die Stadt wucherte ihre Ausfallstraßen hinaus, ließ inselgleich alte Sämereien, Gewächshäuser und Gemüsefelder in sich liegen.
 
Gewachsen war die Stadt seit Bert vor runden dreißig Jahren zum ersten Mal hier abbog von der Autobahn und der Stadt zu fuhr, die seine Heimat werden sollte. Links streckte sie Neubauviertel, Plattenbauten auf den Höhen entlang, wo damals noch Gärten standen. Auf den Hügeln rechts griffen Einfamilienhäuser weit in die Felder. Zwischen den vielen Türmen standen keine Rauchfahnen, die sich früher zu einer ewigen Dunstglocke vereinigten. Die Fabriken dafür gab es nicht mehr. So leuchtete die Stadt, nicht nur wegen der fehlenden Dunstglocke, sondern auch der vielen Farben wegen an den Häuserwänden, die es früher nicht gab, als Einheitsgrau alles dominierte.
 
Erfurt, das ist keine Stadt. Erfurt – das ist ein Land, so sprachen die Menschen schon im Mittelalter. Da gab es noch Mauern ringsum. Nun liegt es frei, greift weit ins Land hinaus mit wuchernden Armen, viel Wildwuchs ist dabei. Es wird jemand kommen müssen, ihn zu beschneiden.
 
Bert nahm den Fuß vom Gas, obgleich die neue Abfahrt von der Autobahn schnelle Fahrt erlaubt. Er bog nach rechts ab von der Straße entlang der alten Streckenführung, passierte ein Vorstadtdorf, ein zweites. Viele solcher Dörfer hat die große Stadt vor fünfzehn Jahren eingemeindet, auszugleichen den Verlust von Bewohnern, die der Arbeit nach zogen.
 
Im letzten dieser Dörfer fuhr er langsamer, bog ein in einen Hof. Hier brauchte er das Auto nicht zu verschließen, tat es trotzdem aus Gewohnheit. Steffen sah ihn kommen, seine Frau öffnete die Tür. Für den Vormittag waren sie verabredet, nicht für eine bestimmte Zeit. Wenn Bert von den Eltern wieder käme, solle er vorbei schauen, sagte Steffen gestern am Telefon und hatte nicht viel Zeit.
 
Sie saßen sich gegenüber. Bert wunderte sich, zur Begrüßung stand Steffen nicht auf, das war nicht seine Art. Eine Krücke, an den Schreibtisch gelehnt, fiel in sein Blickfeld. „Ist was passiert?“ – „Ja, und deshalb rief ich dich an und bin froh, dass du kommst.“ Denn er habe Mittag den Termin mit dem Kulturfritzen der Stadt und am späten Nachmittag warte Dietmar auf dem Domplatz auf ihn. Nun sei er gestern so unglücklich über die eigene Schwelle gestolpert, dass er kaum in den eigenen vier Wänden humpeln könne. Mindestens drei Wochen, prophezeite der Arzt, werde sich das kaum ändern. Er könne aber die Termine nicht sausen lassen, es gehe schließlich um das Chorkonzert im Rathausinnenhof. Außerdem will Dietmar die Kameraplätze für das Video in der Feste Petersberg nicht allein auswählen.
 
„Und ausgerechnet da fällt der Vorsitzende um, der jüngste aus der Führungsriege, und ich alter Knochen soll die Arbeit machen.“ Eine gewisse Schadenfreude war für Steffen in Berts Worten nicht zu überhören. – Er lächelte süßsauer. „Ich muss Dir mehr sagen. Mit Dietmar wollte ich reden, muss geredet werden. Er will nach dem Dreh aufhören, entweder der oder ich, hat er gesagt. Die vielen Änderungswünsche unseres Dirigenten hält er nicht aus. Die Filmfirma will schließlich Geld dafür, so reich ist unsere Chorkasse ja auch nicht. Aber als Dirigent mache er keine künstlerischen Abstriche, Kosten interessieren Fred nicht. Kurz, Dietmar fühlt sich von Fred erpresst. Beruhige ihn. Wir brauchen schließlich beide, aber – wem sage ich das.“
 
