Markus Müller

Der Nachbar

Tobias vergewisserte sich noch einmal, dass ihn auch niemand beobachtete. Dann schlüpfte er durch die Hecke und rannte zu dem großen alten Schuppen. Er hörte schon von draußen, wie Walter im Schuppen auf Metall herumhämmerte. Tobias öffnete die braune Holztür und ging hinein. „Hallo, Walter“, sagte er. Walter schaute zu ihm auf, zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch langsam wieder aus und sagte schließlich: „Hol mir mal die Kiste mit den Schrauben aus dem Regal.“ Tobias brachte ihm die Kiste und betrachtete das Werk. Man konnte jetzt deutlich erkennen, dass es ein Boot werden sollte, was sein Freund da baute. Als er es zum ersten Mal gesehen hatte, waren es nur ein paar formlos zusammengenagelte Bretter gewesen.  

Damals hatte er draußen im Garten gespielt und plötzlich ein lautes, schepperndes Geräusch und darauf folgend ein unverständliches Fluchen gehört, das vom Nachbargrundstück kam. Er war zu den Büschen gegangen und hatte versucht, zu sehen, was da los war, aber jetzt war wieder alles still. Doch Tobias war neugierig geworden. Er überlegte, ob er mal nachschauen sollte, doch er traute sich nicht so richtig, weil er vor dem Mann, der seit kurzem in dem Haus wohnte, ziemliche Angst hatte. Daran war seine Mutter schuld, die gleich an dem Tag, an dem der Mann eingezogen war, am Abendbrottisch erzählte, was sie im Ort über ihn gehört hatte. „Frau Weber sagt, er hätte jahrelang im Gefängnis gesessen und danach hätte er alle Zelte abgebrochen und wäre zur See gefahren. Und beim Bäcker habe ich gehört, dass er total überschuldet wäre. Da haben wir ja einen feinen Kerl als Nachbarn erwischt! Du hältst dich jedenfalls von ihm fern, Tobias, ist das klar?“

Die Neugier war aber stärker. Tobias schlich sich zum Schuppenfenster und versuchte, durch die staubige Scheibe etwas zu erkennen. Er sah einen Mann, der Bretter vom Boden aufhob und an die Wand stellte. Plötzlich drehte der Mann sich um und schaute zum Fenster. Tobias erschrak und duckte sich. Er hoffte, dass er ihn nicht gesehen hatte. Doch da öffnete sich schon die Schuppentür und der Mann stand vor ihm. „He, du, was machst du hier?“ fragte er mit rauer Stimme. Er war groß und dünn, hatte graue Haare und einen grauen Bart. Auf seinem Unterarm bemerkte Tobias sofort den eintätowierten dunkelblauen Anker. Ängstlich sagte er: „Ich habe ein lautes Geräusch gehört und wollte sehen, was das war.“ „Ach das“, brummte der Mann, „das waren die verdammten langen Bretter, die umgestürzt sind.“ „Wofür brauchen Sie denn die Bretter?“ fragte Tobias. „Ich baue ein Boot“, antwortete der Mann, während er wieder in den Schuppen zurückging. Tobias folgte ihm zögerlich. Er stand im Türrahmen und beobachtete, wie der Mann anfing, eines der langen Bretter in einen Schraubstock zu spannen und es durchsägte. „Was wird das für ein Boot? Was wollen Sie denn damit machen?“ fragte Tobias. „Sag ‚du’ zu mir, ich bin Walter“, antwortete der Mann. „Das wird ein Segelboot. Und was soll ich schon damit machen, segeln natürlich.“ „Und darf ich da vielleicht mal mitsegeln?“ fragte Tobias hoffnungsvoll. „Wenn du mir beim Bauen hilfst, darfst du auch damit segeln.“

Und so kam es, dass Tobias fast jeden Tag zu Walter hinüberging und ihm beim Bauen half. Schnell hatte er sich an Walters schroffe Art gewöhnt, und daran, dass er nicht viel redete. Irgendetwas verband die beiden, sie verstanden sich auch ohne viele Worte. Immer wenn Tobias rüberkam, kochte Walter einen Tee, den sie dann aus alten Blechbüchsen tranken. Das Boot nahm schon bald Gestalt an, und Tobias erfand die abenteuerlichsten Geschichten, wo sie damit überall hinsegeln könnten: zu den Piraten in die Südsee oder zu den Wikingern in den Norden oder auf dem Amazonas durch den Dschungel. Walter lachte über diese Geschichten und sagte: „Nee nee, Junge, mit dem kleinen Kahn bleiben wir lieber auf den heimischen Gewässern.“

Für Tobias war Walter sein bester Freund. Nur durfte das keiner wissen, denn immer wenn er zu ihm ging, musste er das heimlich tun. Seine Mutter berichtete immer abenteuerlichere Geschichten über Walter, die sie im Dorf aufschnappte. „Er ist Alkoholiker“, erzählte sie eines Abends Tobias’ Vater. „Er geht jeden Tag in den Laden und kauft sich eine Flasche Doppelkorn.“ Dabei hatte Tobias ihn noch nie Alkohol trinken sehen. Zu gern hätte er seinen Freund verteidigt, doch er durfte sich nicht verraten, sonst würden sie ihn nie wieder zu Walter gehen lassen. Er ließ sich immer Ausreden einfallen, wenn er nachmittags nach den Hausaufgaben rausging. Meistens sagte er, er würde auf den Spielplatz gehen oder zu seinem Freund Max und hoffte, dass seine Mutter nicht irgendwann mal dort vorbeikommen würde, um ihn abzuholen.

