Leo Sievering

Von Tigerlili und Thomasson 1

Meine Geschichten um Tigerlili und Thomasson sind NICHT autobiographisch, sondern reine Phantasie. Sie entstehen alleine aus Stimmungen, wenn ich Musik höre...

Tigerlili und Thomasson III -  Der Anfang  
 

Sie begegneten sich im Morgennebel. Sonntags auf einem Flohmarkt in Köln, um sieben Uhr morgens. Sie hatten die Stände direkt nebeneinander zugeteilt bekommen. Das freundliche, doch noch müde „Guten Morgen“, diese ersten Worte, die sie wechselten, der erste Augen-Blick, die ersten Bewegungen, die sie voneinander wahrnahmen, machten sie beide schon aufmerksam und aufgeregt neugierig. Schon jetzt verhielten sie sich anders als wenn sie jemandem begegnet wären, der ihrer beider Seelen nicht in heftige Schwingungen versetzt hätte.
Noch unreflektiert bemerkte Thomas, dass sich ihr Kopf bei ihrem ersten Blick in seine Augen leicht schief legte und Liliane registrierte seinen Blick in ihre Augen, der um Bruchteile einer Sekunde zu lang war, um nichts auszulösen. 
„Mit dem Wetter scheinen wir ja Glück zu haben.“ sagte Thomas und das Wetter war nun wirklich nicht das, was ihn interessierte. Er wollte sie reden hören. Liliane schaute nach oben. „Ja, stimmt, es ist nur noch zu kalt, aber das wird sich wohl bald ändern“ erwiderte sie halb lächelnd, halb lachend und schüttelte sich leicht. Sie spürte, wie jeder Satz, den sie aussprachen, mehrere Bedeutungen bekam. Sie fühlte Verlegenheit in sich aufsteigen. Thomas bemerkte es und entließ sie mit einem leichten Kopfnicken aus ihrem ersten kurzen Wortwechsel.
Stumm öffneten beide die Kofferräume ihrer Autos und begannen die Kisten und Tapeziertische auszupacken. Doch beide konnten nicht anders als sich mit einem Seitenblick weiter zu beobachten. Thomas bemerkte ihre schlanke, weibliche Figur, ihre dynamischen, doch weichen Bewegungen. Liliane registrierte die planvolle Ordnung, mit der er die Kartons auf seinem Platz sortierte. Er schien genau zu wissen, was in den einzelnen Kartons enthalten war und er schien sich im Vorhinein einen Plan zurecht gelegt zu haben, was er wann und wo auf  dem Tapeziertisch anbieten wollte. Sie selber hatte einfach alles Verwertbare in irgendeinem Karton verstaut, sie würde sie nach dem Zufallsprinzip öffnen und ausräumen. Sie war halt, scheinbar anders als er, eine kleine Chaotin. Sie schmunzelte darüber, dass sie schon jetzt eine seiner Charaktereigenschaften festgestellt zu haben schien und eine ihrer sich offenbarte.
Er war nur wenige Zentimeter größer als sie, hatte einen recht breiten Rücken, war schlank, schien aber nicht durchtrainiert. Sie waren in etwa gleichaltrig, Liliane war 32. Nachdem der Wagen ausgeräumt war, nahm sie ihre Tasche vom Beifahrersitz, holte die Thermoskanne heraus, goss sich einen Kaffee ein und setze sich auf die offene Ladefläche ihres Ford Fiesta. Sie wärmte ihre Hände an der warmen Tasse und schaute zu ihm hinüber. „Was verkaufst Du denn so?“ fragte sie. „Ach, ich habe meinen Keller aufgeräumt und ´ne Menge alten Krempel gefunden, den ich schon seit Jahren mit mir rumschleppe, und Du?“ „Genauso, sind viele Klamotten dabei, die ich eh nicht mehr anziehe.“ Also ist auch er ein Gelegenheits-Flohmarktverkäufer, dachte sie.
