Tobias
vergewisserte sich noch einmal, dass ihn auch niemand beobachtete. Dann schlüpfte
er durch die Hecke und rannte zu dem großen alten Schuppen. Er hörte schon von
draußen, wie Walter im Schuppen auf Metall herumhämmerte. Tobias öffnete die braune
Holztür und ging hinein. „Hallo, Walter“, sagte er. Walter schaute zu ihm auf,
zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch langsam wieder aus und sagte
schließlich: „Hol mir mal die Kiste mit den Schrauben aus dem Regal.“ Tobias brachte
ihm die Kiste und betrachtete das Werk. Man konnte jetzt deutlich erkennen,
dass es ein Boot werden sollte, was sein Freund da baute. Als er es zum ersten
Mal gesehen hatte, waren es nur ein paar formlos zusammengenagelte Bretter
gewesen.
Damals
hatte er draußen im Garten gespielt und plötzlich ein lautes, schepperndes
Geräusch und darauf folgend ein unverständliches Fluchen gehört, das vom
Nachbargrundstück kam. Er war zu den Büschen gegangen und hatte versucht, zu
sehen, was da los war, aber jetzt war wieder alles still. Doch Tobias war
neugierig geworden. Er überlegte, ob er mal nachschauen sollte, doch er traute
sich nicht so richtig, weil er vor dem Mann, der seit kurzem in dem Haus
wohnte, ziemliche Angst hatte. Daran war seine Mutter schuld, die gleich an dem
Tag, an dem der Mann eingezogen war, am Abendbrottisch erzählte, was sie im Ort
über ihn gehört hatte. „Frau Weber sagt, er hätte jahrelang im Gefängnis
gesessen und danach hätte er alle Zelte abgebrochen und wäre zur See gefahren.
Und beim Bäcker habe ich gehört, dass er total überschuldet wäre. Da haben wir
ja einen feinen Kerl als Nachbarn erwischt! Du hältst dich jedenfalls von ihm
fern, Tobias, ist das klar?“
Die
Neugier war aber stärker. Tobias schlich sich zum Schuppenfenster und
versuchte, durch die staubige Scheibe etwas zu erkennen. Er sah einen Mann, der
Bretter vom Boden aufhob und an die Wand stellte. Plötzlich drehte der Mann
sich um und schaute zum Fenster. Tobias erschrak und duckte sich. Er hoffte, dass
er ihn nicht gesehen hatte. Doch da öffnete sich schon die Schuppentür und der
Mann stand vor ihm. „He, du, was machst du hier?“ fragte er mit rauer Stimme.
Er war groß und dünn, hatte graue Haare und einen grauen Bart. Auf seinem
Unterarm bemerkte Tobias sofort den eintätowierten dunkelblauen Anker.
Ängstlich sagte er: „Ich habe ein lautes Geräusch gehört und wollte sehen, was
das war.“ „Ach das“, brummte der Mann, „das waren die verdammten langen
Bretter, die umgestürzt sind.“ „Wofür brauchen Sie denn die Bretter?“ fragte
Tobias. „Ich baue ein Boot“, antwortete der Mann, während er wieder in den
Schuppen zurückging. Tobias folgte ihm zögerlich. Er stand im Türrahmen und
beobachtete, wie der Mann anfing, eines der langen Bretter in einen
Schraubstock zu spannen und es durchsägte. „Was wird das für ein Boot? Was
wollen Sie denn damit machen?“ fragte Tobias. „Sag ‚du’ zu mir, ich bin Walter“,
antwortete der Mann. „Das wird ein Segelboot. Und was soll ich schon damit
machen, segeln natürlich.“ „Und darf ich da vielleicht mal mitsegeln?“ fragte
Tobias hoffnungsvoll. „Wenn du mir beim Bauen hilfst, darfst du auch damit
segeln.“
Und
so kam es, dass Tobias fast jeden Tag zu Walter hinüberging und ihm beim Bauen
half. Schnell hatte er sich an Walters schroffe Art gewöhnt, und daran, dass er
nicht viel redete. Irgendetwas verband die beiden, sie verstanden sich auch
ohne viele Worte. Immer wenn Tobias rüberkam, kochte Walter einen Tee, den sie
dann aus alten Blechbüchsen tranken. Das Boot nahm schon bald Gestalt an, und
Tobias erfand die abenteuerlichsten Geschichten, wo sie damit überall hinsegeln
könnten: zu den Piraten in die Südsee oder zu den Wikingern in den Norden oder
auf dem Amazonas durch den Dschungel. Walter lachte über diese Geschichten und
sagte: „Nee nee, Junge, mit dem kleinen Kahn bleiben wir lieber auf den
heimischen Gewässern.“
Für
Tobias war Walter sein bester Freund. Nur durfte das keiner wissen, denn immer
wenn er zu ihm ging, musste er das heimlich tun. Seine Mutter berichtete immer
abenteuerlichere Geschichten über Walter, die sie im Dorf aufschnappte. „Er ist
Alkoholiker“, erzählte sie eines Abends Tobias’ Vater. „Er geht jeden Tag in
den Laden und kauft sich eine Flasche Doppelkorn.“ Dabei hatte Tobias ihn noch
nie Alkohol trinken sehen. Zu gern hätte er seinen Freund verteidigt, doch er
durfte sich nicht verraten, sonst würden sie ihn nie wieder zu Walter gehen
lassen. Er ließ sich immer Ausreden einfallen, wenn er nachmittags nach den
Hausaufgaben rausging. Meistens sagte er, er würde auf den Spielplatz gehen oder
zu seinem Freund Max und hoffte, dass seine Mutter nicht irgendwann mal dort
vorbeikommen würde, um ihn abzuholen.