An einem heißen Nachmittag im August ging Tobias wieder einmal in den Schuppen seines Freundes. Dort erlebte er eine Überraschung: Walter hatte den Bootsrumpf weiß angestrichen und einen breiten roten Streifen ringsherum gezogen. Gerade war er dabei, mit weißer Farbe etwas auf diesen Streifen zu schreiben. „ALBATROS“, las Tobias. „Der König der Seevögel“, sagte Walter. „Jetzt müssen wir nur noch den Mast aufsetzen.“ Tobias war sehr stolz. Er stand neben Walter und die beiden betrachteten zufrieden ihr Segelboot. „Und wann können wir damit auf dem See segeln?“ fragte Tobias. „Da musst du wohl zuerst deine Eltern fragen“, antwortete Walter nachdenklich. „Aber das kann ich nicht, sie verbieten es mir ja sowieso!“ Tobias stiegen die Tränen in die Augen. „Vielleicht werde ich mal mit ihnen reden“, sagte Walter zu Tobias’ Überraschung. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Walter seine Eltern davon überzeugen wollte, ihn mit auf dem Boot fahren zu lassen.

Als er nach Hause kam, empfing ihn seine Mutter an der Haustür. Sie legte die Hände in die Hüften und schaute ihn streng an. „Wo bist du gewesen, junger Mann? Du hast mir gesagt, du wolltest zum Spielplatz gehen, aber da warst du nicht. Ich war dort und habe dich gesucht, du solltest nach Hause kommen, Oma und Opa waren hier!“ „Ich bin zu Max gegangen, wir haben Playstation gespielt“, sagte Tobias möglichst gleichgültig. „Ach ja?“ sagte die Mutter. „Komisch, dass Max das gar nicht mitgekriegt hat, ich habe nämlich bei ihm angerufen.“ Tobias zuckte mit den Schultern. Seine Mutter seufzte. „Hör zu, ich will nicht, dass du dich rumtreibst, du weißt, wie gefährlich das ist. Und gehe nur niemals mit Fremden mit! Morgen bleibst du jedenfalls den ganzen Tag zu Hause, damit das klar ist!“ Mit hängendem Kopf ging Tobias auf sein Zimmer. Ausgerechnet morgen, wo sie den Mast aufstellen und das Segel befestigen wollten. Hoffentlich würde Walter damit auf ihn warten.

Als er am darauffolgenden Tag aus der Schule nach Hause kam, sah er einen Polizeiwagen vor Walters Haus stehen. Einige Menschen standen daneben und schauten neugierig zum Haus. Als Tobias näher kam, sah er auch einen Krankenwagen in der Hofeinfahrt stehen. Er hörte eine Frau sagen: „Lange hat er ja nicht hier gewohnt, der Alte. Na ja, ich finde, er hat sowieso nicht ins Dorf gepasst.“ „Was ist passiert?“ fragte Tobias ängstlich. „Der Postbote hat ihn gefunden, er lag vor dem Schuppen“, antwortete die Frau. „Herzinfarkt. Der Notarzt kam zu spät.“ Tobias rannte nach Hause. Weinend legte er sich auf sein Bett. Seine Mutter hatte ihn gehört und kam zu ihm ins Zimmer. Als sie fragte, was los sei, erzählte Tobias ihr die ganze Geschichte. Aber seine Mutter konnte jetzt nicht schimpfen. Sie streichelte nur seinen Kopf und versuchte ihn zu trösten.

Am nächsten Tag brachte Tobias’ Vater eine Überraschung mit nach Hause. Die Polizei hatte in Walters Haus ein selbstgeschriebenes Testament gefunden. Darin stand: „Ich bin mir darüber im Klaren, dass nach meinem Tod mein gesamter Besitz gepfändet werden wird. Mein letzter Wunsch ist jedoch, dass mein Segelboot „ALBATROS“ an meinen Nachbarn und Freund Tobias Schneider geht.“ Da dieses Testament aber nicht rechtskräftig war, hätte das Boot eigentlich auch gepfändet werden müssen. Tobias’ Vater war es aber gelungen, dem Gerichtsvollzieher das Boot abzukaufen, und als Tobias zum Fenster hinausschaute, sah er es unten im Garten stehen.

Tobias hatte keine Ahnung, wie man richtig segelte, und sein Vater wusste es auch nicht. Ohne Walter hatte er aber sowieso keine Lust mehr, mit dem Boot auf dem See zu fahren. Stattdessen hatte er eine bessere Idee: Er benutzte das Boot als Bett! Immer, wenn er darin lag, fühlte er sich ganz nah bei seinem Freund. Und nachts träumte er sogar manchmal, dass er und Walter in der Südsee gegen Piraten kämpften, mit den Wikingern durchs Nordmeer segelten oder wilde Tiere am Amazonas jagten.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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