So verbrachten sie die nächste halbe Stunde damit, möglichst viele Waren
möglichst verkaufsfördernd auf den Tapeziertischen unterzubringen und dabei den
anderen möglichst unaufdringlich nicht zu beobachten. Letzteres gelang ihnen
nicht wirklich.
Liliane war zuerst fertig, ihr
Tapeziertisch war zwar etwas überladen, dafür aber hatte sie jeden Millimeter
genutzt. Sie goss sich aus der mitgebrachten Thermoskanne einen weiteren Kaffee
ein und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie sah, dass auch Thomas gerade fertig
wurde, er stellte die leeren Kartons auf
einen Stapel. Sie besah sich seinen Tisch, der wesentlich leerer als ihrer,
dafür aber sehr übersichtlich war. Jetzt erst wurde Liliane bewusst, dass sie
ihren Stuhl an das linke Ende ihres Tisches, an das sein Tisch grenzte,
aufgestellt und damit ein sehr deutliches Zeichen gegeben hatte. Er nahm ihr
Angebot an und stellte seinen Stuhl neben ihren, jedoch mit ca. einem Meter
Abstand, die Grenze zur Intimität angemessen achtend.
„So“, sagte er, „jetzt
könnten die Leute eigentlich kommen.“ „Tja,“ antwortete sie, „sind aber immer
noch zwei Stunden, magst Du einen Kaffee?“ Er strahlte. „Ja gerne, danke! Ich
hab aber keine Tasse.“ „Hm, ich hab auch
keine zweite dabei“, antwortete sie. „Ich hab auch keine, die ich verkaufen
will, dann muss wohl ich doch darben.“ Sie lachte. Gleichzeitig fiel ihr seine
Wortwahl und seine Aussprache auf, er schien einen großen Wortschatz zu haben,
seine Aussprache hatte etwas Eigenartiges. Er sprach das „e“ oft recht kurz und
um Nuancen „ö“-ähnlich aus und sein „s“ sprach er fast immer stimmhaft aus,
beides zusammen klang sehr sympathisch und erinnerte an einen schwedischen
Akzent. Sie fasste Mut: „Wie heißt Du eigentlich?“ „Thomas,“ antwortete er, und
Du?“ „Liliane,“ sagte sie. „Hallo Liliane,“ lächelte er, sie lächelte zurück.
„Hallo Thomas.“ Ihre Annäherung aneinander schritt wie selbstverständlich fort,
doch achtsam und respektvoll.
Sie wandten ihren Blick voneinander ab und
beobachteten das Treiben auf dem Flohmarktgelände. Die meisten Stände waren
bereits fertig aufgebaut und es gab schon Menschen, die sich die Waren auf den
Tischen ansahen und mit den Verkäufern verhandelten. Erfahrungsgemäß waren das
jedoch Verkäufer, die vor dem erlaubten Verkaufsbeginn Schnäppchen machen
wollten, um sie später an ihrem eigenen Stand teurer weiterzuverkaufen. Auch an
Lilianes Stand hatte sich eine modern gekleidete, schwarzhaarige Frau mittleren
Alters eingefunden, die einen der Kleidungs-Stapel durchsuchte. Sie zog ein okkerfarbenes Top mit Tigermuster
heraus, besah es sich und hielt es dann vor ihren Oberkörper. „Wie viel?“
fragte sie knapp. „Ich darf noch nicht verkaufen“, antwortete Liliane und
deutete auf ihre Uhr. „Bitte, wieviel? Alle schon verkaufen,“ entgegnete die
Frau in deutlich türkischem Akzent. Liliane sah sich um, und tatsächlich schien
der Verkauf an einigen Ständen entgegen dem Verbot in vollem Gange zu sein. Die
Kundin schmunzelte: „Ich sag nix weiter.“ Liliane zögerte noch ein wenig, doch
die Chance, das erste Geld einzunehmen, war verlockend. „Ok, fünf Euro,“ sagte
sie schließlich. Die Kundin besah sich das Top erneut und mit ernstem Blick,
antwortete dann forsch, doch mit leicht zu übersehendem, lächelnden Zwinkern: „50 Cent.“ Liliane war empört, „Wie bitte? Zu verschenken
hab ich nichts.“ Die Frau legte das Top zurück auf den Stapel ohne es wieder
zusammenzufalten und ging wortlos weg. Liliane entfuhr ein lautes, wütendes
Knurren. Thomas, der die Szene beobachtet hatte, dachte dass dieses Knurren
sehr gut zum Top passte und lachte, sagte aber nichts. „Au Mann,“ meinte Liliane
in wütendem Ton, „ich hab ja eigentlich nichts gegen Türken, aber auf dem