Zwei Minuten später war er ebenfalls mit Ausräumen fertig. Seine Kartons waren in drei Abteilungen sortiert und gestapelt, ihre eigenen dagegen standen wild auf ihrem Platz verteilt. „Sieht aber ordentlich aus“, sagte sie und hätte die Worte am liebsten gleich wieder zurückgenommen, denn bei seiner achselzuckenden, verlegen-wortlosen Reaktion fragte sie sich, ob sie zu weit gegangen war. Er schloss die Ladeklappe seines Passat-Kombi und öffnete die Fahrertüre. „Ich bring eben das Auto weg“, sagte er. „Ja, muss ich auch noch“, antwortete sie. Sie hatten beide einen Stand gewählt, bei dem man das Auto nicht am Platz behalten durfte und ihn nach dem Ausräumen auf den Parkplatz fahren musste. Das war zwar etwas weniger komfortabel, aber wesentlich preisgünstiger. Sie verstaute die Thermoskanne wieder in ihre Tasche und setzte sich ebenfalls auf den Fahrersitz.
Sie fuhren hintereinander her Richtung Parkplatz. Auch dort fanden sie nicht weit von ihren Ständen entfernt Plätze direkt nebeneinander. „Glück gehabt“, bemerkte er während sie aus ihren Wagen stiegen und ihm wurde klar, dass er ihr bei der Interpretation dieser beiden Worte unbeabsichtigt jegliche Freiheit ließ, die sie auch innerlich und in sich hinein schmunzelnd nutzte. Er hatte die geringe Entfernung zu ihren Ständen gemeint, aber auch die Bedeutung der erneuten Nachbarschaft gefiel ihm. Daher beließ er es dabei, stoppte das weitere Anwachsen der Spannung nicht mit einem Zusatz wie „da müssen wir nicht weit laufen“, oder „da haben wir die Autos im Blick“. Erneut verlegen, gingen sie äußerlich wortlos zurück. Doch in ihrem Inneren arbeitete es, beider Phantasie schlug Kapriolen. Die Vorstellung, dem jeweils Anderen die eine verräterische Frage zu stellen, drängte sich in ihr Bewusstsein: „Hast Du nachher schon was vor?“ Doch sie beide waren alles andere als Draufgänger. Beide brauchten ein großes Maß an Vertrauen, bevor sie sich öffneten und offenbarten und beide hatten den Wunsch, zunächst genau zu beobachten, wie der jeweils andere agieren und reagieren würde. Und beide glaubten daran, dass, wenn zwei Menschen zueinander passen, es ohnehin eine Chance geben würde, die es nur zu ergreifen gälte. Noch war ihnen nicht klar, dass zwischen beiden auch in diesem Bild der Welt eine große Übereinstimmung herrschte. Doch unbewusst fühlten sie es. Und erst viel später sollte sich herausstellen, wie sehr ihrer beiden Seelen im gleichen Takt schwingen und sich ähneln. Doch in diesem Augenblick war es gerade eine halbe Stunde her, dass sie sich das erste Mal begegnet waren. So beließen es beide dabei, sich über den Wunsch nach dieser Frage zu freuen, sie aber nicht auszusprechen.
 
Zurück an ihrem Verkaufsstand angekommen, sah Liliane auf die Uhr. “Noch fast zweieinhalb Stunden Zeit, bevor es losgeht.“ „Ja,“ erwiderte Thomas, “es geht erst um zehn los.“ Wie immer auf einem Flohmarkt war es verboten, etwas vor dem offiziellen Beginn zu verkaufen. Sie lächelten sich an. Ebenfalls um wenige Augenblicke länger, um viele Grade wärmer und sich dabei um einige Stufen genauer ansehend,  als es sich einander Fremde üblicherweise erlauben, die an dem Menschen hinter dem Lächeln nicht weiter interessiert sind.
Er bemerkte ihre ungeschminkten, weich geschwungenen Lippen und ihre rehbraunen Augen, sie seine hellblauen Augen, die ihm eine so warmherzige Ausstrahlung verliehen. Eine hundertstel Sekunde vor einem Zuviel an Augen-Blick wandten sie sich voneinander ab und begannen damit, ihre Kartons zu öffnen und den Inhalt auf den Tischen zu arrangieren. Nun vermieden sie es, den jeweils anderen zu beobachten, jedoch nahmen sie wiederum genau das voneinander wahr.
So verbrachten sie die nächste halbe Stunde damit, möglichst viele Waren möglichst verkaufsfördernd auf den Tapeziertischen unterzubringen und dabei den anderen möglichst unaufdringlich nicht zu beobachten. Letzteres gelang ihnen nicht wirklich.
