_Prolog_
Wir waren noch Kinder gewesen.
Wir waren aufgewachsen, wie Schlachtvieh. Es hatte niemanden interessiert, was mit uns geschah.
Und auch uns hatte es nicht interessiert, was aus uns werden würde.
Denn alles was zählte war einzig und allein das Überleben.
Wenn man wieder erwachte, musste man noch atmen können und froh sein, kein Messer in der Brust stecken zu haben.
Und auch wenn es keine Seifenblase - Jugend war, mit all diesen tollen Geburtstagsfeiern, mit Zirkusbesuchen, mit Fernsehnabenden oder gar mit irgendwelchen Schulsausflügen und der Lieben Süßigkeiten Verkäuferin in der Stadt, die man aus Freundlichkeit zur hoffnungslos verlorenen Jugend ein Bonbon springen ließ - Wir hatten gelebt wie die Könige.
Jedoch hatte etwas unser Schloss in Schutt und Asche gelegt.
Und irgendwann waren wir nicht mehr nur Kinder gewesen.
Irgendwann hatten wir begriffen, dass man uns unsere Kindheit gestohlen hatte.
~*~
Ich war gerade 32 Jahre alt geworden, als ich meinen ersten, kompletten Ausraster hatte. Natürlich war es aus meiner Sicht her gesehen nicht wirklich etwas schlimmes gewesen, aber es hatte bewirkt, dass viele meiner Mitmenschen mich plötzlich aus einem völlig anderem Licht sahen. Es war schon sehr erstaunlich, wie rasant sich ein Menschenbild deformieren konnte, um in das Schablonenschema der Anderen zu passen, um wirklich haargenau so zu sein, wie alle es unterschwellig forderten und wollten. Und ich hatte dieses korrupte Leben lange genug mitgemacht. Lange genug hatte ich mir von einem intoleranten, abtrünnigem Mistkerl sagen lassen, was ich zu tun und zu lassen hatte. Lange genug hatte er mich als seinen persönlichen, humanen Fußabtreter benutzen dürfen und war über mich hinweggestiegen, wie über Abfall. Und lange genug hatte ich meine wunde Seele hinhalten müssen, ohne dass es ihn interessiert hätte, wie ich fühlte oder dachte. Es hatte ihn noch nie interessiert, was ich von alledem hielt oder gar niemals hätte er je meine Meinung zu irgendeinem Thema eingeholt. Anfangs hatte ich noch gedacht, dass er mich wegen meiner Qualifikationen bei sich in der Firma haben wollte, doch auch das entsprach nicht der Wahrheit. Ich hatte ihm einmal einen Ordner auf den Schreibtisch gelegt, der meine Jahresarbeit enthielt und mit der ich sogar einen Preis gewonnen hatte. Ich war verdammt stolz auf diese Papiere gewesen und glaubte, dass ihm die Idee vielleicht gefallen würde. Immerhin war ich sein Wirtschaftsassistent und dazu demnach befähigt, mich in dieser Branche auszuleben, wie es mein Wissen zuließ. Doch er wollte nicht, dass ich sein ach so perfektes System durchbrach und etwas umwarf. Wahrscheinlich war meine Idee so gut gewesen, dass er es innerlich und mental einfach nicht verkraftet hätte, in der Besprechung darum meinen Namen unter diese brillante Idee setzen zu müssen. Viele Menschen litten unter derartigen Komplexen, die es ihnen unmöglich machen, jemandem anders tatsächlich mal ein annäherndes Lob aus!
zusprech
en oder ähnliches. Ich wollte gar kein Lob, ich wollte nur den mir gebührenden Respekt, den er mir aber nie entgegen brachte. Und als er anfing, mir nicht einmal mehr Anerkennung entgegen zu bringen, da brannte in mir einfach eine Sicherung durch.