An
einem heißen Nachmittag im August ging Tobias wieder einmal in den Schuppen
seines Freundes. Dort erlebte er eine Überraschung: Walter hatte den Bootsrumpf
weiß angestrichen und einen breiten roten Streifen ringsherum gezogen. Gerade
war er dabei, mit weißer Farbe etwas auf diesen Streifen zu schreiben.
„ALBATROS“, las Tobias. „Der König der Seevögel“, sagte Walter. „Jetzt müssen
wir nur noch den Mast aufsetzen.“ Tobias war sehr stolz. Er stand neben Walter
und die beiden betrachteten zufrieden ihr Segelboot. „Und wann können wir damit
auf dem See segeln?“ fragte Tobias. „Da musst du wohl zuerst deine Eltern
fragen“, antwortete Walter nachdenklich. „Aber das kann ich nicht, sie
verbieten es mir ja sowieso!“ Tobias stiegen die Tränen in die Augen. „Vielleicht
werde ich mal mit ihnen reden“, sagte Walter zu Tobias’ Überraschung. Er konnte
sich nicht vorstellen, wie Walter seine Eltern davon überzeugen wollte, ihn mit
auf dem Boot fahren zu lassen.
Als
er nach Hause kam, empfing ihn seine Mutter an der Haustür. Sie legte die Hände
in die Hüften und schaute ihn streng an. „Wo bist du gewesen, junger Mann? Du
hast mir gesagt, du wolltest zum Spielplatz gehen, aber da warst du nicht. Ich
war dort und habe dich gesucht, du solltest nach Hause kommen, Oma und Opa
waren hier!“ „Ich bin zu Max gegangen, wir haben Playstation gespielt“, sagte
Tobias möglichst gleichgültig. „Ach ja?“ sagte die Mutter. „Komisch, dass Max
das gar nicht mitgekriegt hat, ich habe nämlich bei ihm angerufen.“ Tobias
zuckte mit den Schultern. Seine Mutter seufzte. „Hör zu, ich will nicht, dass
du dich rumtreibst, du weißt, wie gefährlich das ist. Und gehe nur niemals mit
Fremden mit! Morgen bleibst du jedenfalls den ganzen Tag zu Hause, damit das
klar ist!“ Mit hängendem Kopf ging Tobias auf sein Zimmer. Ausgerechnet morgen,
wo sie den Mast aufstellen und das Segel befestigen wollten. Hoffentlich würde
Walter damit auf ihn warten.
Als
er am darauffolgenden Tag aus der Schule nach Hause kam, sah er einen
Polizeiwagen vor Walters Haus stehen. Einige Menschen standen daneben und
schauten neugierig zum Haus. Als Tobias näher kam, sah er auch einen Krankenwagen
in der Hofeinfahrt stehen. Er hörte eine Frau sagen: „Lange hat er ja nicht
hier gewohnt, der Alte. Na ja, ich finde, er hat sowieso nicht ins Dorf
gepasst.“ „Was ist passiert?“ fragte Tobias ängstlich. „Der Postbote hat ihn
gefunden, er lag vor dem Schuppen“, antwortete die Frau. „Herzinfarkt. Der
Notarzt kam zu spät.“ Tobias rannte nach Hause. Weinend legte er sich auf sein
Bett. Seine Mutter hatte ihn gehört und kam zu ihm ins Zimmer. Als sie fragte,
was los sei, erzählte Tobias ihr die ganze Geschichte. Aber seine Mutter konnte
jetzt nicht schimpfen. Sie streichelte nur seinen Kopf und versuchte ihn zu
trösten.
Am
nächsten Tag brachte Tobias’ Vater eine Überraschung mit nach Hause. Die
Polizei hatte in Walters Haus ein selbstgeschriebenes Testament gefunden. Darin
stand: „Ich bin mir darüber im Klaren, dass nach meinem Tod mein gesamter
Besitz gepfändet werden wird. Mein letzter Wunsch ist jedoch, dass mein
Segelboot „ALBATROS“ an meinen Nachbarn und Freund Tobias Schneider geht.“ Da
dieses Testament aber nicht rechtskräftig war, hätte das Boot eigentlich auch
gepfändet werden müssen. Tobias’ Vater war es aber gelungen, dem
Gerichtsvollzieher das Boot abzukaufen, und als Tobias zum Fenster
hinausschaute, sah er es unten im Garten stehen.
Tobias
hatte keine Ahnung, wie man richtig segelte, und sein Vater wusste es auch
nicht. Ohne Walter hatte er aber sowieso keine Lust mehr, mit dem Boot auf dem
See zu fahren. Stattdessen hatte er eine bessere Idee: Er benutzte das Boot als
Bett! Immer, wenn er darin lag, fühlte er sich ganz nah bei seinem Freund. Und
nachts träumte er sogar manchmal, dass er und Walter in der Südsee gegen
Piraten kämpften, mit den Wikingern durchs Nordmeer segelten oder wilde Tiere
am Amazonas jagten.