Flohmarkt sind sie oft ziemlich unverschämt.“ Sie ging um den Tisch herum und
faltete das Top wieder zusammen. „Naja, das sehe ich anders,“ widersprach
Thomas, „das ist einfach ´ne andere Mentalität. Sie kennen es nicht anders als
dass ein Verkäufer erst mal einen viel zu hohen Preis ansetzt und der Käufer
einen viel zu niedrigen. Das hab ich mal bei einem Urlaub in der Türkei kennen
gelernt. Für sie gehört diese Art zu verhandeln selbstverständlich zum
täglichen Einkauf dazu. Wir kennen´s ja
nicht anders, als sofort den Preis zu nennen, den wir wirklich haben wollen und
ärgern uns dann, wenn es weniger wird. Ich stell mich einfach drauf ein und
nehm´s mit Humor, dann macht’s sogar Spass.“ „Aber manche nerven wirklich“,
entgegnete Liliane trotzig, doch Thomas entgegnete stoisch: „Aber genau so
viele Deutsche auch.“ „Stimmt auch wieder“, gab Liliane zu und schämte sich
etwas für ihre Reaktion der Kundin gegenüber, denn wenn Thomas Recht hatte, und
das hatte er, hatte sie eher die Kundin beleidigt als umgekehrt und deren
Reaktion, das Top achtlos wegzulegen und zu gehen, wäre verständlich. Thomas
sah ihr dies an und suchte nach einem ablenkenden Satz, um die nun entstandene
Distanz zwischen ihm und Liliane zu überbrücken. Doch sein Gedanke wurde durch
einen Mann unterbrochen, der sich seinem Tisch näherte. „Darf ich mal schauen?“
fragte er. „Klar, gucken können Sie, aber verkaufen tu ich vor zehn Uhr
nichts“, antwortete Thomas freundlich, aber bestimmt. Der Mann musterte ihn,
„ach komm, das tun doch alle, fällt doch gar nicht auf.“ „Mag sein, es sind
aber jetzt hauptsächlich Wiederverkäufer unterwegs, da warte ich lieber. Wenn
Sie an was Bestimmtem Interesse haben, leg ich Ihnen das gerne bis viertel nach
zehn zurück.“ Kurz sah sich sein Gegenüber noch auf dem Tisch um, nickte Thomas
dann kurz zu und ging.
Thomas wandte sich wieder Liliane zu, die das Tiger-Top
offensichtlich gerade verkauft hatte, denn es lag nicht mehr obenauf und sie
verstaute gerade Geld in ihrer Hosentasche. „Jetzt hab ich doch nur zwei Euro
dafür bekommen, aber ok, Hauptsache es ist weg, ich konnte es eh nicht mehr
leiden.“ ‚Schade’, dachte Thomas, ‚stand Dir bestimmt gut.’ Sie setzte sich
wieder neben ihn und es trat ein Schweigen ein, das beiden angenehm war. Sie
genossen stumm die Nähe eines Menschen, der ihnen, so fremd er auch war, doch
schon einen Hauch von Geborgenheit und Wärme gab. Die unergründliche, magische
Anziehung zwischen zwei menschlichen Seelen hatte bei Liliane und Thomas
unbändige Kraft. Mehr brauchte es in
diesem Moment nicht.
Als es zehn wurde, saßen sie immer noch
nebeneinander. Ihre Nähe wurde immer öfter durch Verhandlungen mit
Kaufinteressenten unterbrochen. Thomas blieb konsequent bei seiner Linie, vor
zehn Uhr nichts zu verkaufen. In einer kurzen Pause hatte er ihr den Grund
erzählt: Er hatte einmal auf einem Flohmarkt ein Telefon für damals noch 10 DM
verkauft und der Käufer bekam später an seinem eigenen Stand direkt neben ihm
das zehnfache dafür. In triumphierendem Ton hatte er Thomas das dann
mitgeteilt.
Liliane hatte bis zehn schon einige Sachen verkauft und freute sich
darüber, auch wenn klar war, dass sie mit Geduld bis zum offiziellen
Verkaufsstart sicher mehr für die einzelnen Sachen bekommen hätte. Doch Geduld
zählte nicht immer zu ihren Stärken. Um kurz nach zehn wurde der Flohmarkt so
belebt und ihre Stände derart von Kunden belagert, dass an ein ständiges Sitzen
nicht mehr zu denken war und sie sich voll und ganz auf den Verkauf
konzentrieren mussten. Sie versetzten ihre Stühle in die Mitte ihrer Tische und
verabschiedeten sich aus ihrer Nähe mit einem Lächeln, das in seiner Intensität
einer Umarmung glich.