Ich war in sein Büro gegangen, hatte mich ganz nah vor ihn gestellt und abgewartet, bis er aufsah. Natürlich hatte er mich gefragt, was ich hier zu suchen hatte und einfach starr weiter sein Blatt mit dem blauem Messingkugelschreiber geschrieben. Als ich jedoch nicht einen Schritt von ihm weggetreten war, hatte er kurz geschluckt und dann zu mir aufgesehen. Ich muss sagen, ich erinnere mich gern und mit einem wohligem Lächeln an diesen Ausdruck, den sein Gesicht mir offenbarte. Seine Augen waren so voller Angst gewesen, dass es fast so schien, als stünde der leibhaftige Tod vor ihm. Und auch seine Unterlippe bebte vor Ungeduld etwas, sodass all dies sich in einem kleinen Schweißausbruch äußerte, als ich nach mehrmaligem Nachfragen meines Wunsches noch immer nichts geantwortet hatte. Ich hatte ihm nichts zu sagen, was sollte es schon an Worten geben? All das, was ich monatelang versucht hatte, ihm klar zu machen, hatte er einfach innerhalb weniger Wochen zerstört und mit Füßen getreten. Er hatte mich als Mensch wie etwas Unprivilegiertes behandelt und etwas derartig - abstoßendes konnte nicht auf mir sitzen bleiben. Meine rechte Hand wanderte über seinen Tisch, spähte nach nichts besonderem und ich fühlte förmlich, wie sein Blick an ihr haftete, sie praktisch durchlöcherte und zu ergründen versuchte, was ich geplant hatte. Doch ich hatte nichts geplant, alles entstand im Affekt heraus. Nichts davon, was daraufhin geschah, hatte ich jemals irgendwie aufgeschrieben. Vielleicht gedacht, ja. Aber schriftliche Notizen, wie Tagebücher, konnten vor Gericht gegen einen verwendet werden und so dumm war ich nicht. Ich war berechnend und relativ intellektuell genug, um unterscheiden zu können, was Talent, Naivität und Dummheit betraf. Ganz zart hatten meine Finger dann diesen festen HB Bleistift umfasst und ihn hochgehoben. Fast andächtig war er meinen Bewegungen gefolgt und das erste Mal in meinem Leben spürte ich wahre Macht. Ich wusste, dass ich sie ausstrahlte, wusste das ich sie lebte. Sie pulsierte in meinen A!
dern und
ich konnte mich ihr nicht mehr entziehen. Es war erstaunlich, wie gewaltig dieses Gefühl das eigene Selbst veränderte und beeinflusste. Irgendwie war ich nicht mehr ich selbst, als ich links um den Tisch herum lief, seinen entsetzten Blick auf mir spürte und genau wusste, dass er gleich schreien würde, wenn ich meinen gewonnenen Bleistift das erste Mal in seiner Brust versenken würde. Und er tat es. Als der erste Blutschwall aus seinem Körper hervor kam, wurde mir kurz schlecht und ich hatte Mühe, mich nicht auf ihm übergeben zu müssen. Seine Augen verfärbten sich gelblich, ja fast orangefarben. Und ich holte wieder aus, rammte die blutverschmierte, graue Spitze des Stiftes immer und immer wieder in seinen Körper. Es war erschütternd und befreiend zugleich. Endlich konnte ich ihm alles heimzahlen, was er mir angetan hatte. Endlich hatte ich Gelegenheit dazu. Und er wandte sich unter mir, schrie wie ein Schwein am Spieß und schlug hoffnungslos mit den Armen um sich. Sein weißes Hemd war übersät mit Einstichen, die den Leinenstoff verfärbten. Und ich fand, dass ihm dieses Rot weitaus besser stand. Es machte ihn menschlich. Selbst noch dann, als er vom Stuhl herunter rutschte und zu Boden sank, da ich nun den Stift direkt in ihn versenkt hatte und ihn nicht mehr heraus zog. Er steckte fest, müsste ungefähr die linke Herzkammer getroffen haben, so viel stand just für mich fest. Und als er so auf dem hellgrauem Teppich lag, sich unter seinem totem Körper allmählich eine Blutlache bildete, war er menschlicher als je zuvor.
~*~
Wir alle hatten in unserer Jugendzeit Spitznamen gehabt. Und wir hatten auch den Objekten Spitznamen gegeben, die in unserem täglichem Leben vorkamen. Meist waren dies Orte, an denen wir uns bevorzugt aufhielten.