„Da kommt dir der alte Lehrer gerade recht zum Vermitteln.“ – Steffen entschuldigte sich, er hätte liebend gern selbst die beiden Streithähne versöhnt, aber er sähe ja selbst... – Bert dachte während seiner langen Rede: Vielleicht ist sein Sturz ein Glücksfall, dass ein höheres Geschick ihn zur Untätigkeit zwang. Steffen, dieser Kerl von Sturm und Drang, der immer organisierte, von Ideen sprühte, dem die alten Chorknaben in der Versammlung ihre Kritiken an den Kopf schmissen, ihn aber wieder wählten, weil sie die Geschicke des Chores bei ihm insgeheim in guten Händen wussten, der polarisiert eher, als er versöhnt. Bert hütete sich, so zu reden, hörte, was Steffen sprach, merkte sich Einzelheiten. Er sah auf die Uhr. „Wir müssen zum Ende kommen.“
 
Steffens Frau kam wieder, brachte ihn zur Tür. – „Richte es!“ rief ihm Steffen nach. – „Er lebt für den Chor, nicht weniger als ich“, sagte Bert an der Tür zu Steffens Frau. – „Ich weiß. Ein Mann braucht so etwas. Tschüss!“   
 
Bert passierte das alte LPG-Gelände. Ein Chinarestaurant leuchtete mit Lampions aus dem früheren, flachen Kulturhaus. Weit vor sich sah er die erste Ampelkreuzung der Stadt, die Leuchte sprang auf Rot. Bert ließ den Wagen rollen, jetzt hatte er Zeit.
 
Vor dreißig Jahren gab es diese Kreuzung nicht, die Tankstelle, den Rieseneinkaufsmarkt mit seinen vielen Parkplätzen. Die Garagen auf der anderen Kreuzungsseite waren gerade im Bau als erster Vorposten der richtigen Stadt, einzelne alte Häuser mit einer Kneipe und Lückenbauten aus den frühen fünfziger Jahren flankierten eine Straßenseite, rechts dehnte sich ein Feld – eine Stadtrandidylle. Jetzt mündete hier der neue Autobahnzubringer in einem Gewirr von neu gebauten Straßen. Die Rotphase war lang, von links und rechts kreuzten Fahrzeuge seinen Weg, er war es gewohnt und ärgerte sich nicht. Der Besuch bei den alt gewordenen Eltern versetzte ihn in nachdenkliches Sinnen, es hörte nicht auf, nachdem er  mit Steffen sprach.
 
Damals vor dreißig Jahren erwartete er nie, weg zu ziehen aus dem Erzgebirge. Seine Frau war alte Erfurterin, aber man lebte auch in Aue gut. Dann starben ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall. Sie hinterließen ihr ein Siedlungshaus an Erfurts Stadtrand. Das seien kleinbürgerliche Beweggründe, musste er sich vorhalten lassen, als er um Versetzung bat.
 
Grün. – Bert ließ die Erinnerungen fallen, fügte sich ein in den Kolonnenverkehr zur Stadt. Er hätte fahren können bis hinters Rathaus, schließlich kannte er jeden Schleichweg, doch er ging das Risiko eines vollen Parkplatzes nicht ein. Am Gagarin-Ring findet man immer eine freie Stelle, bezahlt weniger, und Laufen ist gesund.
 
Er lief  vom belebten Ring durch die schmale Fußgängerschluppe zwischen den alten Häusern des inneren Stadtrings auf die Johannesstraße. Eine Straßenbahn kam ihm entgegen. Autos verirrten sich selten hierher, auch Fußgänger kreuzten nur wenige seinen Weg. Vor dreißig Jahren war das anders, da quirlte hier Leben, die große Druckerei arbeitete noch, jeder kleine Geschäftsmann war froh, hatte er hier seinen Laden. Dann schloss zur Wende die Druckerei, erste Bewohner verließen ihre alten Wohnungen, Einkaufsmärkte an der Peripherie lockten mit Hunderten von Parkplätzen. Hier erblindeten Schaufenster, selbst ein Cafe mit jahrzehntelanger Tradition sucht heute nach Gästen. 
 
Bert bog in die Futterstraße. Rechts sprangen Gasthausschilder in seine Augen, das neue Hotel am Kaisersaal leuchtete in frischen Farben. – Nicht alle Straßen sind Verlierer, dachte Karl, genauso wenig wie bei den Menschen. Er hätte gern gewusst, wie sie sich verteilen seit der Wende, die Gewinner und Verlierer. Er selbst stand ja draußen als Rentner im eigenen, kleinem Häuschen. Im Chor sprachen die wenigsten darüber. Man kam zum Singen zusammen. Nur von den alten Sängern, welche die Neugründung noch erlebten, gar anregten damals zu Zeiten der LPG, von denen erfuhr er manchmal, wie es sie getroffen.
 