 
Liliane war zuerst fertig, ihr Tapeziertisch war zwar etwas überladen, dafür aber hatte sie jeden Millimeter genutzt. Sie goss sich aus der mitgebrachten Thermoskanne einen weiteren Kaffee ein und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie sah, dass auch Thomas gerade fertig wurde, er stellte  die leeren Kartons auf einen Stapel. Sie besah sich seinen Tisch, der wesentlich leerer als ihrer, dafür aber sehr übersichtlich war. Jetzt erst wurde Liliane bewusst, dass sie ihren Stuhl an das linke Ende ihres Tisches, an das sein Tisch grenzte, aufgestellt und damit ein sehr deutliches Zeichen gegeben hatte. Er nahm ihr Angebot an und stellte seinen Stuhl neben ihren, jedoch mit ca. einem Meter Abstand, die Grenze zur Intimität angemessen achtend.
„So“, sagte er, „jetzt könnten die Leute eigentlich kommen.“ „Tja,“ antwortete sie, „sind aber immer noch zwei Stunden, magst Du einen Kaffee?“ Er strahlte. „Ja gerne, danke! Ich hab aber keine Tasse.“  „Hm, ich hab auch keine zweite dabei“, antwortete sie. „Ich hab auch keine, die ich verkaufen will, dann muss wohl ich doch darben.“ Sie lachte. Gleichzeitig fiel ihr seine Wortwahl und seine Aussprache auf, er schien einen großen Wortschatz zu haben, seine Aussprache hatte etwas Eigenartiges. Er sprach das „e“ oft recht kurz und um Nuancen „ö“-ähnlich aus und sein „s“ sprach er fast immer stimmhaft aus, beides zusammen klang sehr sympathisch und erinnerte an einen schwedischen Akzent. Sie fasste Mut: „Wie heißt Du eigentlich?“ „Thomas,“ antwortete er, und Du?“ „Liliane,“ sagte sie. „Hallo Liliane,“ lächelte er, sie lächelte zurück. „Hallo Thomas.“ Ihre Annäherung aneinander schritt wie selbstverständlich fort, doch achtsam und respektvoll.
Sie wandten ihren Blick voneinander ab und beobachteten das Treiben auf dem Flohmarktgelände. Die meisten Stände waren bereits fertig aufgebaut und es gab schon Menschen, die sich die Waren auf den Tischen ansahen und mit den Verkäufern verhandelten. Erfahrungsgemäß waren das jedoch Verkäufer, die vor dem erlaubten Verkaufsbeginn Schnäppchen machen wollten, um sie später an ihrem eigenen Stand teurer weiterzuverkaufen. Auch an Lilianes Stand hatte sich eine modern gekleidete, schwarzhaarige Frau mittleren Alters eingefunden, die einen der Kleidungs-Stapel durchsuchte.  Sie zog ein okkerfarbenes Top mit Tigermuster heraus, besah es sich und hielt es dann vor ihren Oberkörper. „Wie viel?“ fragte sie knapp. „Ich darf noch nicht verkaufen“, antwortete Liliane und deutete auf ihre Uhr. „Bitte, wieviel? Alle schon verkaufen,“ entgegnete die Frau in deutlich türkischem Akzent. Liliane sah sich um, und tatsächlich schien der Verkauf an einigen Ständen entgegen dem Verbot in vollem Gange zu sein. Die Kundin schmunzelte: „Ich sag nix weiter.“ Liliane zögerte noch ein wenig, doch die Chance, das erste Geld einzunehmen, war verlockend. „Ok, fünf Euro,“ sagte sie schließlich. Die Kundin besah sich das Top erneut und mit ernstem Blick, antwortete dann forsch, doch mit leicht zu übersehendem, lächelnden Zwinkern: „50 Cent.“ Liliane war empört, „Wie bitte? Zu verschenken hab ich nichts.“ Die Frau legte das Top zurück auf den Stapel ohne es wieder zusammenzufalten und ging wortlos weg. Liliane entfuhr ein lautes, wütendes Knurren. Thomas, der die Szene beobachtet hatte, dachte dass dieses Knurren sehr gut zum Top passte und lachte, sagte aber nichts. „Au Mann,“ meinte Liliane in wütendem Ton, „ich hab ja eigentlich nichts gegen Türken, aber auf dem Flohmarkt sind sie oft ziemlich unverschämt.