Mein Name war Chazy Chaz gewesen. Niemals hatte ich hinterfragt, warum ich so hieß, es war einfach so. Ich hatte damit einen gewissen Standart in der Gang und das war gut so. Denn Jemand, der keinen Spitznamen hatte, besaß auch so gesehen nicht das Recht, zu irgendetwas seine Meinung zu äußern. Es war eine Art Freikarte für alles.
Wir lebten auf einer städtischen Halbinsel, "Lost Diamant Hill" genannt. Benannt danach, was unser Viertel einst darstellte: Eine Grube für Diamantensucher, faktisch gesehen eine Miene. Wir hatten natürlich die Hälfte unserer Kindheit damit verbracht, einmal einen Diamanten zu finden, denn damit wären all unsere Geldprobleme völlig nichtig gewesen und hinfällig. Und plötzlich hätte man Ansehen und Wohlstand gehabt. Aber da es nicht so war, gaben wir uns damit zufrieden, was wir hatten. Was blieb uns auch anderes übrig? Wir waren die "verlorene Generation von Amerika", einen Titel, den ich mit Ruhm trug.
Eigentlich war es recht ruhig bei uns, nur vereinzelt gab es gewisse Reibereien und kriminelle Akte. Unsere Gang zählte in unserem Viertel zu der wohl gefährlichsten. Wir waren 5 Jungs, einer schlimmer wie der Andere. Ich hatte sicherlich bisher den längsten Strafregister von allen, aber ich war noch nicht mündig genug, um verhaftet oder gar eingesperrt zu werden. Und das half meinem Egotrip.
"Chaz, was machen wir heute?" Joey klopfte mit seinem kleinem Hammer gegen den Lattenzaun und versuchte somit, den Nagel fest im Holz zu verankern. Hinter mir saß Bourdie und blätterte in seinem Comicheft, welches er erst vor Kurzem geklaut hatte. Es war recht schwül und warm an diesem Tage und ich trug schon das kürzeste Achselshirt, dass ich finden konnte. Dennoch lief mir das Körperwasser wie aus Löchern über die Haut und versuchte diese dadurch abzukühlen.
"Weiß ich nicht, was denkst du Bourdie?", fragte ich den Jungen hinter mir dann und erhielt darauf ein „Weiß auch nicht.“ Von ihm. Joey sah mich stirnrunzelnd an und schlug nochmals kräftig den Hammer auf das noch immer herausschauende Stück Metall. Dann begutachtete er stolz sein Werk und legte den Hammer beiseite, deutete mir zufrieden an, dass ich loslassen konnte. Probehalber rüttelte er dennoch etwas an der Latte und nickte dann. Wir wurden von seinem Vater zur Reparatur des Zaunes verdonnert, da wir ihn unglücklicherweise letzte Woche beim Baseball zerstört hatten, als ein Freund von Brad in ihn hinein gefallen war. Und bei dessen etwas übergewichtigem Körper, hatte der Zaun schnell aufgegeben sich zu wehren und war mit Fünf kaputten Leisten in Frührente gegangen. Joey stand auf und musterte mich kurz. Es war noch nicht sehr spät, gerade mal ein paar Minuten nach Ein Uhr und dazu kam, dass Samstag war. Was konnte noch besser sein, als Frei zu haben und dann noch dieses Wetter dazu? Absolut nichts und darum erhaschte ich sofort einen Gedanken, der durch meinen Kopf sauste.
„Baden wäre nicht schlecht, oder?“, warf ich meinen Gedanken wörtlich in die Runde und Joey nickte schwerfällig. Bourdie blickte nun grinsend von seinem Heft auf.