Er ließ den Gedanken fallen, ereichte den Wenigemarkt. Hier herrschte quirliges Fußgängertreiben, viel mehr als vor dreißig Jahren. Heraus geputzte Häuser, Tische und Stühle auf dem Pflaster, undenkbar damals, als Einheitsgrau nur von wenigen rekonstruierten Häusern unterbrochen wurde. Jetzt war er mittendrin in Erfurts „guter Stube“, rechts erhob sich der St. Bartholomäusturm über dem Eingang zur Krämerbrücke, links zog das Antiquariat den Blick auf sich. Als Erfurter überließ Bert den Touristen den Weg über die alte Brücke, dem Wahrzeichen der Stadt, ging links daran vorbei und sah auf dieser parallelen Straßenbrücke die obere Stromansicht. Postkarten wählen die andere Seite zum Motiv. Diese Seite sieht nicht schlechter aus, doch ist man zu nahe, das Gesamtbild lässt sich von der Kamera nicht fangen. Dafür entschädigt der Blick zur Gera mit seiner Strominsel, den in den Flusslauf gebauten Terrassen an den Rückseiten der Häuser, die ein wenig italienische Romantik ahnen lassen. Bert kennt die Enge, die hier bei Volksfesten herrscht, manch warmer Sonntag lockt Erfurter in Scharen her. Es ist die Geburtsstelle der Stadt, hier an der „Erphes-Furt“. Stromabwärts, auf der anderen Seite, existiert diese Furt noch heute, auch wenn keine Planwagen mehr durch diese seichte Stelle rollen. Hier lag die „wennige“, die „wendische Stadt“, die Furt und spätere Brücke führte zur „fränkischen“ oder „diutschen“ Stadt. Keine Chronik berichtet von Fehden oder Feindschaft, irgendwann war man eins und niemand fand es wert, das zu vermerken.
 
Bert erreichte die andere Seite, sah beim Umwenden nach rechts die gepflasterte Straße zwischen den Häusern der Krämerbrücke herunter kommen, warf einen Blick in Erfurts „Kneipenmeile“, alles neu und liebevoll hergerichtet. Die Stühle und Tische erinnern wieder an südländisches Flair – Erfurt kann man zeigen. Er kam zum Rathaus, dem Fischmarkt. Viele Fische und Fischer muss es einst in „Erphes“ und Erfurt gegeben haben, sonst hieße sein Marktplatz nicht so. Dieser Teil Erfurt war stets gepflegt, so weit reichte die Kraft des alten Staates, vom Hauptbahnhof zum Domplatz, der Anger – dieses Straßenkreuz war immer bunt. Bert warf noch einen Blick in die Runde, nannte sich die Namen der Häuser nicht – er kennt sie doch, was soll er sie jetzt lesen – nickte dem Brunnen in der Mitte zu und drehte sich zum Rathaus. Er kann die Vorderfront des neugotischen Baus nicht sehen, denn er ging unter den Arkaden gleich zum Eingang. Im ersten Stock wird er erwartet. Mythologische Wandgemälde begleiten ihn im Treppenhaus, Dr. Faustus lässt griechische Sagengestalten aus der Vorzeit erscheinen, Tannhäuser feiert Orgien im Hörselberg – Bert missachtet sie. Ihm war nicht nach Erbauung, er hat einen Termin. 
 
Im Zimmer des „Kulturfritzen“ gab es keine Bilder aus der griechischen Mythologie, auch keine von Luthers Lebensstationen wie draußen vor dem Rathaussaal. Ein paar Kinderzeichnungen hingen im einfachen Gang, der Raum selbst war schmucklos, rational. Bert knüpfte zu Werner vor Jahren erste Kontakte für den Chor, kannte ihn doch aus seiner Lehrerzeit. Dann riss Steffen die Verbindung an sich. Bert hätte beleidigt sein können, dass sich der Vorsitzende ins gemachte Nest setzte, aber er sah es dem jugendlichen Heißsporn nach. Der muss sich noch beweisen, vor allem sich selbst. Bert muss das nicht mehr.
 