“ Sie ging um den Tisch herum und faltete das Top wieder zusammen. „Naja, das sehe ich anders,“ widersprach Thomas, „das ist einfach ´ne andere Mentalität. Sie kennen es nicht anders als dass ein Verkäufer erst mal einen viel zu hohen Preis ansetzt und der Käufer einen viel zu niedrigen. Das hab ich mal bei einem Urlaub in der Türkei kennen gelernt. Für sie gehört diese Art zu verhandeln selbstverständlich zum täglichen Einkauf dazu. Wir kennen´s  ja nicht anders, als sofort den Preis zu nennen, den wir wirklich haben wollen und ärgern uns dann, wenn es weniger wird. Ich stell mich einfach drauf ein und nehm´s mit Humor, dann macht’s sogar Spass.“ „Aber manche nerven wirklich“, entgegnete Liliane trotzig, doch Thomas entgegnete stoisch: „Aber genau so viele Deutsche auch.“ „Stimmt auch wieder“, gab Liliane zu und schämte sich etwas für ihre Reaktion der Kundin gegenüber, denn wenn Thomas Recht hatte, und das hatte er, hatte sie eher die Kundin beleidigt als umgekehrt und deren Reaktion, das Top achtlos wegzulegen und zu gehen, wäre verständlich. Thomas sah ihr dies an und suchte nach einem ablenkenden Satz, um die nun entstandene Distanz zwischen ihm und Liliane zu überbrücken. Doch sein Gedanke wurde durch einen Mann unterbrochen, der sich seinem Tisch näherte. „Darf ich mal schauen?“ fragte er. „Klar, gucken können Sie, aber verkaufen tu ich vor zehn Uhr nichts“, antwortete Thomas freundlich, aber bestimmt. Der Mann musterte ihn, „ach komm, das tun doch alle, fällt doch gar nicht auf.“ „Mag sein, es sind aber jetzt hauptsächlich Wiederverkäufer unterwegs, da warte ich lieber. Wenn Sie an was Bestimmtem Interesse haben, leg ich Ihnen das gerne bis viertel nach zehn zurück.“ Kurz sah sich sein Gegenüber noch auf dem Tisch um, nickte Thomas dann kurz zu und ging.
Thomas wandte sich wieder Liliane zu, die das Tiger-Top offensichtlich gerade verkauft hatte, denn es lag nicht mehr obenauf und sie verstaute gerade Geld in ihrer Hosentasche. „Jetzt hab ich doch nur zwei Euro dafür bekommen, aber ok, Hauptsache es ist weg, ich konnte es eh nicht mehr leiden.“ ‚Schade’, dachte Thomas, ‚stand Dir bestimmt gut.’ Sie setzte sich wieder neben ihn und es trat ein Schweigen ein, das beiden angenehm war. Sie genossen stumm die Nähe eines Menschen, der ihnen, so fremd er auch war, doch schon einen Hauch von Geborgenheit und Wärme gab. Die unergründliche, magische Anziehung zwischen zwei menschlichen Seelen hatte bei Liliane und Thomas unbändige Kraft.  Mehr brauchte es in diesem Moment nicht.
Als es zehn wurde, saßen sie immer noch nebeneinander. Ihre Nähe wurde immer öfter durch Verhandlungen mit Kaufinteressenten unterbrochen. Thomas blieb konsequent bei seiner Linie, vor zehn Uhr nichts zu verkaufen. In einer kurzen Pause hatte er ihr den Grund erzählt: Er hatte einmal auf einem Flohmarkt ein Telefon für damals noch 10 DM verkauft und der Käufer bekam später an seinem eigenen Stand direkt neben ihm das zehnfache dafür. In triumphierendem Ton hatte er Thomas das dann mitgeteilt.
Liliane hatte bis zehn schon einige Sachen verkauft und freute sich darüber, auch wenn klar war, dass sie mit Geduld bis zum offiziellen Verkaufsstart sicher mehr für die einzelnen Sachen bekommen hätte. Doch Geduld zählte nicht immer zu ihren Stärken. Um kurz nach zehn wurde der Flohmarkt so belebt und ihre Stände derart von Kunden belagert, dass an ein ständiges Sitzen nicht mehr zu denken war und sie sich voll und ganz auf den Verkauf konzentrieren mussten. Sie versetzten ihre Stühle in die Mitte ihrer Tische und verabschiedeten sich aus ihrer Nähe mit einem Lächeln, das in seiner Intensität einer Umarmung glich.