„Okay, bin dabei!“
Und so kam es, dass wir uns unsere Oldtimer Räder schnappten und zu Braddles fuhren, der wie immer in der Küche saß und aß, während seine Mutter versuchte, einen Kuchen zu backen. Wir schlichen in den Garten und stellten uns unter das Fensterbrett der Küche, lauschten dem fröhlichen Pfeifen von Mrs. Delson und warteten geduldig ab. Wir wussten genau, dass sie jeden Samstag Kuchen backte und waren sowieso die Größten Fans ihrer Kreationen. Und als das Süße Tellerchen endlich auf dem Fensterbrett stand und abkühlte, spähte Joey nach oben, schob seine Nase über das Brett und griff die Kuchenform mitsamt Inhalt. Lachend liefen wir ihm hinterher und waren überrascht, dass uns niemand verfolgte. Dieses Mal hatte es geklappt, sie hatte uns nicht erwischt. Und nun, da wir unser Abendbrot sicher hatten, lief ich lieb grinsend zurück zu Braddles Haus und klopfte an die Holztür, da hier fast niemand eine Klingel besaß. Die fraß nur sinnlos Strom, sagte mein Vater immer. Mrs. Delson öffnete mir.
„Oh Chester, soll ich Brad rufen?“, fragte sie und ich schenkte ihr ein süßes Jungengrinsen. 13jährige besaßen einfach noch diesen unheimlichen Charme, der jede Mutter zum schmelzen brachte. Ich hatte das schon früh genug heraus gefunden.
„Ja, dass wäre nett“, meinte ich nun und verschränkte die Arme hinter den Rücken. Sie schloss die Tür wieder halb und lief scheinbar in die Küche zurück, um Brad zu holen. Und keine Zwei Minuten später stand besagter auch in der Tür. Er trug sicherlich seine alte Basecap, aber ich erinnere mich nicht mehr so genau daran. Aber dennoch hatte er bestimmt wieder heftig an etwas zu kauen, denn das tat er meistens.
„Was ist?“, war nun seine Anfrage und ich griff ihn an der Schulter.
„Wir wollen zum See, kommst du mit?“, fragte ich ihn nun direkt und er schluckte zuerst sein Essen herunter. Dann nickte er nur und ging wieder ins Haus zurück. Ich rief ihm noch grinsend hinterher, dass er kein Essen mitnehmen brauchte und stolperte dann geschickt die Treppe herunter, um wieder zu meinen Freunden gehen zu können.
Joey rauchte gerade wieder eine von den Zigarren seines Vaters, an dessen Rauch er einmal fast krepiert wäre und freute sich riesig darüber, dass diese nach Vanille schmeckten. Ich sehe sein dümmliches Grinsen jetzt noch vor mir, sehe diese viel zu langen Schneidezähne in seinem Mund und muss deswegen heute noch oft lachen. Joey war der Einzige von uns, der fast überall ungeschoren davon kam. Er und Bourdie hatten so etwas unschuldiges weg – etwas, dass ich schon längst nicht mehr hatte. Jedoch ist mir erst jetzt bewusst, wie unschuldig wir damals wirklich gewesen waren. Rein.
„Phoenix kommt auch gleich“, sagte Bourdie nun zu mir und ich nickte kurz. Dann waren wir ja wieder alle vereint, alle zusammen. Wie schön! Nein, mal im ernst: Wir waren ein tolles Gespann, haben immer zusammen gehalten und ganz selten kam es zu Streiterein bei uns. Zwar hatten auch wir unsere kleinen Meinungsverschiedenheiten, aber überwiegend vertrugen wir uns recht gut. Gerade in Situationen, wo es auf den Zusammenhalt ankam, waren wir unschlagbar. Was nun einmal dazu geführt hatte, dass wir berüchtigt gewesen waren. Natürlich war mir heute bewusst, dass es viele einfach nur nicht interessiert hatte, was mit uns war und somit hatten wir immer nur die Meinung der einholen können, die sichtlich Angst vor uns hatten.
~*~
Ich hatte Glück, denn ich musste nicht ein Zweites Mal in den Knast. Nein, ich musste zum Psychologen und bekam Bewährung. Seltsam, nicht? Man brachte Jemanden um und muss nicht einmal ins Gefängnis dafür. Auch wenn der Richter es gern gewollt hätte, aber ich musste nicht. Lag sicherlich und zu hundert Prozent daran, dass ich eine recht dunkle Vergangenheit besitze, was Gefängnisse betrifft.
Einer, der mal im Knast war, muss nicht unbedingt wieder, wenn er sollte. Besuche kann man auch anders abstatten. Hallo? Tschüss.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tanja Wittig).
Der Beitrag wurde von Tanja Wittig auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.06.2007.
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