Werner erwartete Steffen, freute sich, Bert zu sehen. In seiner eigenen Lehrerzeit war Bert ihm Vorbild gewesen. Der junge Lehrer für Kunsterziehung fiel als Organisator in seiner Schule auf, man holte ihn recht bald ins Rathaus. Er überstand die Wechselfälle der letzten zwanzig Jahre, denn seine ruhige Hand regelte die Streitigkeiten der Schausteller bei den Volksfesten genauso souverän, wie er mit den Kapricen mancher Stars und Diven umging, die bei städtischen Kulturereignissen ihren Glanz verbreiteten.
 
„Seid ihr euch einig mit dem Polizeimusikcorps?“ – „Na sicher! Habt ihr genug Stühle für die Musiker und Podestplatten für den Chor?“ – Sie sprachen Einzelheiten ab, erinnerten sich Anecktoden ihrer gemeinsamen Zeit und verabschiedeten sich in der Gewissheit, dass dieser Auftritt im Rathausinnenhof ein würdiger Abschluss werde zum Krämerbrückenfest. – Man sieht sich. 
 
Bert nickte nach der Treppe dem Wachmann in seinem Glaskasten zu und öffnete die schwere Tür. Beim Verlassen der Arkaden überfiel ihn helle Mittagssonne und – Hunger. Er hatte die Wahl zwischen drei Italienern und vielen Tischen und Stühlen. Das Haus zum breiten Herd zwang seinen Namen in die Augen. Bert kannte die Geschichte dieses alten Kaufmannshauses. Sie nutzte dem Haus nichts, jetzt war es südländisch okkupiert. Bei seinem kurzen Weg vom Wenigemarkt zum Fischmarkt passierte er zwei Eisdielen von..., was schon, waschechten Italienern. Die bodenständige Thüringer Küche schien an den Rand gedrängt, dazwischen beherrschten türkische Döner in den Vorstädten die Imbissszene – auch dies ist Erfurt heute. Bert sehnte sich nach einer Bratwurst. Ihr Duft drängte in seine Erinnerung, er glaubte, ihn zu riechen. Eine Straßenbahn fuhr vor seinen Augen in die Marktstraße, gab den Blick frei auf einen Bratwurststand – na bitte: Thüringens Gastronomie war auf dem Fischmarkt immer noch präsent.
 
Bert biss kleine Stücken von der heißen Wurst ab, beugte sich vor, dass kein Fett auf sein Hemd spritze. Dann setzte er die Schritte der Straßenbahn nach. An der Ecke der Bäcker mit seinem Cafe, den gab es auch vor dreißig Jahren schon. Oder war es ein anderer? Bert zweifelte, es war nicht wichtig. Eis verkauft er auch und – ist kein Italiener. Etwas aufgerichtet über die unerwartete Entdeckung, dass heimische Gastronomie doch noch Territorium verteidigte, ließ er sich von der Leute Strom in die Marktstraße treiben.
 
Hier fuhr kein Auto. Wenige Lieferwagen wurden scheel beäugt. Bert kam gerade nach Erfurt, als die Stadt Autos aus dem innerstädtischen Kreuz verbannte. Die Straßenbahn fuhr auf Gleisen, man konnte sie nicht aussperren. – „Wo gibt es denn so was?“ schimpften die Erfurter. „Eine Fußgängerzone mit einer Straßenbahn?“ – Und was für eine Fußgängerzone! Vom Hauptbahnhof zum Angerkreuz, weiter über die Schlösserstraße zum Fischmarkt, dann ein Schwenk zur Marktstraße bis zum Domplatz. Der andere Schenkel vom Kaufhaus den Anger entlang fast bis zum fernen Karl-Marx-Platz mit dem Pressecafe, keine Autos, nur Fußgänger und „Bimmel“ – das sollte gut gehen? Es ging gut. Kein Mensch spricht heute mehr von der Weisheit der damaligen Stadtväter. Perfekte Lösungen erleiden meist dieses Schicksal. Denn hier geschieht kein Unfall, vor dem man damals so viel warnte. Unfälle mit der Straßenbahn geschehen in Erfurt auf den von der Straße abgetrennten Strecken an den mit Ampel und Sperre gesicherten Übergängen, weil irgendwer sich überschätzt. Hier überschätzt sich keiner.
 
Seine Stadt ist einzigartig mit dieser riesigen Fußgängerzone in friedlicher Gemeinschaft mit der Straßenbahn, dachte Bert. Warum wirbt die Stadt nicht damit? Alte, gepflegte Häuser haben andere Städte auch.
 