Beide verkauften sehr gut, auch Thomas’ Tisch leerte sich
zusehends und von Zeit zu Zeit füllte er ihn aus einem ausgewählten Karton auf,
doch schien er stets darauf zu achten, seinen Tisch übersichtlich zu halten.
Liliane griff bei Bedarf einfach in den nächst greifbaren Karton und ersetzte
jedes verkaufte Stück durch ein neues, so dass ihr Tisch ständig voll blieb. In
den wenigen kurzen Pausen beobachtete sie Thomas bei seinen Gesprächen mit
Kunden und mit viel Sympathie bemerkte sie seine ruhige, geduldige und
warmherzige Art, mit den Menschen umzugehen. Er schien nun voll und ganz auf
den Verkauf konzentriert und sie vergessen zu haben. Doch das stimmte nicht.
Auch er beobachtete sie mit Seitenblicken, wenn sie mit Käufern redete. Ihre
temperamentvolle, selbstbewusst-freche und lockere Gesprächsführung
beeindruckte ihn ebenso. In einer der wenigen Verschnaufpausen war sie mit dem
Rücken zu ihm gewandt , er schaute auf
ihr braunes glattes Haar, dass bis zu den Schulterblättern
reichte .
Wie
er sie nun gefahrlos genau betrachten und beobachten konnte, wenn auch von
hinten, empfand er sie erneut als sehr attraktive Frau. In diesem Moment war es
vor allem ihre Art sich zu bewegen, die äußerst erotisch auf ihn wirkte. Es
kostete Thomas einige Mühe, seinen Blick abzuwenden.
Mittlerweile war es 15.00 Uhr geworden
und immer noch war sein Stand ständig von Käufern belagert. An Lilianes Tisch
dagegen war es merklich ruhiger geworden. Sie war dazu übergegangen, bei den
Preisen noch weiter hinunter zu gehen, weil sie so wenig wie möglich wieder mit
nach Hause nehmen wollte und durch das zeitige Aufstehen am Morgen und die
vielen Gespräche ziemlich müde geworden war. Noch eine halbe Stunde, dann
wollte sie anfangen, ihren Stand abzubauen. Sie sah zu Thomas, der gerade mit
einem Kopfschütteln das letzte Angebot eines Kunden ablehnte, der sich dann
achselzuckend abwandte. Thomas war auch hier seinem Verhalten treu geblieben,
die Spanne zwischen seinem ersten und dem endgültigen Verkaufspreis sehr gering
zu halten. Immer noch waren einige ungeöffnete Kartons des Stapels mit Inhalt
dort, wo sie schon seit dem Morgen standen. Das bedeutete wohl, dass er noch
nicht so bald Feierabend machen würde.
Liliane wollte es genau wissen: „Gehst
Du auch mit Deinen Preisen runter?“ fragte sie ihn. „Nein,“ antwortete er,
„dann nehm ich die Sachen lieber wieder mit und gehe noch einmal auf den
Flohmarkt. Aber noch ist ja genug Zeit.“ „Ich mach gleich Schluss, bin
ziemlich müde“, sagte sie und merkte, wie er leicht zusammenzuckte. Er schaute
sie an, das erste Mal ohne zu lächeln.
„Hallo!“ rief eine Dame, die ihm
gegenüber stand, „ich bekomme noch zwei Euro von Ihnen!“ „Oh ja,
Entschuldigung.“ antwortete Thomas, öffnete eine Geldkassette, die auf dem
Tisch stand und ziemlich fahrig reichte er seiner Kundin eine Münze. „Hey,“
mahnte die Frau empört, „das ist ein Euro, ich bekomme zwei.“ „Ach sorry, war
keine Absicht,“ entschuldigte sich Thomas und gab ihr eine zweite Münze. „Schon
gut, ich hab ja aufgepasst. Schönen Tag noch,“ sagte sie freundlich lächelnd
und ging. Liliane hatte sich inzwischen abgewandt, war wieder mit einem Käufer
beschäftigt. Sie verkaufte ihm für 50 Cent eine Hose, die sie gut und gerne
auch für 8 Euro hätte verkaufen können, nur um ihn loszuwerden. Sie war mit
ihren Gedanken woanders. Liliane überlegte, ob sie nicht doch noch länger bleiben
und auf Thomas warten sollte. Doch ihr Tapeziertisch wies einige leere Stellen
auf und ihre Kartons waren alle schon ausgeräumt. Das, was sie jetzt wieder
mitnehmen würde, würde höchstens zwei Kartons füllen. Und sie fühlte sich
erschöpft. Sie setzte sich auf ihren Stuhl und beobachtete die
Flohmarkt-Besucher, die nun an ihrem Tisch vorbeigingen. Sie schauten ihn nur
kurz an und gingen dann weiter. Die wenigen Dinge, die übrig geblieben waren,
waren nicht mehr interessant. Auch hatte sie viel mehr Geld eingenommen, als
sie gehofft hatte.