Beide verkauften sehr gut, auch Thomas’ Tisch leerte sich zusehends und von Zeit zu Zeit füllte er ihn aus einem ausgewählten Karton auf, doch schien er stets darauf zu achten, seinen Tisch übersichtlich zu halten. Liliane griff bei Bedarf einfach in den nächst greifbaren Karton und ersetzte jedes verkaufte Stück durch ein neues, so dass ihr Tisch ständig voll blieb. In den wenigen kurzen Pausen beobachtete sie Thomas bei seinen Gesprächen mit Kunden und mit viel Sympathie bemerkte sie seine ruhige, geduldige und warmherzige Art, mit den Menschen umzugehen. Er schien nun voll und ganz auf den Verkauf konzentriert und sie vergessen zu haben. Doch das stimmte nicht. Auch er beobachtete sie mit Seitenblicken, wenn sie mit Käufern redete. Ihre temperamentvolle, selbstbewusst-freche und lockere Gesprächsführung beeindruckte ihn ebenso. In einer der wenigen Verschnaufpausen war sie mit dem Rücken zu ihm gewandt , er schaute auf  ihr braunes glattes Haar, dass bis zu den Schulterblättern
reichte .
Wie er sie nun gefahrlos genau betrachten und beobachten konnte, wenn auch von hinten, empfand er sie erneut als sehr attraktive Frau. In diesem Moment war es vor allem ihre Art sich zu bewegen, die äußerst erotisch auf ihn wirkte. Es kostete Thomas einige Mühe, seinen Blick abzuwenden.
Mittlerweile war es 15.00 Uhr geworden und immer noch war sein Stand ständig von Käufern belagert. An Lilianes Tisch dagegen war es merklich ruhiger geworden. Sie war dazu übergegangen, bei den Preisen noch weiter hinunter zu gehen, weil sie so wenig wie möglich wieder mit nach Hause nehmen wollte und durch das zeitige Aufstehen am Morgen und die vielen Gespräche ziemlich müde geworden war. Noch eine halbe Stunde, dann wollte sie anfangen, ihren Stand abzubauen. Sie sah zu Thomas, der gerade mit einem Kopfschütteln das letzte Angebot eines Kunden ablehnte, der sich dann achselzuckend abwandte. Thomas war auch hier seinem Verhalten treu geblieben, die Spanne zwischen seinem ersten und dem endgültigen Verkaufspreis sehr gering zu halten. Immer noch waren einige ungeöffnete Kartons des Stapels mit Inhalt dort, wo sie schon seit dem Morgen standen. Das bedeutete wohl, dass er noch nicht so bald Feierabend machen würde.
Liliane wollte es genau wissen: „Gehst Du auch mit Deinen Preisen runter?“ fragte sie ihn. „Nein,“ antwortete er, „dann nehm ich die Sachen lieber wieder mit und gehe noch einmal auf den Flohmarkt. Aber noch ist ja genug Zeit.“ „Ich mach gleich Schluss, bin ziemlich müde“, sagte sie und merkte, wie er leicht zusammenzuckte. Er schaute sie an, das erste Mal ohne zu lächeln.
„Hallo!“ rief eine Dame, die ihm gegenüber stand, „ich bekomme noch zwei Euro von Ihnen!“ „Oh ja, Entschuldigung.“ antwortete Thomas, öffnete eine Geldkassette, die auf dem Tisch stand und ziemlich fahrig reichte er seiner Kundin eine Münze. „Hey,“ mahnte die Frau empört, „das ist ein Euro, ich bekomme zwei.“ „Ach sorry, war keine Absicht,“ entschuldigte sich Thomas und gab ihr eine zweite Münze. „Schon gut, ich hab ja aufgepasst. Schönen Tag noch,“ sagte sie freundlich lächelnd und ging. Liliane hatte sich inzwischen abgewandt, war wieder mit einem Käufer beschäftigt. Sie verkaufte ihm für 50 Cent eine Hose, die sie gut und gerne auch für 8 Euro hätte verkaufen können, nur um ihn loszuwerden. Sie war mit ihren Gedanken woanders. Liliane überlegte, ob sie nicht doch noch länger bleiben und auf Thomas warten sollte. Doch ihr Tapeziertisch wies einige leere Stellen auf und ihre Kartons waren alle schon ausgeräumt. Das, was sie jetzt wieder mitnehmen würde, würde höchstens zwei Kartons füllen. Und sie fühlte sich erschöpft. Sie setzte sich auf ihren Stuhl und beobachtete die Flohmarkt-Besucher, die nun an ihrem Tisch vorbeigingen. Sie schauten ihn nur kurz an und gingen dann weiter. Die wenigen Dinge, die übrig geblieben waren, waren nicht mehr interessant. Auch hatte sie viel mehr Geld eingenommen, als sie gehofft hatte.