Er bummelte, sah auf die vielen kleinen Läden rechts und links, versuchte sich zu erinnern, wer von ihnen alteingesessen war – fand, sie waren alle neu und manche nicht erst einmal. An der Domplatzecke entdeckte er einen Supermarkt – das war mal ein Konsum.
 
Die Gleise der Straßenbahn fächerten auf, nach rechts führten sie in den Norden, nach links zur IGA, EGA verbesserte sich Bert. Denn eine Internationale Gartenbauausstellung gab es schon in Stuttgart. Das wusste niemand bis 1990, interessierte auch nicht. Die Neuankömmlinge interessierte es wohl und zwei IGA’s in Deutschland, das gehe doch nicht. Sie musste Land abtreten, die alte IGA, an den Rundfunk, an die neue Messe. Und sich bescheiden im Namen: „Erfurter Gartenbauausstellung“. Die Mitarbeiter konnten nicht mal meckern, blieb sie doch wenigstens bestehen. Das Glück hatten nicht alle Erfurter Traditionseinrichtungen.
 
Jenseits der breiten Straße lag der Riesenplatz, begrenzt von den Domstufen. Der Kölner Dom bot keinen solchen Anblick, ihm fehlt die Weite, die Höhe seiner Türme riss sofort den Kopf nach oben. Hier nähert man sich langsam, dieser Dom auf seinem Berg wuchs mit jedem Schritt, daneben wuchs die Severikirche mit ihm.
 
Bert querte die Straße, schritt zwischen Gemüseständen zur Mitte. Er dachte daran, dass unter diesen Pflastertafeln der Schutt zweier eng bebauter Stadtviertel lag. In ihren Gassen spielten die meisten Geschehnisse im „Tollen Jahr von Erfurt“, in dem ein Bürgermeister 1510 zu Tode kam von des Henkers Hand. Die meisten Bürger wollten seinen Tod. Er wird ihn auch verdient haben, erbittert man alle seine Bürger gegen sich. Nur – wofür man ihn henkte, das hat er nicht getan. Die Richter wussten es und verurteilten ihn doch. Gerecht war sein Tod – rechtens war er nicht. Das war nicht schlimm. Im Mittelalter sahen sich die Menschen nur als Werkzeuge eines höheren Rechts und eines höheren Richters. So konnten auch die Richter mit ihrer Untat leben.
 
Heute ist alles rechtens – ist es auch gerecht?
 
Bert sah hinüber zum Gerichtsgebäude, sein Blick schweifte weiter, zur Feste Petersberg, zum Domberg, den Domstufen mit Dom und Severikirche. Er stellte sich vor, er sei Geselle im Mittelalter, den sein Meister aus der Enge des Stadtviertels hinaus schickt, einen Weg zu besorgen. Er geht die Gasse entlang, sie öffnet sich, er sieht – das Gericht, er sieht – die Mainzer Festung, er sieht – Stadtkirche, Pfarramt, Bischofsdom. Er ist umgeben von Macht – das Mittelalter kannte keine Massenmedien.
 
Bert erreichte die Stele in der Mitte. Hier soll er Dietmar treffen. Er hat noch Zeit. An den Flanken des alten Steins ist eine Inschrift gemeißelt, schlecht lesbar, aber noch zu deuten: „In Dankbarkeit für ihren allergnädigsten Erzbischof...“ Bert lehrte seine Schüler, dass dieser Stein errichtet wurde nach einem verlorenen Aufstand. Was mögen die Steinmetze empfunden haben? Trugen sie vielleicht selber eine Lanze in den Händen?
 
„Träumst du?“ – Dietmar stand vor ihm, breit in den Schultern, gegen ihn wirkte Bert wie ein Handtuch. – „Warst wieder in alte Steine versunken? Lehrer bleibt Lehrer, warum wirst du eigentlich nicht Stadtführer?“ – Bert fühlte sich heraus gerissen, murmelte, das wäre zu überlegen jetzt als Rentner. Aber nun warte der Petersberg auf sie.    
 