Thomas schaute zu ihr herüber, er schien sich wieder
gefangen zu haben. „Und, hat sich’s denn für Dich gelohnt?“ fragte er lächelnd.
„Ich denke schon, bestimmt,“ antwortete sie, „und für Dich?“ „280 Euro
ungefähr, schon klasse.“ Sie dachte: ‚Bemerkenswert, dass er bei diesem Chaos
den Überblick behält.’ Sie selber hatte keine Ahnung, wie viel Geld sie in
ihren verschiedenen Hosentaschen verstaut hatte, irgendwas zwischen 100 und 300
Euro, könnte aber auch mehr sein. Ihr Gespräch wurde erneut durch einen von
Thomas´ Kunden unterbrochen, an Lilianes Stand tat sich nichts mehr. Sie fasste
endlich den Entschluss, nun einzupacken, machte sich an die Arbeit und fühlte,
wie Thomas sie beobachtete. ‚Mist, das war’s dann wohl’, dachte sie und ihre
Stimmung fiel.
Als die restlichen Sachen verstaut, die leeren Kartons
kleingefaltet und der Tapeziertisch zusammengeklappt war, war Thomas immer noch
mit Kaufinteressierten beschäftigt. Liliane ging zum Parkplatz, holte ihren
Fiesta an den Stand, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Thomas ließ einen
Kunden stehen und kam zu ihr. „Komm, ich helf Dir“, sagte er und griff einen
Karton. „Ist aber lieb von Dir.“ Sie bemühte sich, sich ihre trübe Stimmung
nicht anmerken zu lassen. Es gelang ihr nicht, denn Thomas sagte: „War ziemlich
anstrengend, oder? Musst Du denn jetzt noch weit fahren?“ Wieder wurden sie
unterbrochen durch einen Ruf von Thomas´ Stand: „Wie viel willsten für den
Discman hier haben?“ „Einen Moment, ich komme sofort“, rief Thomas zurück und
wandte sich mit fragendem Blick wieder an Liliane. Ihr Auto war schon fertig
gepackt. „Ne“, sagte sie, „geht so, ich wohne in Ehrenfeld.“ Mit einem überraschend strahlenden Lächeln
sah er ihr in die Augen. „Echt? Ich auch! Wo denn da?“ Ihre Stimmung hellte
sich schlagartig auf. „Nußbaumer Straße.“ Die Begeisterung in seinem Blick
wurde nun unverkennbar. „Dann sind wir ja fast Nachbarn, ich wohne auf der
Kleiststraße, direkt an der Kirche.“ Der Discman-Kunde an Thomas Stand war
inzwischen gegangen, doch noch immer waren dort einige Leute dabei, Waren zu
begutachten. „Kenn ich“, sagte sie und überließ bewusst ihm ein weiteres
Vorgehen.
Doch dieses fiel zunächst etwas weniger forsch aus als sie erhofft
hatte: „Vielleicht sehen wir uns ja mal, ich bin abends öfter im Duddel, kennst
Du das?“ Ein wenig enttäuscht war sie nun doch. „Ja, kenn ich, das ist doch
dieses Bistro, ich war aber noch nie drin, ich wohn noch nicht so lang in
Ehrenfeld.“ Thomas sagte: „Ist richtig urig, ich denke ich bin am Mittwoch
wieder da. Wenn Du Lust hast, ich würd mich freuen.“ ‚Also doch! Wie charmant
er ein Date klarmacht, und wie ich Lust dazu hab’, dachte sie, sagte aber: „Ich
guck mal, wenn meine Katze mich gehen lässt.“ Er lachte, „also, vielleicht bis
Mittwoch“ , und reichte ihr die Hand. „Wir werden sehen“, antwortete sie und
verschluckte das „uns“ mit kaum merklichem Augenzwinkern.......
Fortsetzung folgt... auf:
www.MutzumWort.de
© 2005 Leo
Sievering