Thomas schaute zu ihr herüber, er schien sich wieder gefangen zu haben. „Und, hat sich’s denn für Dich gelohnt?“ fragte er lächelnd. „Ich denke schon, bestimmt,“ antwortete sie, „und für Dich?“ „280 Euro ungefähr, schon klasse.“ Sie dachte: ‚Bemerkenswert, dass er bei diesem Chaos den Überblick behält.’ Sie selber hatte keine Ahnung, wie viel Geld sie in ihren verschiedenen Hosentaschen verstaut hatte, irgendwas zwischen 100 und 300 Euro, könnte aber auch mehr sein. Ihr Gespräch wurde erneut durch einen von Thomas´ Kunden unterbrochen, an Lilianes Stand tat sich nichts mehr. Sie fasste endlich den Entschluss, nun einzupacken, machte sich an die Arbeit und fühlte, wie Thomas sie beobachtete.Mist, das war’s dann wohl’, dachte sie und ihre Stimmung fiel.
Als die restlichen Sachen verstaut, die leeren Kartons kleingefaltet und der Tapeziertisch zusammengeklappt war, war Thomas immer noch mit Kaufinteressierten beschäftigt. Liliane ging zum Parkplatz, holte ihren Fiesta an den Stand, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Thomas ließ einen Kunden stehen und kam zu ihr. „Komm, ich helf Dir“, sagte er und griff einen Karton. „Ist aber lieb von Dir.“ Sie bemühte sich, sich ihre trübe Stimmung nicht anmerken zu lassen. Es gelang ihr nicht, denn Thomas sagte: „War ziemlich anstrengend, oder? Musst Du denn jetzt noch weit fahren?“ Wieder wurden sie unterbrochen durch einen Ruf von Thomas´ Stand: „Wie viel willsten für den Discman hier haben?“ „Einen Moment, ich komme sofort“, rief Thomas zurück und wandte sich mit fragendem Blick wieder an Liliane. Ihr Auto war schon fertig gepackt. „Ne“, sagte sie, „geht so, ich wohne in Ehrenfeld.“  Mit einem überraschend strahlenden Lächeln sah er ihr in die Augen. „Echt? Ich auch! Wo denn da?“ Ihre Stimmung hellte sich schlagartig auf. „Nußbaumer Straße.“ Die Begeisterung in seinem Blick wurde nun unverkennbar. „Dann sind wir ja fast Nachbarn, ich wohne auf der Kleiststraße, direkt an der Kirche.“ Der Discman-Kunde an Thomas Stand war inzwischen gegangen, doch noch immer waren dort einige Leute dabei, Waren zu begutachten. „Kenn ich“, sagte sie und überließ bewusst ihm ein weiteres Vorgehen.
Doch dieses fiel zunächst etwas weniger forsch aus als sie erhofft hatte: „Vielleicht sehen wir uns ja mal, ich bin abends öfter im Duddel, kennst Du das?“ Ein wenig enttäuscht war sie nun doch. „Ja, kenn ich, das ist doch dieses Bistro, ich war aber noch nie drin, ich wohn noch nicht so lang in Ehrenfeld.“ Thomas sagte: „Ist richtig urig, ich denke ich bin am Mittwoch wieder da. Wenn Du Lust hast, ich würd mich freuen.“ ‚Also doch! Wie charmant er ein Date klarmacht, und wie ich Lust dazu hab’, dachte sie, sagte aber: „Ich guck mal, wenn meine Katze mich gehen lässt.“ Er lachte, „also, vielleicht bis Mittwoch“ , und reichte ihr die Hand. „Wir werden sehen“, antwortete sie und verschluckte das „uns“ mit kaum merklichem Augenzwinkern.......
Fortsetzung folgt... auf:
www.MutzumWort.de
© 2005 Leo Sievering
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Mittagsläuten von Maike Opaska



Weil ich das Verschwenderische des Lebens begriffen habe, die Extreme erkannte und über den Weg von einem zum anderen nachzudenken anfing, weil ich verstand wie elend es ist, wußte ich auch, wie schön es ist und weil ich erkannte, wie ernst es auch ist wußte ich auch wie fröhlich es ist.

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