Bert musste sich mühen. Dietmar lief los wie sein Charakter war, noch immer voller Tatendrang. Gerade übergab er seine kleine Firma an seinen Sohn. Sie vertrieb Textilien, bis Hamburg fuhr Dietmar früher im kleinen Lieferwagen. Er wollte loslassen, brauchte ein neues Feld, fand es als Regisseur für ihr Chorvideo. Halb Thüringen fuhr er ab auf der Suche nach guten Einstellungen – der Chor vor der Wartburg, der Chor vor einer Mühle. Er fotografierte, stellte sich das Bild vor, verwarf und wählte aus. Dann sprach er die Lieder ab mit Fred, dem Chorleiter. In Erfurter Kirchen nahmen sie den Ton auf, fuhren hinaus zum Dreh. Alles schön – bis sie zusammen saßen im Studio, der Kameramann und dessen Frau, die den Film schnitt, Fred und er. Sie sahen den Film und hörten den Ton – Fred schimpfte. Der zweite Bass kam zu spät, dann sang der erste Tenor nicht hoch genug, und dort hielt der ganze Chor den Ton nicht durch – anfangs freute sich Dietmar über Freds Kritik. Die beiden Filmer zeigten, was sie für Tricks beherrschten. Ja, das wird ein gutes Video, freute sich Dietmar.
 
Sie liefen die Rampe hoch, erreichten die Brücke. – „Halt an, Dietmar. Ich bin etwas älter, siehst du das ein?“
 
Dietmar blieb stehen, Bert atmete auf. – „Da ist doch schon die erste Einstellung.“ Dietmar wies auf den Haupteingang, den steilen Anstieg bis zum Tor, die malerische Bastion, die schießschartengleichen Fenster... „Davor stellen wir den Chor hin, die Kamera steht etwa hier...“ Er lief herum, blickte prüfend, sah auf Bert. „Einverstanden?“ – Bert dachte neidlos: Er hat den sich rechten Blick angeeignet. Warum macht er das nicht allein? „Einverstanden. Gehen wir langsam weiter.“
 
Er folgte den steilen Weg hinauf und war Dietmar dankbar, dass er jetzt oft stehen blieb. Dietmar sprach nicht mehr. Seine Augen prüften Gestein der Mauern, Blickwinkel von Biegungen. So gingen sie über die ganze Festung, die Mauern entlang, hin und wieder merkte sich Dietmar Standorte, fragte den nachkommenden Bert. Dann stürmte Dietmar auf der anderen Seite hinab, bis Bert rief, was er da wolle. Dort sei doch nur Dreck und Sand. – „Das war einmal. Komm mit!“
 
Bert folgte und staunte. Er glaubte, seine Stadt zu kennen. – „Das war zugeschüttet seit Erfurts Entfestigung“, wies Dietmar in tiefe Festungsgräben. „Keiner wusste mehr, was wir für eine schöne alte Festung haben. Ein rechtes Kleinod, stimmt es?“ – „Hier wurde aber ausgegraben in den letzten zehn Jahren!“ – „Und restauriert! Eine solche Festung sah ich zuletzt in der Karibik, in San Juan auf Puerto Rico. Da ziehen Tausende Touristen hin. Wir haben das vor der Haustür und keiner achtet es“, kam Dietmar ins Schwärmen.
 
Noch einmal wurde Bert die Luft knapp, als sie hoch stapften auf das Plateau der Festung. Durst plagte auch Dietmar, sie steuerten den neu gebauten Pavillon an, setzten sich, bestellten. – „Das finde ich so seltsam an unseren heutigen Denkmalschützern. Schau dir diesen Pavillon an! Neu gebaut und passt hier her wie die Faust aufs Auge.“ Dietmar wies auf die klaren, glatten Linien, die Glasflächen. „Musste das sein?“ – „Dich stört das“, stellte Bert fest. „Die denken anders. Altes, Rekonstruiertes muss mit der Zeit verknüpft werden, in der rekonstruiert wurde. Deshalb der moderne Pavillon auf die alte Festung.“ – „Geschmacklos, sage ich. Aber deine Antwort passt auch auf das neue Haus am Angerkreuz, wofür der alte Lückenbau weichen musste, der Hauptpost seitlich gegenüber. Kommst du von Hauptbahnhof zum Anger, siehst du einen viereckigen Klotz über der Straßenbahn schweben. Wer kommt nur auf solche Ideen?“
 
Bert antwortete nicht. Er konnte keinen Streitpunkt gebrauchen, wollte Dietmar mit Fred versöhnen. Mager war, was Dietmar bisher sagte. Steffen befürchtet ein echtes Zerwürfnis? „Ihr kommt also gut voran mit dem Video?“
 
„Überhaupt nicht.“ Dann schwoll Unmut aus Dietmar. Sein Ärger begann bei der Auswahl der Lieder, Fred bestand auf zu vielen Klassikern. Das nahm er noch hin. Doch im Studio war ihm keine Aufnahme gut genug, alles konnten die beiden Filmer nicht ausbügeln, also neu aufnehmen – er werde ja die zusätzlichen Termine kennen. Wieder im Studio fand er neue Mängel. – Das merke er, aber sonst kein Mensch, hielt ihm Dietmar entgegen. – Wenn ich es höre, hören es auch meine Berufskollegen. – Er fing an, die Musikprofessoren aufzuzählen, die er aus seiner Theaterzeit in Erfurt und Eisenach kannte. Nein, an der Qualität lasse er keinen Abstrich zu, das Geld habe sich unterzuordnen, Geld siege heute überall, seine Kunst lasse er sich nicht durch Geldmangel kaputt machen. „Er geht ja auf die siebzig zu. Wie ein halsstarriger Alter sprach er auch“, endete Dietmar und lehnte sich zurück. „Das ist kein Arbeiten.“
 
Bert wusste: Dietmar übertrieb nicht. Freds Proben sahen genauso aus. Die Sänger hätten gern ein Karnevalslied gesungen, früher trug der Chor den Dorfkarneval. Sie tuschelten und fügten sich. Fred war halt so, aber er konnte was, Künstler sind alle ein wenig verrückt.
 
„Werden die Lieder besser?“ – „Ich höre es kaum. Fred sagt es.“ – „Dann halte den Ärger aus, Dietmar. Die Filmer drängen vielleicht aufs Zahlen, aber sie brechen nicht ab. Das Video ist auch für sie Werbung. Sind wir schon im Rückstand?“
 
Dietmar wollte seinen Ohren nicht trauen. Er will seinen Ärger über diesen halsstarrigen Kerl los werden – und Bert sagt einfach: Lass ihn, solange wir zahlen können!
 
Nahm er Fred, nahm er sich zu wichtig?
 
Er sah in Berts prüfende Augen. „Lehrer bleibt immer Lehrer, was?“ – „Wie meinst du das?“ – „Schon gut. Nur ein Gedanke.“ Ich habe mich verlaufen, habe Bert, der holt mich zurück. So ein Fuchs, dachte Dietmar. Laut sagte er: „Die Termine mache ich mit Steffen am Telefon?“ – „Ist das Beste. Er hat den Überblick.“  
 
Das war sie wohl, dachte Bert, die Versöhnung – leichter als gedacht. Nichts – von Chor verlassen. Ich werde mich hüten, solche Worte heraus zu kitzeln. Ein Ziel, gemeinsame Arbeit, kurzes inne halten – so lösen sich Probleme.
 
Sie blickten über die Bastionen hinunter auf den Hang des Festungsberges. Weinreben wuchsen dort seit kurzem, ein unscheinbarer Zaun schützt eine neue Sorte: Erfurter Wein – für einige Flaschen soll der kleine Weinberg schon reichen. Auf den weiten Domplatz schien Abendsonne auf Markttreiben, malte an Fachwerkhäuser Balken und blitzende Fensterscheiben. Die „Grüne Apotheke“ stand endlich frei, die „Hohe Lilie“ blieb noch eingerüstet. – „Dort tafelte der Schwedenkönig Gustaf Adolf“, sagte Bert. – „Ich weiß, Lehrer, weiß auch, dass der Kaisersaal seinen Namen von Napoleon hat und die Sozialdemokraten sich einst im gleichen Saal vereinten.“ – „Nun sei doch nicht gleich angebrannt! Schau lieber, wie schön Erfurt geworden ist in den letzten Jahren.“ 
 
Dietmar stand auf. Er muss noch einmal in die Firma.
 
Bert nahm den Weg durchs Andreasviertel. Er war zufrieden mit sich, zufrieden mit den kleinen, alten Häusern in dieser engen Gasse, dem anderen Ende der Kneipenmeile. Es gäbe wohl diese Meile, vielleicht das ganze Viertel nicht, wären die Dinge vor Jahren anders gelaufen.
 
Er will nicht rechten. Er will sich freuen am heutigen Tag.

 

 

 

August 2005             Klaus Buschendorf  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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